Читать книгу Der Einäugige erwacht - Andreas Engel - Страница 14
ОглавлениеKapitel 8.
Sie saßen noch eine Weile einfach zufrieden beisammen, Jolan und Veena genossen die ungeheure Wirkung des Waldlingblutes.
„Nur ein Tropfen …“, staunte Jolan, „… das darf niemals irgendjemand erfahren, für so ein Wundermittel würden die Menschen wer weiß was anstellen. Und was sie mit dir anstellen würden, Skogsrå, mag ich mir gar nicht ausmalen.“ Er schüttelte den Kopf, der Waldling schüttelte ebenfalls den Kopf. „Oh, nein, nein …“, sagte er, „… nur sehr wenig von meinem Grün darf ich zum Heilen verteilen. Nur wenige Tropfen dürfen es sein, mehr wäre gar nicht gut, oh, nein …“, schloss er nickend.
„Wie meinst du das, müssen wir mit irgendwelchen Nebenwirkungen rechnen?“, fragte Veena ein wenig erschrocken. Das Wesen sah sie mit unergründlichen Blick an und schwieg.
„Was er meint …“, sprach Regin langsam, „… ist Folgendes: Wenn jemand mehr als nur ein paar Tropfen, oder ohne ein wirkliches Leiden und vor allem, ohne das Einverständnis eines Waldlings von dem grünen Blut zu sich nimmt, dann gibt es sehr wohl unerwünschte Nebenwirkungen. Wer die Heilkraft des Waldlingblutes missbraucht, verwandelt sich langsam aber sicher in ein Pflanzenwesen. Einen sogenannten 'Halbpflanzling', ein furchtbares Schicksal …“
„Ein Halbpflanzling?“, Jolan erschauerte, „was bedeutet das?“, hakte er nach. Veena nickte und sah Regin erwartungsvoll an. Aber der Zwerg war vor Erschöpfung wieder in sich zusammengesunken.
So viele Fragen, dachte Jolan. Aber die Dinge überstürzten sich weiterhin derart, dass für Fragen, so drängend sie auch waren, gar keine Zeit blieb.
Auch jetzt war wiederum Wichtigeres zu tun: Als erstes musste Regin versorgt werden; das hieß, vorerst Ella und Chris davon zu überzeugen, ihn aufzunehmen.
Veena hatte inzwischen ihre Kleidung gewechselt, so dass Jolan wieder seine Hose und Sneaker tragen konnte, nur das Shirt fehlte ihm nun.
„Okay …“, begann er seinen Plan darzulegen, „Veena, du gehst allein hintenrum zur Terrasse“, er schaute auf seine Armbanduhr, „es ist eben zwei Uhr durch, wahrscheinlich haben sie gerade Mittag gegessen und sitzen dort, ansonsten rufst du sie her.“ Veena wollte etwas sagen, aber Jolan unterbrach sie mit einer Handbewegung. „Warte …“, sagte er, „ich geh’ derweil zur Haustür, die ja immer offen ist.“ Tatsächlich schloss Ella die Tür nur ab, wenn sie das Haus verließ und ansonsten keiner mehr da war. Durch den altmodischen Drehknauf konnte die Tür geöffnet werden, die Besucher kamen meist einfach herein und riefen laut „Hallo!“,… so etwas ging auch nur in der Lebensgemeinde.
„Dann lauf ich unbemerkt hoch in mein Zimmer und schnapp’ mir ein Hemd, sonst gibt’s deswegen noch unnütze Fragerei“, fuhr Jolan fort, „anschließend komm’ ich sofort nach, du brauchst sie ja nur ein paar Minuten hinzuhalten, Veena.“
„Ich werde ihnen einfach erzählen, dass wir Regin gesucht und gefunden haben,… und dass es ihm nicht so gut geht,… oder so“, meinte sie nicht ganz überzeugt.
„Doch, doch …, klingt gut, kannst du vorab schon mal tun, nur …“, Jolan machte ein angestrengtes Gesicht, „… nur was geben wir als Grund für seinen Zustand an … und wie erklären wir, dass er ganze drei Wochen verschwunden war?“ Sie setzten sich wieder ins Gras und grübelten. Regin murmelte an den Baumstamm gelehnt im Halbschlaf vor sich hin, der Skogsrå saß wie üblich auf seinen Fersen mit den Händen auf den Knien und sah sie an. „Na …“, wandte sich Jolan an ihn, „… was fällt dir dazu ein?“
„Nicht viel Zeit mehr verbleibt uns, weit ist der Weg nach Asgard, dem Wodan Kunde bringen müssen wir, jaa, jaa …“, erwiderte er in seiner singenden Sprechweise.
Der hat vielleicht Nerven, dachte Jolan. Aber woher sollte das ahnungslose Geschöpf auch wissen, wie schwer sich die Menschen alles machten. Dass man für alles eine logische Erklärung benötigte und dass nichts, was auch nur irgendwie aus dem Rahmen fiel, einfach hingenommen wurde.
Veena hatte derweil verständnisvoll die Hand des Waldlings genommen, er sah sie mit seinen glänzenden Augen dankbar an, die grüne Farbe in ihnen fing an in Bewegung zu geraten und plötzlich spürte Veena einen Anflug jenes Prickelns, die eigentümliche Art von Verbindung, die das Wesen aufbaute, ganz so wie Jolan es versucht hatte, ihr zu beschreiben. „Oh …, aber wie kommt das …?“, fragte sie ein wenig überrascht.
