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Kiesewetters musikhistorisches Geschichtsbild aus heutiger Sicht

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Es erstaunt weniger, dass Kiesewetter in Wien, einem Zentrum des „Rossini-Taumels“ – selbst Beethoven hatte sich anerkennend, wenn auch spöttisch über den italienischen Kollegen geäußert –, diesen Erfolgskomponisten als Repräsentanten der Gegenwart deklariert, als dass er mit keinem Wort einen Komponisten wie Franz Schubert erwähnt, mit dem er vielfach persönlich verbunden war. Nichtsdestoweniger ist es Kiesewetter hoch anzurechnen, dass er seine Leser in seiner Musikgeschichte mit der Nennung Rossinis bis in die unmittelbarste Gegenwart geführt hat.

Betrachtet man die ersten Kapitel (Epochen) aus heutigem Kenntnisstand, so ist natürlich vieles überholt: seine Missachtung der Wurzeln der frühchristlichen Musik bis zur Gregorianik30, die Überschätzung Hucbalds, die Geringschätzung der frühen französischen Musik – besonders Machaults31 –, dann die bis in die Epoche des Ockeghem reichenden ungenügenden Datierungen und die völlige Unterschätzung der musikdramatischen Werke Monteverdis; dazu kommt seine Vernachlässigung der weltlichen Musik des Mittelalters, sicher auch mangels erschlossener Quellen, all das darf nicht erstaunen. Der Leser seiner „Geschichte“ sollte jedoch bedenken, dass diese Mängel und die etwas einseitige Bevorzugung der kontrapunktischen Kirchenmusik Kiesewetter selbst aufgefallen sein müssen, denn wenige Jahre später gleicht er dieses Manko mit seinem Buch Schicksale und Beschaffenheit des weltlichen Gesanges vom frühen Mittelalter bis zu der Erfindung des dramatischen Styles und den Anfängen der Oper (Leipzig 1841) aus. Auch sein umfassender Aufsatz Ueber die musikalischen Instrumente und die Instrumentalmusik des Mittelalters, den er in der Zeitschrift Cäcilia 1843 publiziert hat, zeigt die Erweiterung seines Gesichtskreises.

Nachzutragen wäre an dieser Stelle, dass sich die zweite Auflage von Kiesewetters „Geschichte“ nur relativ geringfügig von der ersten unterscheidet. Neben kleinen Verbesserungen, Streichungen und Ergänzungen (auch der Notenbeispiele) ist die Aufwertung Lullys bemerkenswert und an relevanten Stellen die Einfügung englischer Komponisten von Dunstable bis Purcell, die in der ersten Auflage zu kurz gekommen waren. Möglicherweise hängt dies zusammen mit der von Robert Müller besorgten Übersetzung unter dem Titel History of the modern music of Western Europe, London 184832, die bereits seit etwa 1839 in Vorbereitung war, ist aber andererseits gewiss auch seinen gewachsenen Kenntnissen geschuldet.

Es gilt festzuhalten, dass es Kiesewetter gelang, auf rund 130 Seiten einen ernstzunehmenden, gut gegliederten Überblick über die Geschichte der europäischen Musik, insbesondere vom Beginn der frühen Mehrstimmigkeit an, zu geben. Erstmals in der Geschichte der Musikgeschichtsschreibung wirft ein Autor allen Ballast ab, der sich aus Praetorius‘, Kirchers, Matthesons, Martinis, Burneys, Hawkins’ und Forkels Zeiten angesammelt hatte, und vermag den Bogen vom ersten nachchristlichen Jahrhundert bis zur Gegenwart zu spannen. Indem Kiesewetter klar nach Epochen gliedert und Zeile für Zeile resümeehaft formuliert, gelingt ihm die erste geschlossene Darstellung der europäischen Musikgeschichte, auf der seine Nachfolger aufbauen konnten.

Kiesewetters musikhistorisches Weltbild ist zeitbedingt stark evolutionistisch ausgeprägt, was ihm von Ottmar Wessely noch Mitte des 20. Jahrhunderts zum Vorwurf gemacht wurde33. Dies kann man nur partiell gelten lassen. Man muss bedenken, dass die hellenistische Musiktheorie bis in das musiktheoretische Schrifttum des Mittelalters hineinwirkte – eine von mathematischem Denken geprägte Vermittlung der Musik, die bis weit ins 13. Jahrhundert Gültigkeit hatte – etwas, was den Menschen des Biedermeier vollkommen fremd gewesen ist. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts trifft z.B. die frühe Mehrstimmigkeit auf die inzwischen völlig veränderten Hör-Erfahrungen einer Generation, welche die harmonisch kühnen Madrigale eines Gesualdo (1566–1613) zutiefst bewundert, während ein Kiesewetter verständlicherweise diese Werke wie folgt charakterisiert: … sie zu hören kann niemals ein beneidenswerthes Vergnügen gewesen … sein34. In diesem Zusammenhang sind Kiesewetters enorme Verdienste um die musikalische Paläographie zu nennen; zu diesen Fragen hat er (seit 1820) immer wieder Aufsätze in der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung und später in der Zeitschrift Cäcilia veröffentlicht. Man sollte einem 1773 Geborenen Gerechtigkeit widerfahren lassen und die Entwicklung der „europäisch-abendländischen“ Musik von der Einstimmigkeit im frühen Mittelalter zur hochartifiziellen Mehrstimmigkeit der Komponisten des 14. bis zum 16. Jahrhundert, selbst aus heutiger Sicht, durchaus auch evolutionistisch betrachten dürfen. Für Kiesewetter war der Höhepunkt der Tonkunst mit den kontrapunktischen Werken Palestrinas und Alessandro Scarlattis, den Fugen J. S. Bachs und den Chören Händels erreicht, er verurteilte den galanten Stil der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, er würdigte ohne jegliche Abstriche Haydn, Mozart und Beethoven, aber er spricht auch ganz klar aus: … und Frevel wäre es, die Producte unserer Zeit als das non plus ultra zu bezeichnen35.

