Читать книгу Der Einäugige erwacht - Andreas Engel - Страница 12

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Kapitel 6.

Jolan öffnete die Augen, er wusste im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Aber dann wurde ihm klar, dass er in seinem Bett lag. Er hatte wieder den Eindruck, eine Ewigkeit geschlafen zu haben, aber diesmal lang und traumlos. Der gestrige Tag schien weit entfernt zu sein, langsam erinnerte er sich. Aus einem Wirrwarr von unterschiedlichsten Erlebnissen stieß eines mit einem Ruck hervor: Veena! Sein Herz machte einen Sprung. Natürlich Veena! Er riss die Augen auf, erhob sich etwas und schüttelte seinen Kopf, um vollends wach zu werden. Sein Blick ging zu dem alten Radiowecker auf dem Nachttisch, es war bereits nach zehn Uhr! So lang hatte er seit Wochen nicht geschlafen. Dieser gestrige Tag, der ihm so weit entfernt erschien, war dermaßen ereignisreich gewesen, dass er ihm ebenfalls unfassbar lang vorkam.

Aber die süße Veena. Sie hatten sich gestern oft geküsst, sie war wirklich in ihn verliebt. Das war einfach wunderbar! Und die Pflanze …, sie war ungeheuer gewachsen …; und dann hatte er sie Veena gezeigt. Natürlich, jetzt erinnerte er sich an das ganze Drama. Zum Glück war es dann ja doch nicht so schlimm, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte.

Dann …, dann war er nochmals zur Pflanze gegangen; Jolan strengte sich an, um sich zu erinnern, irgend etwas war passiert, aber was?… Nichts zu machen, er hatte einen kompletten Filmriss! Nur eins war ihm klar, die Macht der Pflanze musste ihn völlig im Griff gehabt haben …, vor allem das Geschöpf, das in ihr heranwuchs! Plötzlich überkam ihn eine große Unruhe, er sprang schnell aus dem Bett, zog sich hastig an und lief die Treppen hinunter zur Küche.

„Da ist ja unser Romeo!“, begrüßte Chris ihn wie gewohnt, „ich hoffe, du hast dich wieder eingekriegt?“, „… Wieso, was war denn?“, fragte Jolan vorsichtig.

„Na ja …“, schaltete Ella sich jetzt ein, „… du warst gestern Abend irgendwie total weggetreten, bist plötzlich, recht spät, aus dem Garten gekommen. Und dann, ohne uns zu beachten, über die Terrasse ins Haus gegangen. Allerdings hast du dabei so glücklich ausgeschaut, dass wir einfach nur überrascht waren.“

„Ja“, meinte Chris, „Ella ist dann sofort hinter dir her, um sich zu vergewissern, ob alles okay ist mit dir. Aber du bist schnurstracks ins Bett gekrochen.“

„… Ach so, ja wisst ihr, der Tag gestern war ziemlich aufregend gewesen“, sagte Jolan zögerlich.

„Aber natürlich war er das!“, entgegnete seine Großmutter freundlich und lächelte ihn an.

„Eben, die erste große Liebe, wenn das nichts Aufregendes ist!“, stimmte Chris ihr zu.

„Und ihr zwei seid ein so süßes Paar, das ist ganz toll Jolan, wirklich“, fügte Ella noch hinzu, „… aber genug jetzt, wir wollen dich nicht wieder in Verlegenheit bringen, setz’ dich zu uns und frühstücke erst mal ordentlich!“

Eigentlich wollte Jolan, obschon er Hunger hatte, sofort nach der Pflanze sehen. Er ahnte, nein er wusste, dass etwas mit dem Wesen geschehen war! Aber er wollte keinen Verdacht wecken und musste sich daher noch einen Moment gedulden, obwohl es ihm wirklich schwer fiel. Er zwang sich zur Ruhe, und aß so entspannt wie möglich. Sie plauderten ein wenig, aber dann lenkte Ella das Gespräch auf die aktuelle Situation von Jolans Eltern.

Diese waren nämlich sehr damit einverstanden, dass Jolan auch die restlichen Sommerferien in der Lebensgemeinde verbringen wollte. Sie hätten darüber nachgedacht, für ein Wochenende vorbei zu kommen, aber da sie sich inzwischen sicher waren, nicht mehr zusammen bleiben zu wollen und daher ihre Trennung vorbereiteten, war das gerade ein schlechter Moment. Sie wollten Jolan ja auch nicht die Ferien verderben. Das alles hatte seine Mutter, unter anderem, Ella in einem langen Telefonat erklärt. Aber selbstverständlich könne Jolan jederzeit anrufen und mit den beiden reden, wenn ihm danach wäre.