„Venaa gehört zu Jolaan, Jolaan ist mein Blutgeber und zudem verbunden wir alle hier nun sind, über mein heilendes Grün, welches ich euch gab, jaa, jaa …“, erwiderte das Wesen leise.
„Jolan …“, sagte Veena plötzlich unvermittelt, „ich glaube, wir sollten uns nicht allzu weit von der Wahrheit entfernen.“
„Wie meinst du das?“
„Pass auf“, antwortete sie, „wir erzählen, dass Regin in den Wald gegangen war, also vor drei Wochen meine ich, um ein altes Ritual durchzuführen. So Schamanen-Zeugs von ganz früher. Chris fährt doch auf so was ab und Ella auch,… ein bisschen zumindest“, sie hielt kurz inne, „… und dabei hat Regin sich in Trance versetzt mit Hilfe von irgendwelchen Drogen, so … Naturkräuterkram …, die haben dann eine Art Dauerlähmung ausgelöst! Er konnte sich nur ein klein wenig unter größter Anstrengung, bewegen, gerade genug, um von seinem mitgebrachten Proviant zu überleben. Und jetzt hat er ein Riesenglück gehabt, dass wir ihn heute beim Erkunden des Waldes zufällig gefunden haben“, endete Veena mit überzeugtem nicken.
Jolan dachte einen Augenblick nach. „Das ist gut …“, meinte er dann ebenfalls überzeugt, „wir entfernen uns tatsächlich nicht weit von der Wahrheit, so könnte es ja auch gewesen sein. In dem Grabhügel habe ich wirklich einen Rucksack bemerkt, bestimmt Regins. Wir haben ihn dort liegenlassen, vielleicht war da wirklich Proviant drin. Wir können ja behaupten, er hätte die Hälfte der Zeit damit verbracht, das Ritual vorzubereiten. Danach hat er halt einen Fehler bei der Dosierung der …, wie du sagst, nach irgendeinem alten Rezept erstellten Naturdroge gemacht; das ist wirklich eine gute Idee, so machen wir’s!“
„Nur, was machen wir, wenn sie doch einen Arzt rufen wollen?“, fiel Veena ein.
Jolan schüttelte den Kopf. „Nein …“, meinte er, „machen sie bestimmt nicht, soviel ich weiß, halten die beiden nicht viel davon, immer gleich zum Arzt zu rennen und von Medikamenten halten sie erst recht nichts. Und der angebliche Drogenkonsum Regins ist auch ein Argument, die ganze Geschichte lieber ohne Arzt und unnötige Aufmerksamkeit hinzukriegen.“
Er wandte sich an den Waldling. „Du wartest hier bei Regin, machst dich aber sofort unsichtbar, falls wir mit irgendjemand anderem zurückkommen sollten!“ Der Skogsrå nickte bedächtig.
Dann machten sie sich auf den Weg. Veena ging, wie besprochen, zum verwilderten Teil des Gartens, um zur Terrasse zu gelangen, während Jolan durch die Haustür hereinkam und sofort leise die Treppen hoch in sein Zimmer lief. Kaum hatte er sich ein Shirt übergezogen, da hörte er jemanden die Treppe hochkommen.
Veena kam herein, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. „Was ist passiert?“, fragte Jolan überrascht.
„Meine Mutter ist hier!“, sie machte ein verzweifeltes Gesicht, „Ella und Chris sitzen mit ihr auf der Terrasse, ich bin einfach an ihnen vorbei zu dir hoch gelaufen.“
„Verdammt! Damit haben wir natürlich nicht gerechnet …“
Er setzte sich aufs Bett. Aber bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnten was jetzt zu tun sei, rief Barbara von unten nach ihrer Tochter.
„Es nützt nichts, ich muss mit ihr reden“, Veena ging zur Tür, „wahrscheinlich will sie sich bei uns entschuldigen,… komm lass uns runtergehen.“
„Okay, aber wir müssen sie so schnell wie möglich loswerden“, erwiderte Jolan.
„Mal sehen …“, meinte sie nur und ging voraus die Treppen hinunter.
Kurz darauf saßen sie zusammen mit Ella und Chris im Wohnzimmer und hörten Barbaras Ausführungen zu. Veenas Mutter war sehr nervös, sie lachte immer wieder etwas zu lange und zu laut. Sie erzählte davon, was für eine 'wilde Hummel' sie früher selbst gewesen war und schon viel eher als Veena hinter den Jungs her gelaufen sei. Im Grunde genommen habe sie volles Verständnis für den Wunsch ihrer Tochter, sich zur erwachenden Sexualität zu bekennen. Wieder lachte sie zu laut. „Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm,… meine Tochter!“, sie schüttelte dabei ihre, wie zum Gebet ineinander verschlungenen Hände und machte ein Gesicht, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen.
Dann lächelte sie eifrig und dabei übermäßig nickend allen Anwesenden zu.
Jolan traute seinen Ohren und Augen nicht, die arme Veena, dachte er.
„Ach …, komm in meine Arme mein Schatz!“, sagte Barbara und kniff vor lauter Begeisterung kurz die Augen zu, während sie dabei einen seltsamen Knicks machte.