Kiesewetter, dessen Schwiegersohn, der Diplomat und spätere österreichische Botschafter in Konstantinopel Anton von Prokesch-Osten (1795–1875) ihm, wie auch sein Freund, der Diplomat und bekannte Übersetzer orientalischer Literatur, Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856), die Welt des Nahen Ostens erschlossen hat, war weit davon entfernt, eurozentristisch fixiert zu sein. Bahn brechend für die Musikethnologie ist hier sein Buch Die Musik der Araber nach Originalquellen dargestellt, Leipzig 1842 zu nennen36.

Mit seinem siebzigsten Lebensjahr begann Kiesewetter sich nach und nach aus dem gesellschaftlichen und öffentlichen Leben zurückzuziehen. 1842 beendete er seine Historischen Hauskonzerte, 1843 übertrug er Ludwig Ritter von Köchel (1800–1877) seine Aufgaben bei der GMF, die ihn zu ihrem Ehrenmitglied ernannte, 1845 durfte er schließlich in den Ruhestand gehen. Im selben Jahr erschütterte der Tod seiner Frau Jacobine seine Gesundheit aufs Schwerste; mehr und mehr zog er sich nach Baden bei Wien zurück, wo er, betreut von seinem unermüdlichen Famulus Aloys Fuchs, dem er seinen wissenschaftlichen Nachlass vermachte, am 1. Januar 1850 hoch geehrt37 verstarb. Beigesetzt wurde er an der Seite seiner Gattin in Wien auf dem heute im Gebiet des Währinger Parks eingegliederten Friedhof.

Fassen wir zusammen: Kiesewetters „Geschichte“ ist aus der Gesamtsicht seiner reichhaltigen wissenschaftlichen Tätigkeit, den Erfahrungen bei seinen „Historischen Konzerten“ sowie seiner regen Teilhabe am öffentlichen Musikleben der Kaiserstadt Wien zu sehen und zu beurteilen. In ihrer knappen und verständlich formulierten Form bot sie dem musikinteressierten Publikum ein Kompendium, das es bis dahin nicht gegeben hatte und das die Basis für die deutsch-österreichische Musikforschung wurde, auf der zuallererst sein Neffe August Wilhelm Ambros (1816–1876) sein umfassendes, aber leider unvollendetes Geschichtswerk38 aufbauen konnte.

1 Herfrid Kier, Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850). Wegbereiter des musikalischen Historismus (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 13), Regensburg 1968; ders., Kiesewetters Historische Hauskonzerte, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 1968, 95–119; ders., Musikalischer Historismus im vormärzlichen Wien, in: Walter Wiora (Hg.), Die Ausbreitung des Historismus über die Musik (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 14), Regensburg 1969; ders.: Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840), in: musica sacra 85. Jg. H. 7/8 1965, 226–231; ders.: Kiesewetter, Raphael Georg, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Bd. 10, Sp. 87–91, Kassel 2003.

2 Druck und Verlag von Breitkopf und Härtel. Die erste Auflage 1834 widmete Kiesewetter „Der vierten Klasse des königlich niederländischen Institutes der Wissenschaften, Litteratur und schönen Künste in Amsterdam“, die ihn 1838 zum Verdienstmitglied ernannte.

3 Hartmut Krones, Kiesewetter und die Folgen, in: Alte Musik in Österreich (= Neue Beiträge zur Aufführungspraxis, Bd. VII, Wien 2009, 11). Krones ist einer der wenigen, die sich (außer Dieter Gutknecht, in: Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik, 2. Aufl. Köln 1997) mit der Bedeutung Kiesewetters seit den Veröffentlichungen des Autors beschäftigt haben. Mit dem Geschichtsbild Kiesewetters befasste sich jüngst Frank Hentschel, vgl. Fußnote 22.

4 Vgl. hierzu auch: Krones 2009, 16.

5 Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatszerfall in der Habsburgermonarchie, in: Herwig Wolfram (Hg.), Österreichische Geschichte 1804–1914, Wien 1997, 123.