Obwohl Jolan Schwierigkeiten hatte sich auf das, was seine Großmutter berichtete, zu konzentrieren, erweckten die zuletzt genannten Informationen doch seine Aufmerksamkeit. Sie wollten ihm nicht die Ferien verderben! Und er könne sie 'selbstverständlich' jederzeit anrufen, falls ihm danach wäre …; Super, wie generös von ihnen, dachte er und kommentierte die Neuigkeiten mit einem kurz angebundenen:

„Na, toll…“.

„Und mehr hast du nicht zu sagen?“, fragte Ella.

„Sieht wohl so aus, ist ihre Sache, ich hab’ da offensichtlich gar nichts zu melden.“, erwiderte er böse.

Ella und Chris wechselten einen sorgenvollen Blick und meinten dann, so sei das doch nicht gemeint gewesen. Sie wollten viel eher wissen, wie es ihm damit gehe. „Wie’s mir damit geht …?“, meinte Jolan gedehnt und schüttelte den Kopf, „… ach, ich weiß auch nicht“. Ihm fiel irgendwie nichts mehr dazu ein und er hatte auch gar keine Lust sich mit den beiden darüber zu unterhalten, daher rückte er ein wenig abrupt vom Tisch ab und erhob sich. Ella wollte noch etwas sagen, ließ es dann aber doch sein.

„Außerdem …“, fuhr Jolan dann fort, „… außerdem frag ich mich, wo Veena bleibt, ist mir eh viel wichtiger!“ Damit ging er und ließ die beiden mit betretenen Mienen am Küchentisch zurück. Es stimmte ja auch tatsächlich, die ganze Situation mit seinen Eltern passte ihm natürlich überhaupt nicht, aber bei dem, was ihm gerade so widerfuhr, wirkte alles andere im Augenblick, ehrlicherweise ziemlich unwichtig.

Er ging vor die Haustür und überlegte einen Moment lang. Nein, über seine Eltern wollte er sich jetzt wirklich nicht weiter den Kopf zerbrechen, machte sowieso keinen Sinn. Stattdessen dachte Jolan jetzt an Veena, sie hatte offensichtlich ebenfalls verschlafen, aber eigentlich war das jetzt ganz gut, denn es drängte ihn sehr, nach der Pflanze zu sehen.

Während er zum verwilderten Teil des Gartens ging, überkam ihn wieder jene Unruhe wie vorhin. Kurz darauf spähte er vorsichtig unter den Haselstrauch und bemerkte, dass von der besonderen Macht der Pflanze nichts mehr zu spüren war. Mit angehaltenem Atem schaute er auf die aufgeplatzte, nunmehr leere Schote. Die ehedem schützenden Ranken lagen schlaff, wie verwelkt, um sie herum am Boden! Jolan stieß seinen Atem aus, dann blickte er unsicher umher. Was jetzt? Das Geschöpf war geschlüpft oder geboren. Was auch immer, es war offensichtlich nicht so hilflos wie ein Neugeborenes, denn es war nirgends zu sehen. Es muss ja irgendwo in der Nähe sein, dachte Jolan aufgeregt. Gerade als er überlegte, ob es Sinn machen würde, erst noch Veena zu holen, damit sie gemeinsam nach dem Wesen suchen könnten, klang eine seltsam singende Stimme leise in seinem Kopf: „Joolaan …, Joolaan …“.

Erschrocken erinnerte er sich daran, diese Stimme irgendwann am gestrigen Abend auf dieselbe Weise bereits vernommen zu haben! Er ging vorsichtig zurück zu dem kleinen Gartentor an der Waldseite und da spürte Jolan, dass das Wesen ganz in seiner Nähe war. Aufmerksam spähte er in das Dickicht vor ihm, und erstarrte plötzlich. Ein ungewöhnlich großes Augenpaar sah ihn direkt an! Sie glänzten dunkelgrün zwischen den Blättern, und dann hörte Jolan zum ersten Mal tatsächlich die wunderliche Stimme des Wesens. „Folge mir, Menschenkind, welches mir sein Blut gab…“