Und wie bereits am gestrigen Abend, drängte sich Jolan der Verdacht auf, Barbara sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Wieder sah er besorgt nach Veena, aber sie war wortlos aufgestanden und ließ sich von ihrer Mutter drücken. Barbara wiegte sich seitlich hin und her und küsste Veenas Haare. „Alles wieder gut?“, fragte sie dann, ihre Tochter mit ausgestreckten Armen an den Schultern haltend, um ihr weiterhin lächelnd ins Gesicht zu schauen.
„Ja …“, antwortete Veena mit ruhiger Stimme, „alles wieder gut, Mama. Aber ich bin jetzt fest mit Jolan zusammen, richtig zusammen. Ich bleibe noch hier, aber heute Abend komme ich wieder nach Hause.“
Sie sprach langsam und deutlich, wie mit einem Kind, dachte Jolan. Das Dauerlächeln in Barbaras Gesicht, erschien ihm jetzt wie eine eingefrorene Grimasse und er konnte nicht umhin, Veenas Stärke zu bewundern.
„Aber natürlich, mein Engel!“, sagte Barbara, drehte sich auf dem Absatz um, verabschiedete sich und wie schon die ganze Zeit über, würdigte sie dabei Jolan keines Blickes. Dann ging sie mit federnden Schritten aus dem Zimmer, während Ella aufsprang, um sie hinaus zu begleiten.
„Oookay …, das war das“, sagte der deutlich betretene Chris nach einer Weile des Schweigens. Er rieb sich die Hände, so als ob er frieren würde. „It’s tea time!“, fuhr er bemüht beschwingt fort, „… heute hab ich einen Apfel-Nusskuchen für uns.“ Damit sprang er auf, um den Tisch zu decken. Inzwischen war Ella wieder da und nahm Veena kameradschaftlich in den Arm und drückte sie kurz. Jolan half Chris voller Ungeduld beim Tischdecken, sie hatten schon viel zu viel Zeit verloren! Kaum, dass sie saßen, fing er daher sofort und unvermittelt an, Ella und Chris zu erklären, dass sie Regin gefunden hätten. Abwechselnd erzählten er und Veena ihre halb ausgedachte Geschichte von dem Zwerg und vor allem, von seinem Zustand. Ella lehnte sich zurück und zog geräuschvoll die Luft durch die Nase ein. „Und ich habe geglaubt, wir hätten für heute schon genug Aufregungen erlebt. Aber der Reihe nach: Ihr wollt mir gerade klarmachen, dass Regin, jener Schmied vom Mittelaltermarkt, hier vorne auf der Waldlichtung liegt und dringend unsere Hilfe benötigt, weil er mit einem alten Drogenrezept rumexperimentiert hat und fast daran gestorben wäre. Hab ich das alles richtig verstanden?“
Jolan und Veena sahen sich an. „Äh,… ja schon,… das ist im Großen und Ganzen,… genau das was wir meinten …“, erwiderte Jolan zögernd, „aber es ist unheimlich wichtig! Bitte, wir müssen ihm helfen, ohne irgendwelchen Aufstand, ohne Arzt. Bitte, bitte!“, fuhr er hastig fort und blickte hilfesuchend nach Veena. „Ja, bitte …“, beeilte sie sich, „… falls sein Zustand sich verschlechtern sollte, können wir ja immer noch einen Arzt rufen.“
Ella überlegte einen Moment lang und sah sie ernst an. „Keine Sorge, wir werden ganz bestimmt keinen Arzt rufen, so lange es nicht sein muss …“, sagte sie mit einem wissenden Blick zu Chris hinüber.
„Dann los, wir müssen ihm sofort helfen!“, rief dieser ungeduldig und erhob sich.
Als sie durch den Garten das Grundstück verließen, versicherte Ella ihnen nochmals, dass sie nur im äußersten Notfall einen Krankenwagen rufen würden, also falls Regin ernsthaft in Gefahr wäre. Jolan und Veena sahen sich erneut an, das schien ja wesentlich unproblematischer zu laufen als gedacht …, aber jetzt war keine Zeit, um sich länger darüber zu wundern.
Auf der Lichtung angekommen, knieten sich Ella und Chris augenblicklich zu dem in sich zusammengesunkenen Zwerg. Von dem Skogsrå war, wie zu erwarten, nichts zu sehen, Jolan spürte aber seine unmittelbare Nähe. Dann nickte Ella ihnen entwarnend zu, offensichtlich waren sie erst einmal überzeugt, dass für Regin keine Lebensgefahr bestand. Einen Augenblick später meinte Chris: „Alles klar, bringen wir ihn rein! Jolan, Veena, schnappt euch je ein Bein. Ich nehme ihn bei den Schultern.“
Kurz darauf lag der Zwerg auf der Couch im Wohnzimmer, er war ein wenig zu sich gekommen und sah sich verwirrt um. „Danke …“, er räusperte sich, „… ich danke euch allen sehr“, sagte er langsam. Ella und Chris nickten ihm zu und meinten, er solle sich keine Sorgen machen, er würde ihnen schon keine Umstände machen. Jolan fiel ein Stein vom Herzen, alles läuft weiterhin richtig gut, dachte er. Regin trank eine Tasse Tee und war sogar in der Lage, etwas von dem Kuchen zu essen, worüber Chris besonders glücklich war. Ella gab Jolan mit den Augen ein Zeichen, ihr zu folgen und begab sich in die Küche. Auch Chris kam unauffällig hinterher, Veena blieb bei Regin und wechselte weiterhin ein paar Worte mit ihm.
