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Sozialisierung
ОглавлениеDas dritte und vierte Motiv machen uns in einem unglaublichen Ausmaß aus. Sie bestimmen unser Leben, entscheiden über Glückseligkeit und Erreichung des Lebensziels. Zunächst ist da einmal unser großer Drang nach Sozialisierung. Der Mensch ist ein soziales Wesen, der seit der Höhle in Gruppen und Gemeinschaft lebt und der Austausch mit Menschen braucht und sucht. Sein Dasein wird in weitem Maß über die Interaktion mit Mitmenschen artikuliert. Wir wollen und brauchen andere Menschen um uns. Wir wollen mit ihnen sprechen, wir wollen sie aber auch fühlen, ihnen intensiv begegnen, sie erfahren. Hier bekommen wir Feedback und Anerkennung. In der Sozialwissenschaft gibt es den Begriff der „kontinuumbasierten Entwicklung“. Das Kontinuum ist die Summe der Verhaltensweisen, Instinkte und Gefühle, die wir aus der Steinzeit mitgenommen haben und die fest in unsere „menschliche Festplatte“ eingebrannt sind. Die stärkste Prägung erfolgt in den ersten Lebensjahren, besser: in der gemeinschaftlichen Umgebung der ersten Lebensjahre. Wie weit das gehen kann, zeigen die Untersuchungen der US-Autorin und Psychotherapeutin Jean Liedloff. Sie verbrachte mehrere Monate beim Amazonasvolk der Yequana in Venezuela und hat vollkommen abgeschnitten von unserer Kultur gelebt. Ihre Erfahrungen schildert sie in ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“3. Neugeborene werden bei den Yequana ein Jahr lang ständig am Arm oder am Körper der Mutter getragen und nach Bedarf gestillt. Die Kinder schlafen so lange im Bett ihrer Eltern, bis sie von selbst ausziehen, was zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr der Fall ist. Körperkontakt spielt eine wesentliche Rolle. Erziehung bei den Yequana kommt ohne Tadel und Ermahnung aus. Das Volk ist ungewöhnlich freundlich, friedlich und selbstbewusst. Es ist sehr beeindruckend, wie es im Zusammenleben von Gemeinschaften auch anders gehen kann.
Fast paradox muten Beispiele an, bei denen Kinder offensichtlich von Tieren aufgezogen wurden, was dazu führte, dass sie deren Instinkte und Eigenschaften teilweise annahmen. Die sogenannten „Wolfskinder“ Kamala und Amala wurden in den 1920er-Jahren in Indien in der Höhle einer aggressiven Wölfin gefunden. Sie wurden aus dem Wolfsrudel gerissen und kamen in ein Waisenhaus. Die Neun- beziehungsweise Zweijährige zeigten typische Verhaltensweisen von Wolfskindern: Sie bissen, ließen sich nicht anziehen, lehnten gekochte Nahrung ab und gingen auf allen Vieren. Sie waren so stark von ihrem Umfeld geprägt worden, dass sie rohes Fleisch aus einer Entfernung von sechzig Metern riechen und in der Dunkelheit sehen konnten. In der menschlichen Umgebung überlebten sie nicht. Die Jüngere starb schon nach einem Jahr, die Ältere nach neun Jahren, nachdem sie einige Worte zu sprechen und halbwegs aufrecht zu gehen gelernt hatte. Diese extremen Beispiele sollen unterstreichen, wie stark uns Gemeinschaft prägt.
Somit ist nicht nur unsere familiäre Prägung und die Auseinandersetzung damit wichtig, sondern auch die Etablierung eines wohltuenden Freundeskreises und eines kollegialen beruflichen Umfelds, die eben auch über unser Glücksgefühl mitbestimmen. In Unternehmen versuchen wir alles, um die Kommunikation zu fördern. Aber warum tun wir das? Um das Wohlbefinden der Menschen zu steigern. Es geht darum, ein angenehmes Gefühl der Bestätigung zu generieren und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Möglichkeit zu geben, sich zu artikulieren und sich untereinander auszutauschen, Gemeinschaft zu leben und zu praktizieren. Es geht um menschliche Freiheit im Miteinander-Tun. Wir brauchen das! Die Wissenschaft weiß heute, dass Gemeinschaft ein wesentlicher Baustein zum Glück ist.