Jolan erschauerte, nie zuvor hatte er eine solch merkwürdige Stimme gehört. Sie wisperte weich und gleichsam irgendwie singend. „Habe keine Furcht, komm …“, ließ sie sich erneut vernehmen. Dann wandte sich das Geschöpf ab und Jolan sah eine gedrungene Gestalt im Unterholz entschwinden. Nach einem kurzen Zögern, nahm er seinen Mut zusammen und folgte ihm, sich seinen Weg durch das Gestrüpp bahnend. Plötzlich stand er auf der kleinen Waldlichtung mit dem umgestürzten Baumstamm und auf diesem hockte das Geschöpf wie ein Frosch! Es sah ihn mit seinen großen, glänzenden Augen an und Jolan spürte wieder die tiefe Verbundenheit, ganz genauso wie vorher zur Pflanze. Das anfängliche Gefühl von Angst wich schlagartig von ihm und langsam ein- und ausatmend beruhigte er sich. Das Wesen auf dem Baumstamm nickte langsam. „Gut, so ist es, Jolaan …, du und ich, gemeinsam sind wir.“ Hörte er die merkwürdige Stimme sagen. „Du sprichst meine Sprache …“, krächzte Jolan und räusperte sich,

„… wie kann das sein?“

„Verbunden sind wir doch …, durch dein Blut bin ich, vieles von dir kenne ich, Kind von Esche und Ulme.“

Das Wesen glitt geschmeidig von dem Baumstamm und kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, ein Lächeln umspielte seinen Mund. Jolan betrachtete das seltsame Geschöpf jetzt genauer, auf den ersten Blick hatte es wie ein grüner Affe ausgesehen, denn ein hellgrüner, seidiger Pelz bedeckte die ungefähr einen Meter große Gestalt von Kopf bis Fuß. Nur das Gesicht war frei von dem Pelzbewuchs und dieses Gesicht hatte gar nichts Affenartiges an sich. Es war vielmehr sehr menschenähnlich, flach mit hoher Stirn und blassgrüner Hautfarbe, einer breiten, platten Nase und einem ebenfalls etwas breiten Mund mit auffällig geschwungenen, grünen Lippen. Nur die großen, dunkelgrün glänzenden Augen hatten wenig Menschliches an sich. Es bewegte sich in etwas vorgebeugter Haltung auf ihn zu, die besondere Geschmeidigkeit des Geschöpfes in jeder Bewegung, hatte dabei etwas sehr Befremdliches. Kurz vor Jolan blieb es stehen und reichte ihm seine ebenfalls pelzfreien, blassgrünen Handflächen. Ohne zu zögern nahm Jolan sie in seine Hände, die Haut fühlte sich samtig an, wie sehr weiches Leder. Augenblicklich durchströmte ihn ein heftiges Prickeln und es kam ihm sehr vertraut vor. Es floss wie ein Band zwischen Jolan und dem Geschöpf, er spürte voller Glück die Zuneigung und Verbundenheit mit dem Wesen. „Jolaan, mein Blutgeber …“, begann dieses erneut mit seiner wunderlichen Stimme, „vereint sind wir beide jetzt, aber nicht viel Zeit hier bleibt uns, so schnell wachsen musste ich …“, fuhr es fort. Das Prickeln hatte sich gelegt und Jolan ließ die Hände des Geschöpfes los. „Drei Wochen …“, sagte er, „du hast nur drei Wochen gebraucht.“

Das Wesen nickte. „Weil nicht viel Zeit uns hier bleibt“, wiederholte es.

„Nicht viel Zeit?“, fragte Jolan nach, „… aber ich habe jetzt gerade auch keine Zeit mehr, ich muss sofort zu Veena … meiner Freundin“, fügte er hinzu. Denn ihm war gerade eingefallen, dass sie jeden Moment hier auftauchen konnte,… ohne Vorwarnung auf das Geschehene würde sie garantiert in Panik geraten!

„Ooh jaa, Jolaans Mädchen …“, sang das Wesen, „… sofort holen musst du sie?“, fragte es dann.

„Ja, mein … äh, Mädchen“, erwiderte er, „ganz richtig, ich muss sie sofort holen! Und du musst hier auf uns warten!“ Das Geschöpf wiegte sich in schlangenhaften Bewegungen seitwärts hin und her, so zeigte es seine Unentschlossenheit, was Jolan zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste.

„Gut, bring sie her, ohne Angst soll Veenaa sein, jaa, jaa …“, sagte es dann.

Jolan war bereits im Gehen begriffen, da wandte er sich nochmal an das Wesen. „Aber du lässt dich hier von niemandem erwischen,… okay?“

„Ohne Sorge, mein Blutgeber sei …“, antwortete es geheimnisvoll lächelnd.