In der Küche wollte Ella erfahren, worum es eigentlich wirklich ging, ihr war schnell klargeworden, dass es eine besondere Beziehung zwischen dem Zwerg und den Kindern gab. Sie fragten Jolan, ob er Genaueres über Regin wüsste. Aber was sollte er ihnen sagen? Über die Geschichte des Samens Yggdrasils erzählen, die damit einhergehende Aufgabe Regins an ihn und die letztendliche Geburt des Skogsrå, dem Waldwächter Wodans? Völlig unmöglich, sie würden ihn für total verrückt halten, und Regin die Schuld daran geben. Nein, sie durften nichts von alldem erfahren, zumindest jetzt noch nicht. Daher wich er ihren Fragen aus und behauptete vielmehr, kaum etwas über die Person Regins zu wissen, was ja auch tatsächlich der Wahrheit entsprach, wie ihm jetzt bewusst wurde. Er habe sich mit dem Zwerg damals auf dem Markt angefreundet und Freunden würde man eben helfen. Obwohl Jolan merkte, dass die beiden mit seinen Erklärungen nicht wirklich einverstanden waren, gaben sie sich vorerst damit zufrieden. In den folgenden Stunden, befand sich Regin weitestgehend in einem Dämmerzustand, daher schlug Jolan gegen Abend vor, ihn in seinem Zimmer einzuquartieren, er selbst würde solange auf der Couch schlafen. Ella stimmte fürs Erste zu und so packten sie gemeinsam an und schleppten den Zwerg die Treppen hoch. Als Regin kurz danach auf dem Bett lag, scheuchte Chris die anderen aus dem Zimmer, er war von Beruf Alten- als auch Kranpfleger und wusste daher, was jetzt zu tun war. Ella hatte unterdessen in der Küche damit angefangen, das Abendbrot vorzubereiten.
Eine gute halbe Stunde später, sie saßen bereits am gedeckten Tisch, kam Chris wieder herunter. Er trug Regins lederne Kleidung unter dem Arm und machte einen Bogen um den Tisch, während er sich vielsagend die Nase zuhielt, um auf die Terrasse zu verschwinden. Anschließend wusch er seine Hände in der Küche und setzte sich zu ihnen. „Puh, die Klamotten müssen da draußen erst einmal eine Weile lüften!“, meinte er und schnaufte kurz.
„Wie geht es ihm?“, fragte Veena als Erste. Chris zögerte einen Moment. „Ich denke den Umständen entsprechend,… eigentlich ganz gut.“
„Jetzt mal ganz ehrlich …“, schaltete Ella sich ein, „ich weiß, in ihm wohnen ungeahnte Kräfte,… aber meinst du, wir brauchen wirklich keinen Arzt rufen?“
„Nein, ich glaub’ nicht. Er hat kein Fieber, atmet ganz ruhig, Puls geht normal …, ich denke, er braucht nur ein paar Tage Ruhe.“ Chris biss von seinem Brot ab, dann fuhr er fort: „Ich habe ihm, wie ihr bemerkt habt, die Kleidung ausgezogen. Er hat zum Glück keinerlei Verletzungen, allerdings ist sein Körper von unzähligen Narben übersät“, er schüttelte den Kopf, „und seine Statur …, der Mann hat Muskeln aus Stahl.“
„Na ja …“, wandte Jolan ein, „… er ist immerhin ein Waffenschmied.“ „Stimmt! Aber ich habe schon oft gedacht, dass Regin wirklich ein ungewöhnlicher Kerl ist“, erwiderte Chris.
„Wieso schon oft gedacht?“, fragte Veena überrascht.
Chris wechselte einen hastigen Blick mit Ella. „… Ich meinte schon vor drei Wochen, als Jolan mir so viel von dem Schmied erzählt hatte,… und, und ungewöhnlich an ihm ist zum Beispiel unter anderem, dass ich überhaupt nicht sein Alter schätzen könnte. Ist er vierzig, fünfzig Jahre alt, oder eher noch älter? Keine Ahnung.“ Er zog, irgendwie gespielt, die Augenbrauen in die Höhe.
Jolan und Veena zuckten nur mit den Achseln, über das eventuelle Alter des Zwerges hatten sie sich bisher noch keine Gedanken gemacht.
„Nun gut …“, sagte Ella abschließend, „… morgen sehen wir weiter.“
Später begleitete Jolan Veena nach Hause, vor der Haustür küsste er sie lange und zärtlich, sie hatten seit einer gefühlten Ewigkeit keine Möglichkeit mehr dazu gehabt. „Bleib tapfer …“, sagte er dann ein wenig hilflos, bevor sie ins Haus trat, „sie ist ja immer noch deine Mutter.“
„Natürlich …“, erwidere sie, „… wird schon wieder werden.“ Ihr trauriges Lächeln hatte etwas beängstigend Erwachsenes, sie legte kurz ihre Hand an Jolans Wange. „Bis morgen“, sagte Veena und schloss leise die Tür.