6 Hartmut Krones,… DER SCHÖNSTE UND WICHTIGSTE ZWECK VON ALLEN… Das Conservatorium der „Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates“, in: Österreichische Musikzeitschrift, H.2–3, 1988, 72.

7 Wien 1847, S. VI.

8 Rumpler 1997, 95.

9 Björn R. Tammen, „Musicale mania“. Auf den Spuren des Franz Sales Kandler in Italien, in: Alte Musik in Österreich, Wien 2009, 33–72.

10 Oesterreichisches Musiklexikon, Bd. 1, Wien 2002, 501; vgl. die dort gebotenen Literaturangaben.

11 Die umfangreiche wissenschaftliche Korrespondenz Kiesewetters ist weitgehend erhalten geblieben und bei Kier, Kiesewetter 1968 ausgewertet und in Auszügen abgedruckt.

12 Kiesewetter hat die von ihm vorgeschlagenen Akzidenzien immer mit farbiger Tinte im Aufführungsmaterial kenntlich gemacht bzw. bei den Notenbeispielen, die er in seiner „Geschichte“ beifügte, farbig drucken lassen.

13 Vgl. hierzu auch Krones 2009, 22–23.

14 Es handelt sich um das deutsche geistliche Konzert aus den „Symphoniae sacrae“: „Vater unser, der du bist im Himmel“, SW411.

15 Carl von Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter, Berlin 1834.

16 Vgl. Kier, Kiesewetter, 1968, wo auch über die Schubertiaden bei Kiesewetter ausführlich berichtet wird.

17 Allgemeine Musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat. 1820, 154ff.

18 Krones 2009, 15; vgl. insbesondere auch Gutknecht 1997, 173–174.

19 Catalog der Sammlung alter Musik, Wien 1847.

20 Kiesewetter bevorzugt diese deutsche Schreibung, nennt ihn aber auch Ockeghem.

21 Brief an G. Pölchau vom 23.9.1832.

22 Kiesewetter ließ nur die vierbändige A General History of Music des Charles Burney, London 1776–1779 gelten; Forkels Allgemeine Geschichte der Musik (Leipzig 1788–1801) reichte nur bis 1500.

23 Zitiert nach einem Briefkonzept in französischer Sprache vom 30.1.1834, Übersetzung vom Autor.

24 Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichte 1776–1871, Frankfurt a.M./New York 2006, 404.

25 Hentschel 409. Hentschel ist seit langem der Erste, der sich mit Kiesewetters Geschichtsbild ernsthaft auseinandergesetzt hat.

26 Kiesewetter, 19.

27 Kiesewetter würdigt C.Ph.E.Bach ausführlich als Vorläufer Haydns, vgl. 95–96; siehe dazu auch Hartmut Krones, Carl Philipp Emanuel Bach im Urteil von Raphael Georg Kiesewetter, in: Kongressbericht C. Ph. E. Bachs geistliche Musik, Frankfurt a. M. 2000, 286–294.

28 Kiesewetter, 97.

29 Kiesewetter, 98.

30 Hentschel, 237–241 und 465.

31 Kiesewetter, 44.

32 History of the modern music of Western Europe from the first century of the christian era to the present day with examples and Appendix, Explanatary of the theory of the ancient greek music. By R. G. Kiesewetter, Imperial and Royal councellor of the state at Vienna. Translated from the original german by Robert Müller, London 1848. Auguste Bottée de Toulmon hatte eine französische Übersetzung von Kiesewetters Geschichte angefertigt, doch kam es nicht zu einer Drucklegung.

33 Ottmar Wessely, Kiesewetter, Raphael Georg, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, Sp. 892–900, Kassel 1958.

34 Kiesewetter, 70–71.

35 Kiesewetter, 100.

36 Philip Bohlman, Kiesewetter’s „Die Musik der Araber“: A Pioneering Ethnomusicological Study of Arabic Writings on Music, in: Asian Music 18 (1986), 164–196. Bohlman konstatiert, dass dieses Werk Kiesewetters in Teilen bis Mitte des 20. Jahrhunderts nicht überholt gewesen ist.

37 Korrespondierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Verdienstmitglied der Maatschappij tot bevordering van toonkunst, Amsterdam, Ehrenmitglied der vierten Klasse des Koniglijk Nederlandschen Instituut van Wetenschappen, Letterkunde en Schoone Kunsten, der Congregazione de Academia di S. Cecilia Rom, der Akademie der Künste Berlin, der Musikvereine von Steiermark, Kärnten, Pest, Buda, Preßburg und des Vereines zur Beförderung der Kirchenmusik in Prag sowie Correspondent du ministère de l’instruction publique de France.

38 August Wilhelm Ambros, Geschichte der Musik, Breslau (drei Bände) 1862–1868, zwei weitere aus seinem Nachlass 1878–1882; ähnlich Forkel war Ambros nicht über das Ende des 16. Jahrhunderts hinausgekommen.

Geschichte der europäisch-abendländischen Musik

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