„Eins noch …, wie heißt du überhaupt?“, fiel Jolan noch ein. Die Augen des Geschöpfes schienen nach dieser Frage noch größer zu werden, das dunkle glänzende Grün der Iris schien in Bewegung zu geraten. „Später einen Namen wirst du mir geben …, wenn die Zeit gekommen ist“, antwortete es dann, „… vormals nannten die Menschen unsereins Skogsrå“, fügte es noch hinzu. Es sah Jolan abwartend an. „Sk …, Sko-Skogsroh …“, wiederholte dieser langsam. Nickend bestätigte das Wesen: „Genau, Skogsrå.“

„Du bist also ein Skogsroh,… okay, so werde ich dich vorerst nennen. Und jetzt lauf ich los, ich bin so schnell wie möglich wieder hier!“

Er rannte gerade auf den Dorfplatz, da sah er Veena in ihren Jeans-Shorts und der weißen Bluse auf sich zukommen. Sein Herz schwoll vor Glück, und fast im gleichen Moment fühlte er einen stechenden Schmerz! Abrupt stehenbleibend, fasste er sich ans Herz, er beugte sich nach Luft schnappend vornüber; Oh Gott! Ich kriege einen Herzinfarkt, dachte er ungläubig.

Veena lief, erschrocken seinen Namen laut rufend, auf ihn zu. Jolan sah durch tränenverschleierte Augen wie sie ihre Flipflops vorher im hohen Bogen noch wegkickte, er musste lächeln. Dann war sie auch schon bei ihm und schloss ihn aufgeregt in die Arme, sie blickte mit großen Augen in sein Gesicht. „Was ist mit dir, was ist nur …, Jolan, was ist passiert?!“, sprudelte es aus ihr heraus.

Der heftige Schmerz war beruhigenderweise so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war.

„Schon gut …“, erwiderte er daher, „… es geht schon wieder … wirklich“. Sie sah ihn skeptisch an, dann stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen, um Jolan zu küssen. „Komm, setzen wir uns unter die Kastanie“, sie führte ihn zur Bank unter dem Baum. „Irgendwas Schlimmes ist passiert,… oder?“, fragte sie, als sie Platz genommen hatten.

„Eigentlich nicht …, nur viel ist passiert“, er überlegte kurz, „… vielleicht zu viel in so kurzer Zeit. Ich meine der Tag gestern, wir sind auf einmal richtig zusammen, ich hab’ noch nie vorher ein Mädchen geküsst und jetzt küssen wir uns andauernd! Und ich, ich will damit die ganze Zeit weitermachen.“ Er lachte ein wenig schuldbewusst auf. „Aber es ist doch alles richtig so …“, unterbrach sie ihn, während sie Jolans Hand nahm und die andere an seine Wange legte, „… eigentlich wusste ich es, als ich dich vor drei Wochen in der Küche sitzen sah, da wusste ich, es ist um mich geschehen“, auch sie lachte jetzt auf, „aber ich kriege deswegen nicht gleich einen Herzstillstand …“, fügte sie ernster werdend hinzu.

Jolan lächelte. „Du weißt doch, was ich meine, die ganze Geschichte mit der Pflanze ist es …, ich glaube das liegt an dem Wesen, das Geschöpf beherrscht mich irgendwie, das Skogsroh …, es ist mit mir verbunden.“ Er wusste beunruhigenderweise, dass der heftige Herzstich damit in Verbindung stand.

Veena sah ihn einen Augenblick wie erstarrt an. „Oh Gott, es ist da …!“, sie lehnte sich zurück und starrte mit leerem Blick über den Platz. „Es sieht bestimmt wie Gollum aus“, sagte sie resigniert.

Jolan betrachtete von der Seite ihr hübsches Profil, ich bin irgendwie doppelt geschlagen dachte er, von dem Verliebtsein und dem Wesen. „Aber nein, nein …, es sieht überhaupt nicht aus wie Gollum!“, beeilte er sich dann zu sagen, „… wie kommst du überhaupt darauf?“

„Ach, ich habe heute Nacht davon geträumt, es war ein schrecklicher Alptraum. Das Geschöpf war geschlüpft …, es sah genau wie Gollum aus, hüpfte um dich herum und nannte dich ständig seinen 'Schaaaatz!', sie verzog dabei ihren Mund und ahmte die kehlige Stimme aus den Filmen nach. Sie sah ihn so missmutig an, dass er lachen musste.

„Nein, wirklich nicht! Es sieht kein bisschen wie Gollum aus“, versicherte er ihr dann, „es spricht zwar, aber es hat mich nicht einmal 'mein Schaaaatz!' genannt.“

„Du hast mit ihm gesprochen …, dem Dings, dem …“, sie kniff kurz, ein wenig den Kopf schüttelnd, ihre Augen zu und zog dabei ihre Nase kraus, „dem Skogsr … sonstwie!“, schloss sie.