Am nächsten Morgen, Jolan stand im Badezimmer und beugte sich über das Waschbecken, sah er ungläubig auf den kleinen, weißen Brocken, den er soeben nach dem Zähneputzen, klimpernd ausgespuckt hatte. Er nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und besah sich das vermeintliche Zahnstück genauer. Ein Teil von einem Zahn …, einfach ausgebrochen, dachte er verwirrt und suchte mit der Zunge in seinem Mund nach dem beschädigten Zahn. Aber da war alles in Ordnung, er sah nochmals genauer hin und da ging ihm auf, dass es sich um eine Zahnfüllung handelte. Natürlich …, vor etwa anderthalb Jahren hatte er eine Keramikfüllung in einem Backenzahn, rechts unten, bekommen. Seine Eltern waren damals richtig enttäuscht darüber gewesen, dass er offensichtlich seine Zähne nicht genügend gepflegt hätte.
Jolan sperrte seinen Mund weit auf, während er mit dem Finger die Wange wegzog, um im Spiegel nach dem Zahn zu schauen. Aber da war kein Loch! Der Zahn war eindeutig gesund und ohne Loch, als ob die Füllung einfach abgestoßen worden wäre. Das Grün …, schoss es ihm durch den Kopf … na klar …, die Heilkraft des Waldlingblutes hatte das bewirkt. Er befühlte fortwährend mit der Zunge den geheilten Zahn, einfach über Nacht nachgewachsen, dachte er immer noch ungläubig, während er die Treppe hinab in die Küche ging. Jolan lehnte an der Küchenplatte, hob die Hände und ballte langsam, mehrmals die Fäuste. Er fühlte sich unglaublich gut, stark und ausgeruht. Von den gestrigen Strapazen war überhaupt nichts mehr zu merken, ganz im Gegenteil, alle Kratzer und Wunden waren tatsächlich verheilt, ohne irgendwelche Spuren, genau wie der Zahn. Das grüne Blut war das absolute Wundermittel, kein Zweifel. Allerdings hatte er nicht die unheimliche, von Regin beschriebene 'Nebenwirkung' vergessen; diese Sache mit der Verwandlung in ein Pflanzenwesen. Gruselig …, er musste unbedingt noch nachfragen, was das genau bedeutete. Jolan dachte an Veena, die er jeden Augenblick erwartete. Ihr musste es ja genauso ergehen wie ihm, allerdings hatte sie, soweit er wusste, keinerlei Zahnfüllungen.
Ella und Chris waren bereits recht früh losgefahren, um ein paar Besorgungen zu erledigen. Vor allem Ella wollte, dass Chris von seiner Arbeitsstelle Infusionslösung samt Zubehör 'leihen' sollte, da Regin sehr stark dehydriert war. Kein Wunder, er war ja immerhin ganze drei Wochen ohne Flüssigkeitsaufnahme gewesen, was die beiden selbstverständlich nicht einmal ahnen konnten. Allerdings schienen sie auf jeden Fall zu ahnen, dass der Zwerg eben mehr war, als nur ein sonderlicher Mittelalter-Freak. Bevor sie losfuhren, hatte Ella Jolan erklärt, es wäre besser die medizinischen Hilfsmittel nicht in einer Apotheke zu besorgen, sondern lieber unbemerkt aus dem Altenheim, wo Chris bereits seit vielen Jahren beschäftigt war. Jolan verstand zwar nicht so richtig worum es ihr ging, aber er hoffte, dass sie sich dabei nicht erwischen ließen.
Er war gerade mit seinem Frühstück fertig, da hörte er Veena zur Haustür hereinkommen. Sie kam mit ihrem neuen Sommerkleid, leuchtenden Augen und strahlendem Lächeln auf ihn zu, so dass ihr Anblick ihm mal wieder die Sprache verschlug.
„Hey, nicht umfallen“, sagte sie lachend und nahm ihn in die Arme. Jolan fing an sie zu küssen, bis sie dabei stolpernd auf dem Sofa landeten. „Wie geht’s dir …?“, fragte er endlich, recht atemlos. Ihr Lächeln wurde etwas schmaler. „Um es kurz zu machen: meine Mutter ist ziemlich von der Rolle, sie macht ein auf mega gute Laune und singt ständig vor sich hin …“, Veena schüttelte langsam den Kopf,
„… obwohl ich es nicht anders erwartet habe, nervt sie mich mit ihrem Getue.“
„Immer noch besser, als wenn sie weiterhin Alarm machen würde“, meinte Jolan.
„Stimmt, wahrscheinlich hast du recht.“ Halbwegs auf ihm liegend, setzte sie sich aufrecht, mit einem Fuß auf dem Boden abstützend auf ihn und drückte mit den flachen Händen mehrfach auf seine Brust.
