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Kiesewetter als Musikhistoriker
ОглавлениеWie weit Kiesewetters Interesse an musikhistorischen Fragen zurückreichte ist nicht eindeutig feststellbar. Sein Studium bei Georg Albrechtsberger, dem traditions- und geschichtsbewussten Lehrer einer ganzen Komponistengeneration (Beethoven, Weigel, Umlauff, Czerny, Hummel u.a. m.), der mit dem Schaffen J. S. Bachs und über J. J. Fux mit dem Palestrina-Stil vertraut gewesen war, wird eine Rolle gespielt haben. Ob Kiesewetter bereits in den Studienjahren 1792–94 oder nach seiner Rückkehr aus dem Krieg 1801 nach Wien noch mit Gottfried van Swieten in Kontakt gekommen war, lässt sich nicht feststellen, ist aber anzunehmen.
Mit der 1816 beginnenden Sanierung der österreichischen Staatsfinanzen war Kiesewetter finanziell in der Lage, sich seinen musikwissenschaftlichen Studien gezielter zuzuwenden. Er selbst berichtet davon, dass er erst nach dem Zweiten Pariser Frieden (1815) beginnen konnte, sich dem Aufbau einer Noten- und Partituren-Sammlung mit dem Plan eine Geschichte der Musik, von der Entstehung der harmonischen oder kontrapunktischen Kunst bis auf die neuere Zeit, in Denkmälern herzustellen zu widmen. Dieses Zitat aus dem Vorwort zu seinem Catalog der Sammlung alter Musik7 stimmt frappierend mit dem Text in einem Prospekt für das seinerzeit von Sonnleithner und Forkel geplante Projekt überein, das nach dem Einschmelzen der bereits gestochenen Bleiplatten des ersten Bandes bei der französischen Besetzung Wiens 1805 aufgegeben worden ist. Man kann davon ausgehen, dass seine Freundschaft mit Joseph Sonnleithner, der zusammen mit Johann Nikolaus Forkel (dessen Bach-Biographie van Swieten gewidmet ist) den Plan zu einer „Geschichte der Musik in Denkmälern von der ältesten bis auf die neueste Zeit“ unter der Mitwirkung von Georg Albrechtsberger, Antonio Salieri und Joseph Haydn verfolgte, in Kiesewetter den Ehrgeiz entfacht hat, auf diesem Gebiet, aber auf seine Weise, einen neuen Anlauf zu unternehmen.
Es ist anzunehmen, dass er in den Jahren 1809 bis 1812, den Jahren auferlegter Muße, an den von Mitgliedern der führenden Kreise Wiens besuchten Vorlesungen Friedrich Schlegels teilgenommen hat, der den Wienern nicht nur seine Sicht des „romantischen Mittelalters“, sondern auch seine Mittelaltervision einer Einheit von Deutschland und Österreich8 vermittelte. Genannt seien hier auch die literarischen Anregungen eines Wilhelm Heinse in seiner „Hildegard von Hohenthal“ und von E. T. A. Hoffmann in seinem Aufsatz „Alte und neue Kirchenmusik“, der 1814 in der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung veröffentlicht wurde. Es ist nachgewiesen, dass diese Publikationen Kiesewetter beeindruckten.
Bei seinen Bemühungen konnte er sich auf eine bedeutende Anzahl privater Wiener Musikaliensammlungen stützen: auf die Sammlung von Joseph Sonnleithner für eine Geschichte der Musik und des Theaters in Wien und Österreich, ferner die Sammlung von Instrumentalmusik seines Gitarrelehrers Simon Molitor, auch die des Erzherzogs Rudolph mit zahlreichen Bachiana, dann die des Grafen Heinrich von Haugwitz im Bereich Oper und Oratorien, besonders auch die des Vinzenz Joseph von Koudelka, der über Theoretikerschriften des 15. bis 18. Jahrhunderts verfügte, die des Abbé Maximilian Stadler, der an einer Musikgeschichte Österreichs arbeitete, sowie des Barons Bernhard von Knorr, Bibliothekar der GMF, der Literatur zur Musik sammelte. Nicht zuletzt war die kaiserliche Hofbibliothek für Kiesewetter eine großartige Fundgrube.
Nach und nach knüpfte er Kontakte nach Rom, Neapel, Paris, Berlin, Dresden, Leipzig, Heidelberg und Nürnberg. Tatkräftig unterstützt von an musikhistorischen Themen interessierten Mitarbeitern im Hofkriegsrat wie Franz Sales Kandler (1792–1831)9 und Aloys Fuchs (1799–1853)10, war Kiesewetter in der Lage, Theoretikerhandschriften und Musikalien aus dem Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit im Original oder als Abschriften zu erwerben, deren Auswertung zweierlei wichtige Resultate hervorbrachte: seine Historischen Hauskonzerte, in denen er Musik vergangener Epochen erprobte und zur Aufführung brachte, und schließlich seine musikwissenschaftlichen Aufsätze und Bücher.