Jolan rieb besänftigend ihren Oberarm. „Dem Skogsroh …“, sagte er, „… ja, es hat mit mir gesprochen, und es will dich kennenlernen, jetzt gleich! Es wartet hinten im Wald, auf unserer Lichtung.“

„Du hast mit ihm über uns gesprochen?“, fragte sie ein wenig überrascht.

„Nein, nicht direkt. Ich …, hör zu: das Wesen ist doch mit mir auf besondere Weise verbunden, das hast du ja auch schon vorher, bevor es geboren wurde, bemerkt“, Veena nickte, „… und das ist geschehen als ich den Samen Yggdrasils mit meinem Blut erweckte“, sie nickte erneut, „… irgendwie kann es daher, bereits von Anfang an, in meinen Gedanken lesen … vermute ich jedenfalls …“, fügte er hinzu. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, aber Jolan erklärte weiter: „Und deshalb kann es auch unsere Sprache sprechen, ein wenig schräg zwar, aber gut verständlich“, er sah sie an; „oh, sorry, was wolltest du sagen?“

„Ach nichts …, ich weiß nicht mehr was ich sagen soll …, ich hab’ schon etwas Angst, bin eben doch ein richtig schißriges Mädchen …“ „So ein Quatsch!“, erwiderte Jolan bestimmt, „… bist du überhaupt nicht, ich würde mir normalerweise ganz sicher auch ins Hemd machen! Aber bei mir ist es anders, weil ich mit ihm verbunden bin.“

„Wenn diese Verbundenheit dazu führt, dass es dein Herz überfordert und du dabei fast stirbst, dann habe ich allerdings genug Grund, schißrig zu sein“, antwortete sie sich aufrichtend und sagte dann mit fester Stimme: „Na gut, wenn es mich unbedingt kennenlernen will, gehen wir!“ Jolan nickte ihr aufmunternd zu, doch als sie sich dem Waldrand näherten, drängte sich Veena instinktiv dicht an ihn.

Auf der Lichtung angekommen, war von dem Geschöpf nichts zu sehen, sie schauten beide suchend in das Dickicht ringsumher und plötzlich, wie aus dem Nichts, stand es vor ihnen. Seinen Kopf leicht schräg legend sah es Veena mit den großen, von der dunkelgrünen Iris fast komplett ausgefüllten Augen, an. Dieses glänzende Grün schien sich wieder zu bewegen, es waberte langsam umher, die Grüntöne nuancierten dabei wie sich mischende Farben. Mit einem Seitenblick sah Jolan besorgt nach Veena, sie hatte sich unbeabsichtigt so sehr in seinen Arm gekrallt, dass es wehtat. Ihr Gesicht war kreidebleich, und sie sah aus als würde sie jeden Augenblick ohnmächtig werden! Doch da war das Wesen in einem Wimpernschlag bei ihr und hatte blitzschnell ihre freie Hand ergriffen. Veena gab einen kläglichen, quiekenden Laut von sich und Jolan durchzuckte eine heftige Empfindung von Mitgefühl und Zuneigung.

„Ganz ruhig, Kind von Esche und Ulme …“, sprach der Skogsrå in seiner sanften, singenden Tonlage. Er hielt weiterhin Veenas Hand und streichelte jetzt mit der anderen sanft ihren Handrücken.

„Keine Furcht in deinem Herzen sein soll …“, Veena entspannte sich merklich, „… ein gutes Mädchen bist du, gar nicht nehmen, will ich dir den Jolaan, eure Liebe ist wahrhaftig und groß, jaa, jaa“, schloss es lächelnd und vorsichtig nickend. Sie standen einen Moment schweigend, wie andächtig beisammen als das Geschöpf erneut sprach: „Tiefer in den Wald lasst uns gehen, zu berichten hab ich euch, keine Zeit verbleibt uns.“ Seine melodische Stimme klang zum ersten Mal ein wenig drängend. Sie folgten ihm eine Weile, still und vorsichtig seine gleitende Art der Fortbewegung imitierend, durch das Gehölz.

Plötzlich sprang das Wesen unvermittelt, mit einer atemberaubenden Geschmeidigkeit, auf einen Baum und wieselte mit unglaublicher Geschwindigkeit in dessen Krone. Dann glitt es genauso schnell wieder herab, unten angekommen setzte es sich ins Gras und gab den beiden zu verstehen, es ihm gleichzutun.