„Ich fühle mich heute einfach super!“, sagte sie begeistert, „geht’s dir auch so?“
Jolan richtete sich auf seine Ellenbogen gestützt auf. „Ja klar, das liegt am Waldlingsblut, seine Heilkraft ist einfach unglaublich!“ Er riss seinen Mund auf und Veena wich erschrocken zurück, als er ihr seinen Zahn zeigen wollte. Nachdem er erklärt hatte, was geschehen war, lehnte sie sich ins Sofa zurück und schwieg beeindruckt. „Überleg mal …“, sie dachte einen Moment nach, „… wahrscheinlich könnte man mit ein paar Tropfen Waldlingsblut, jemanden der Krebs hat, oder irgendeine andere schreckliche Krankheit, einfach gesund machen.“
„Ja …“, erwiderte er nachdenklich, bevor er sich weiter aufrichtete und vorschlug: „Komm, lass uns Regin etwas zum Frühstücken bringen! Vielleicht geht’s ihm heute schon viel besser, dann könnten wir ihm endlich ein paar Fragen stellen.“ Sie rafften sich auf und machten Rührei mit Brot und Käse und eine große Tasse Kaffee fertig, danach brachten sie alles auf einem Tablett nach oben und klopften vorsichtig an Regins Zimmertür. „Kommt rein …“, rief die glücklicherweise deutlich festere Stimme des Zwerges, „… mir läuft von dem Geruch schon das Wasser im Mund zusammen!“
Als sie ins Zimmer traten, sahen sie voller Überraschung, dass der Waldling am Fußende auf Regins Bett saß. „Ich hab’ ihn heute, frühmorgens zum Fenster reingelassen“, erklärte Regin.
„Skogsrå!“, Jolan war auf der Stelle besorgt, „das ist gefährlich …, falls sie jetzt früher als erwartet zurückkommen“, fuhr er fort.
„Jolaan …“, sagte das Wesen mit seiner sanften Stimme, „wenn gesehen werden ich will, dann …“
Jolan unterbrach ihn mit einer abwinkenden Handbewegung. „Jaja, ich weiß schon, wenn du gesehen werden willst, dann sieht man dich, und wenn nicht, dann eben nicht.“ Er setzte sich zu dem Waldling aufs Bett und streichelte ihm den Rücken, Veena sah sie lächelnd an und meinte: „Ihr seid echt süß, ihr beiden.“
„Macht euch keine Sorgen um ihn“, beruhigte Regin sie. „Er ist schneller wieder zum Fenster raus und in den Bäumen verschwunden als …“, er überlegte kurz, „… als irgend so ein Superheld im Kino es könnte.“
Jolan war echt überrascht. „Hey …, du kennst dich mit Film-Superhelden aus?“, er zog die Mundwinkel herunter und nickte beeindruckt, „… das hätte ich als letztes von dir gedacht!“, dass der Zwerg in einem Kino gewesen sein könnte, kam ihm völlig absurd vor. „Hast du tatsächlich Superheldenfilme im Kino gesehen?“, fragte er daher ungläubig.
Regin lächelte gutmütig. „Sicher, warum denn nicht?“, sagte er nur und fing an zu essen. Als er fertig war, nahm ihm Veena das Tablett ab und setzte sich wieder zu Jolan ans Bettende. Der Zwerg lehnte sich in die Kissen zurück und schloss eine Weile die Augen, das Essen tat ihm zwar gut, ermüdete ihn aber auch wieder.
„Regin …“, begann Jolan, „ich habe,… nein, wir haben eine Menge Fragen an dich.“
Veena legte ihm ihre Hand auf den Unterarm, um ihn zu unterbrechen. „Falls du dich in der Lage fühlst, uns ein paar Dinge zu erklären, meinen wir natürlich“, ergänzte sie.
Der Zwerg sah sich im Zimmer um, dachte eine Weile nach und nickte dann mehrmals vor sich hin. „Na gut!“, sagte er dann, „ich werde euch jetzt alles erklären, ich meine … die ganze Wahrheit über mich und welche Aufgabe auf dich Jolan, gemeinsam mit dem Waldling, wartet.“
Er atmete tief ein und begann seine Erzählung:
„Geboren wurde ich als Sohn des Drichten Reidmar, der seine Halle am Rhein stehen hatte. Meine Brüder waren Fafnir und Ottur, meine Schwestern Lofanheid und Lyngheid. Das alles ist lange, lange her …“, er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach, „… sie alle sind längst tot und vergangen, aber das ist eine andere Geschichte. Als ich noch jung war, wollte ich der beste Schmied unter den Menschen werden und ging daher in die Lehre zu den Zwergen, den besten Schmieden überhaupt. Sie hatten das Schmiedehandwerk erfunden, die Unterirdischen, die zwergischen Dunkelalben, welche einst von Wodan in das Geheimnis der Runen eingeweiht wurden. Durch die Kunde der magischen Runen waren sie in der Lage die besten Schwerter seit Anbeginn aller Zeiten zu schmieden. Sie erfuhren das wahre Geheimnis des Feuers von der Frowe Hulda, damit sie die Glut der Lohe beherrschen lernten, um unzerbrechliche Klingen zu schmieden. Ich wusste, nur bei ihnen wäre es mir möglich, zum wahren Meisterschmied zu werden. Tief in ihren Höhlen ging ich in die Lehre, alle Leiden ertrug ich, denn mein zwergischer Meister Windhalf war ein strenger Lehrer, er glaubte nicht an meine Befähigung, da ich ein Kind von Esche und Ulme war, ein Mensch nur, aus Midgard. Daher musste ich alles Menschliche auf sein Geheiß aufgeben, um die lange und mühselige Lehrzeit zu überstehen. So nahm ich mein selbstgewähltes Schicksal an und verwandelte mich im Laufe der Jahre in einen Schwarzalben.