„Keine Weiteren werden uns hier stören …“, sagte es, nachdem Jolan und Veena sich dem Geschöpf gegenüber niedergelassen hatten,

„… allein muss ich horchen, keine Verbindung zum Wald aufnehmen ich kann, nein, nein“, es blickte betrübt drein, „…alle Kinder Lärads, alles Grün schweigt hier in Midgard, sehr stumm ist alles geworden, ach …, betrübt und traurig ist daher das Innere eines Skogsrå.“

Sie wussten nicht was sie darauf sagen sollten, und so fragte Jolan schließlich, was es mit der Zeit auf sich habe die nicht mehr 'verbleibe'.

„Als wachsen ich noch tat, in der Frucht Yggdrasils gebettet war …“, begann das Wesen zu erzählen, „… spüren konnte ich herum eine schlimme Besonderheit; stumm und schweigsam, wie krank geworden war das älteste Leben in Midgard, jaa, jaa.“ Das Geschöpf machte eine nachdenkliche Pause bevor es fortfuhr: „Unsereins, geschaffen aus einem Kern des Weltenbaumes, sowie Wodans Wille und Menschenkindes Blut; genannt wir wurden vormals Skogsrå, die Waldlinge. Wir wachen über das erste Wachsen und Sein in Midgard, der Menschenkinder Welt. Euereins jung noch ist, alle ihr jung noch seid, lang vorher schon da, waren die weisen 'Ewigen Wälder', die Midgard erfüllende Saat Lärads. Nicht erahnen kann ich, ein Waldling, wie stumme Krankheit befallen konnte die Bäume, Sträucher, Gräser. Leiden muss hier alles wachsende Grün herum, wachen darüber sollte ein Skogsrå, daher Kunde bringen muss ich dem Wodan, jaa, jaa.“, beendete es langsam nickend seinen wunderlichen Redefluss.

Sie dachten über das Gesagte des, wie sie jetzt wussten, Waldlings nach. „Du sprichst davon, dass alles Grün, was wir die Natur nennen, krank ist?“, fragte Veena nach.

„Oh jaa …, jaa“, antwortete das Wesen leise. Jolan fing an zu begreifen, das alles hatte Regin ja damals auf dem Mittelaltermarkt bereits angedeutet: Die Macht der Weltenesche zurück nach Midgard zu bringen und so auch die heilende Kraft jener geheimnisvollen 'Ewigen Wälder'. Nur deswegen hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, nach dem einen, noch verbliebenen Samen Yggdrasils zu suchen sowie nach dem passenden 'Blutspender' zur Belebung eines Waldlings; und dieser war anscheinend so eine Art Naturwächter Wodans.

„Es gibt den Wodan also wirklich …, Regin hat tatsächlich die Wahrheit erzählt“, meinte Jolan nachdenklich.

„Der Regin …, unbekannt er mir ist“, erwiderte der Skogsrå und sah ihn dann ein wenig überrascht an, während er fortfuhr: „Aber der Wodan, der Uralte, Allvater und Lenker aller Welten? Nichts ohne ihn kann sein, geben wird es ihn immer, wie in allen Zeiten.“

„Und was hat Jolan damit zu tun?“, fragte Veena unvermittelt.

Der Waldling wandte sich ihr zu: „Mädchen Jolaans, auch dich in mein Inneres geschlossen ich habe …“, sein grüner Mund mit den geschwungenen Lippen lächelte milde, „gehören soll dir Jolaans Herz ganz allein, verbunden bleiben mit mir wird er, doch deshalb Schmerzen befallen werden ihn nicht mehr …, aber erreichen den Wodan, nur mit ihm gemeinsam kann ich.“ Diese letzten Worte des Waldlings fielen wie Steine in Veenas Bewusstsein.

„Moment mal …“, sagte Jolan, „… was bedeutet das, nur wir beide gemeinsam?“

„Wechseln von Midgard nach Utgard müssen wir, erst dann kommen wir nach Asgard, wo die Asen weilen“, erwiderte der Skogsrå, „auf dem Hliðskjálf, seinem Hochsitz in der Götterburg, finden werden wir den Wodan. Weltenwechsel aber nur geht für einen Waldling gemeinsam mit seinem Blutgeber, so der Allvater es bestimmt hat, vor langen Zeiten, jaa, jaa“, erklärte er auf seine wunderliche Art.

Jolan dachte angestrengt nach, es war gar nicht so einfach, den eigentümlichen Ausführungen des Wesens zu folgen. Nur so viel war klar: Der Auftrag des Skogsrå war, Wodan über den Zustand der Natur auf der Erde Bericht zu erstatten. Und offensichtlich ging das Ganze nur mit ihm, Jolan seinem 'Blutgeber', zusammen! Er sah Veena an und fragte, ob sie dasselbe herausgehört hätte. „Ich fürchte ja …“, meinte sie zögernd. Dann unterhielten sich sich eine Weile darüber, was für den Skogsrå an der Natur nur so schlimm war. Sie erzählten ihm daher, dass es sehr viele Tiere hier im Reiherberger Wald gab, und all’ die Insekten sowie Vögel aller Arten. Wenn die Bäume und alles andere Grün so krank wären, könne es doch keine Tiere hier geben.

„Ach …, ihr armen Menschenkinder“, sagte der Waldling, „so viel euch erklären, sollte ich. Aber keine Zeit bleibt mehr, dennoch wissen müsst ihr, immer geben tat es uns, die Skogsrå, immer vereint mit einem Kind von Esche und Ulme auf Lebenszeit …“, er holte ein wenig erschauernd tief Luft und dabei gingen wellenartige Bewegungen durch seinen seidigen grünen Pelz. Die Augen einen kurzen Moment schließend hob er erneut an: „Die alte Sprache, über die Erinnerung der Weltenesche in mir ist …, anstrengen ein wenig muss ich mich nun, jaa …, mich anzupassen an eure Art zu reden, damit wir uns besser verstehen können.“ Das Wesen nickte unvermittelt und bestimmt, offensichtlich hatte es so etwas wie einen Lernprozess abgeschlossen.

„Jetzt hört gut zu!“, sprach es weiterhin in seiner befremdlich singenden Tonlage, dafür aber deutlich verständlicher. „Alle Erinnerungen in uns Waldlingen sind über den Samen Yggdrasils weitergegeben, sprechen im Geiste mit allem Grün können wir, aber hier ist alles stumm! Das durfte nicht geschehen, nicht im Sinne Wodans ist das. Die Tiere herum scheinen für euch, wie ihr sagt, normal; aber auch sie haben keine Verbindung mehr zu den Kindern Lärads. Das ewig lebensspendende Grün und die Geschöpfe von Fleisch und Blut sind getrennt worden. Es ist gegen die immer geltenden Gesetze des Allvaters.“

Das Wesen wirkte sehr betroffen, es versank in Schweigen und schien nachzudenken.

Veena räusperte sich, rückte vorsichtig an den Waldling heran und streichelte seinen Arm.

„Aber wenn der Allvater,… Wodan alles bestimmt, wie konnte er das, was du beschreibst, zulassen?“, fragte sie. Das Geschöpf blickte traurig drein. „Weil keinen Skogsrå es gab, um Bericht ihm zu erstatten …“.

„So muss es gewesen sein …“, schaltete Jolan sich jetzt ein, „… Regin, der mir die Schatulle mit dem Kern gab, um dich zu beleben, erzählte mir ja, dass seit ewigen Zeiten kein Samen mehr belebt wurde“, er machte eine kurze Pause, „natürlich …, er hat jahrelang und mit viel Mühsal nach diesen einen Keimling Yggdrasils gesucht“, Jolan drückte kameradschaftlich die pelzige Schulter des Waldlings, bevor er fortfuhr: „Wir müssen ihn finden, wenn einer Bescheid weiß warum alles so gekommen ist, dann ist es Regin!“

Darauf erzählte Jolan dem Skogsrå alles, was er über den Zwerg wusste. Wie dieser ihn angesprochen hatte, das Schwert, welches für ihn bestimmt sein sollte und von der beschwörenden Art mit der ihm Regin das runenverzierte Kästchen mit dem Kern übergeben hatte. Er vergaß auch nicht, den kleinen Zauberdolch zu erwähnen, mit dem man sich eine schmerzlose, sowie selbstheilende Wunde zufügen konnte.

Jolan griff hinter sich, wo er den Dolch mit der Fellscheide in dem Bund seiner Hose mit sich trug. Er übergab ihn wortlos dem Waldling; dieser drehte den Dolch zunächst in seinen Händen prüfend umher und zog ihn dann aus der Scheide. „Oooh …“, die Augen des Wesens wurden noch etwas größer, „magische Runen! Der, den ihr Regin nennt, muss gewesen sein in Asgard, nur dort kann er diesen Dolch bekommen haben, jaa, jaa“, er sah die beiden an, „recht hast du Jolaan, schnell finden sollten wir den Regin!“

Sie schilderten dem Waldling hierauf von ihrem eigenen hoffnungslosen Versuch, den Zwerg zu finden und mussten gestehen, nicht den geringsten Ansatz für eine erfolgversprechende Suche zu haben.