“ Regin hielt kurz inne, „So wurde ich ein Zwerg,… viele Menschenleben lang lernte ich bei Windhalf und konnte am Ende als echter Zwergenschmied wieder nach Midgard zurückkehren. Dort ließ ich mich in der Nähe von König Alprechts Halle nieder und baute meine Schmiede auf. Der König hatte einen jungen Stiefsohn, Sigurd, Sohn des Sigmund aus der Sippe der Wälsungen. Ein besonderer Junge war das, zum Helden geboren. Er wurde zu mir in die Lehre gegeben und mehr noch, ich wurde sein Ziehvater. Sigurd half mir, eine an mich gestellte Aufgabe Wodans zu erfüllen, aber auch das ist eine andere Geschichte. Später erzählten die Leute, Sigurd hätte mich erschlagen, weil ich ihn hintergehen wollte. Vielleicht hat er das Gerücht auch selbst in Umlauf gebracht, ich habe ihn bis zu seinem Tode niemals wiedergesehen. Sein Freund Hagen hinterging ihn letztendlich und ermordete ihn“, Regins Blick schien in weite Ferne zu schweifen, bevor er seine Erzählung wieder aufnahm: „Jedenfalls haben sich die Menschen eine Menge Geschichten dazu ausgedacht, wie sie es schon immer taten. Mir wurde kurz danach vom Allvater selbst die Ehre zuteil, Midgard erneut verlassen zu dürfen und nach Asgard zu gelangen. Dort sah ich die prächtige Burg des mächtigen Asen … Glaðsheimr!“, wiederum machte Regin eine Pause, die prächtigen Bilder seiner weit zurückreichenden Erinnerungen schienen an seinem geistigen Auge vorbeizuziehen. Dann schüttelte er kurz den Kopf und fuhr mit seiner Schilderung fort: „Als sich die ganze Aufregung nach dem Untergang der Wälsungen wieder gelegt hatte, schickte man mich wieder zurück zu den Menschen. Wodan schloss zu dieser Zeit die Tore zwischen den Welten, aber alle paar Jahrzehnte öffnete er eins, damit ich über Utgard nach Asgard gelangen konnte, um dem Einäugigen Bericht über Midgard zu erstatten. Er selbst hatte damals, so könnte man sagen, das Interesse an den Geschicken der Menschenwelt weitestgehend verloren. Wahrscheinlich, weil aus dieser keine Waldlinge mit ihren Blutgebern mehr zu ihm kamen,… so erschien es mir damals zumindest. Aber genau kann ich es nicht sagen …, die Übergänge öffneten sich jedenfalls nur noch in immer größer werdenden Abständen, bis sie sich schließlich gar nicht mehr öffneten.
Viele hundert Jahre ist das jetzt her. Es brachen dunkle Zeiten auf Erden an, die Bewohner Midgards hatten die ursprünglich mildtätigen Lehren einiger ihrer Propheten in einen blutrünstigen Irrglauben verwandelt. Sie jagten daher alle noch verbliebenen, asentreuen Menschen, um sie zu bekehren, und alle die sich weigerten, wurden einfach umgebracht. Die Priesterinnen des alten Glaubens, die Gydjas, verbrannten sie als Hexen auf dem Scheiterhaufen. Überall im Land loderten die Feuer! Tausende unschuldige Frauen, ob Gydjas oder nicht, starben so auf grausamste Weise. Vorher bereits hatten die verblendeten Menschen alle Waldlinge erlegt, deren sie habhaft werden konnten …, sie verschonten auch nicht die menschlichen Blutgeber der letzten Waldwächter.“ Hier unterbrach Regin erneut seine Erzählung, da der Skogsrå in ein trauriges Jammern verfiel. „Ooh …, welch’ großes Unglück!“, klagte er, „… das alles ist von allergrößtem Schmerz für ein Waldling zu hören“, er schluchzte herzzerreißend auf, und wiegte sich voller Qual vor und zurück.
Veena kroch zu ihm und umarmte ihn tröstend, auch Jolan nahm eine Hand des Skogsrå in die seinen und versuchte, ihm ebenfalls beizustehen. Er sah Regin an. „Aber das ist ja furchtbar …“, entfuhr es ihm. Er spürte in diesem Moment die Verbindung zu dem Geschöpf mit jeder Faser seines Körpers, eine ungeheure Traurigkeit erfasste ihn und durchströmte in nahezu schmerzhaften Wellen sein gesamtes Empfinden.
„Oh, ja, sehr furchtbar, fürwahr …“, erwiderte Regin langsam.
„Und sind damals wirklich alle armen Waldlinge ums Leben gekommen?“, fragte Veena.
Der Zwerg nickte. „Ich fürchte ja. Vielleicht konnten einzelne entkommen, aber die mit ihnen verbundenen Menschen, die Blutgeber, wurden allesamt getötet. Ihre Mitmenschen verrieten sie bereitwillig an die grausamen Häscher, aber ein Waldhüter ist ohne seinen menschlichen Partner ein sehr einsames und verlorenes Wesen. Sie wurden in der Folgezeit als Dämonen und Waldungeheuer beschrieben“, abermals schüttelte Regin sein Haupt, „… ausgerechnet die Waldlinge! Wo sie doch die friedfertigsten Geschöpfe auf Erden waren.
„Sei nicht traurig Skogsrå …“, sagte Veena voller Mitgefühl, „… wir werden dich beschützen, wir werden dich niemals verlassen, bestimmt nicht!“
„Ein so liebes Mädchen Venaa ist, ich danke sehr für diese Worte …, Jolaan hat allen Grund, dich wahrhaft zu lieben, jaa, jaa …“, erwiderte das Wesen tief bewegt.
„Ihr gehört wirklich alle drei zusammen“, sagte Regin, während er sie betrachtete, „alles fügt sich … und ich will euch weiter erzählen, warum das so wichtig ist, also hört genau zu!“ Und damit nahm er die Erzählung seiner Geschichte wieder auf.
„Ich wartete fast zweihundert Jahre lang, aber kein Tor öffnete sich mehr. Jeglicher Kontakt nach Asgard ging so verloren, auch meine Brüder und Meister, die Unterirdischen, zeigten sich nicht mehr in Midgard. Denn die Kinder von Esche und Ulme jagten weiterhin ohne Erbarmen alle Geschöpfe, die von den jenseitigen Welten stammten. Wie gesagt, sie verschonten auch nicht ihre eigenen Leute. Die letzten überlebenden Priesterinnen, die Gydjas, verbargen ihre wahre Natur, sie hüteten ihr Wissen und ihre Geheimnisse durch die Jahrhunderte. Nur an ihre Töchter, wenn sie dazu geeignet waren, gaben sie ihr angesammeltes Wissen weiter. Ich durfte mich in diesen dunklen Jahrhunderten ebenfalls nicht offenbaren, aber als kundiger Schmiedemeister fand ich immer Arbeit, nur war ich gezwungen durch die ganze Welt zu ziehen, um mein langes Leben einigermaßen geheim zu halten. Diese schlimme Zeit verging wieder als die Menschen, die sogenannte Wissenschaft für sich entdeckten; sie hielten sich jetzt für 'aufgeklärt'. Aber im Grunde genommen, tauschten sie ihren alten Glauben gegen einen neuen, nicht weniger grausamen aus: Den Gott des Reichtums. Dieser neue Irrglaube durchdrang in kürzester Zeit alle Gesellschaftsschichten der Menschen. Das Schlimme war, sie bemerkten es noch nicht mal, sie huldigten nach außen hin weiterhin ihren Glaubensrichtungen, aber beherrscht wurden sie alle von der Macht des Goldes! Das Anhäufen von Besitz ist ihr größtes Bestreben geworden, dies war schon immer die größte Schwäche der Kinder von Esche und Ulme, nur erfasste sie jetzt nach und nach, tatsächlich immer mehr Menschen. Jede Sippe, jedes Volk, jede Nation. Dabei verschonten sie selbstverständlich weiterhin nicht ihre eigenen Brüder und Schwestern,… oh, nein. Aber viel schlimmer, sie fingen vor gut zweihundert Jahren damit an, im Namen ihres neuen, namenlosen Gottes die einzigartige Schöpfung Wodans zu zerstören … diesen Planeten, die Erde! Die Geschwindigkeit dieser Zerstörung nimmt heute mit jedem einzelnen Tag zu, es ist eine in Gang gesetzte, unaufhaltbare Kettenreaktion. Nur Wodan selbst könnte das noch aufhalten, falls ihm seine Schöpfung das noch wert ist! Deswegen habe ich die vergangenen Jahrzehnte damit verbracht, eine Möglichkeit zu finden, eines der alten Tore von dieser Seite aus, zu öffnen. Und wie ich vorhin bereits sagte: Alles fügt sich. Da ihr mich gerettet und zurückgeholt habt, ist der Übergang in dem Grabhügel Albios bereit …“, Regin sah sie ernst an, „… bereit für dich Jolan, zusammen mit dem Skogsrå!“ Nach diesem langen Bericht schloss der Zwerg die Augen und verfiel in ein trockenes Husten. Er sah jetzt wieder sehr erschöpft aus, Jolan und Veena sahen sich kurz an und schlugen vor, das Gespräch später weiterzuführen.
In diesem Moment hörten sie, dass Ella und Chris zurückkamen. Der Waldling nickte ihnen wortlos zu und verschwand geräuschlos aus dem Fenster. Jolan lief ihm hinterher, er wollte nachsehen, ob das Geschöpf ein sicheres Versteck finden würde. „Verschwunden …“, sagte er sich aus dem Fenster lehnend, „… der Bursche kann sich förmlich wegbeamen, wie macht er das nur?“
Regin schien derweil eingeschlafen zu sein, seine lange Rede hatte ihn tatsächlich sehr ermüdet.
„Er ist immer noch ziemlich angeschlagen, was?“, sagte Veena, während sie den schlafenden Zwerg betrachtete.
„Kein Wunder …“, meinte Jolan, „… ich hoffe diese Infusions-Flüssigkeit wird ihm wieder auf die Beine helfen“, er sah Veena an.
„Jolan …“, sagte sie langsam, „… wenn das was Regin erzählt hat stimmt, dann ist er demnach viele hundert Jahre alt. Glaubst du wirklich es ist alles wahr, ich meine, die ganze Geschichte?“
„Ich denke, dass wir darüber hinaus sind, irgendetwas nicht zu glauben …“, erwiderte er nachdenklich beim Verlassen des Zimmers.