„Ach …, wenn die Bäume und alles Grün stumm nur nicht wären“, seufzte der Skogsrå unglücklich, „sofort finden könnte ich den Regin; doch den Wald durchstreifen muss ich jetzt, erspüren seinen Aufenthalt werde ich …“, er sah die beiden an, „… oh, vergebt mir, ich werde Regins Aufenthaltsort erspüren und ihn so finden“, verbesserte er sich.

Anschließend erzählten Veena und Jolan dem Waldling von Regins altem Ford, vielleicht könnte der ihm weiterhelfen bei seiner Spurensuche. Worauf der Skogsrå ihnen erklärte, nicht wie ein Wolf eine Spur zu suchen, sondern den Zwerg wirklich zu erspüren. In der kommenden Nacht würde er damit anfangen, dabei wären sie, bei ihrer Langsamkeit sich durch den Wald zu bewegen, keine große Hilfe. Das war allerdings nicht zu leugnen, aber ihnen fiel etwas sehr Wichtiges ein, um zu helfen: Sie warnten den Waldling eindringlich vor der heutigen Welt der Menschen!

Und so schilderten sie ihm von den riesigen Städten, den Autos und Flugzeugen. Dass es viele Millionen Menschen gab, und dass der Mensch inzwischen den ganzen Planeten beherrschte, zu Lande und in der Luft, auch die Meere bis in dunkelste Untiefen. Dass die Menschen sogar bis ins Weltall vorgedrungen waren und den Mond besucht hätten. Aber sie verschwiegen auch nicht die fürchterlichen Kriege, die der Mensch angezettelt hatte, und dass man gar keine Nachrichten mehr gucken mochte, weil es immer weiterging mit all den Kriegen und der Gewalt überall auf der Erde. Und sie redeten und redeten immer weiter, von den modernen Medien, dem Fernsehen und Radio, aber vor allem dem alles beherrschenden Internet, dem Handywahn und weiter und weiter, wodurch die heutige Menschenwelt ganz bestimmt wurde. Sie hatten viel mehr zu erzählen, als ihnen je bewusst gewesen war. Schließlich hielten sie erschöpft und betreten inne.

Das Geschöpf hatte die ganze lange Zeit schweigend zugehört, dann schüttelte es bedächtig den Kopf und kommentierte sorgenvoll die ganze Informationsflut: „Oh, oh …, ich fürchte das wird dem Wodan gar nicht gefallen.“

Sie sahen sich sprachlos an. „Ja, aber …“, begann Jolan erneut, „… die Menschen dürfen dich auf keinen Fall zu Gesicht bekommen, sie würden in Panik geraten! Sie würden dich bestimmt gefangen nehmen und wahrscheinlich in ein schreckliches Versuchslabor bringen!“

„Bei alldem was die Menschen erreicht haben, fürchten sie sich vor einem einzigen kleinen Skogsrå …“, sagte der Waldling und erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, „… aber seid ohne Sorge, denn kein weiterer Mensch wird mich zu sehen bekommen vorerst, jaa, jaa.“

Auch Veena und Jolan erhoben sich, aber keineswegs geschmeidig, sondern stöhnend und ächzend, denn sie hatten stundenlang im Gras gekauert.

„Abend ist es bald“, sagte der Waldling, „… ihr lieben Menschenkinder, Freunde geworden sind wir und ich danke euch für so viel Wissenswertes über die neue Menschenwelt. Aber Zeit es wird für euch nach Hause zu gehen und meine Suche nach dem Regin beginnen ich will jetzt.“ Sie beugten sich herab, um das überraschte Wesen verabschiedend zu umarmen, und so konnten sie die Zuneigung des Geschöpfes, wie einen warmen Strom spüren.

„Bei dem Baumstamm treffen wir werden uns morgen“, sagte der Skogsrå noch und verschwand wie ein Geist im Dickicht. Plötzlich wurde ihnen gewahr, dass sie den ganzen Tag nichts gegessen hatten. Jolan hielt seinen Magen und meinte, er könne einen ganzen Ochsen fressen! Veena ließ die Zunge heraushängen und erwiderte: „Ich zwei!!“

Auf dem Rückweg stolperte Veena müde und zudem barfüßig durch den Wald, daher nahm Jolan sie Huckepack und so kamen sie kurz vor der Dunkelheit sehr erschöpft an dem kleinen Gartentor an.

Der Einäugige erwacht

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