Читать книгу Das geheimnisvolle Kleekreuz - Andreas Max Allemann-Fitzi - Страница 17

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Der zeitliche Abstand zwischen der Notierung 1899/1900 und dem Werk 1933 lässt das belastende Ereignis erfühlen, das aus dieser „Lumperei“ entstand. Paul Klee zeigt im „Lumpen gespenst“ durch die mit einer Kreuznaht verschlossenen Lippen an, die Folgen aus der „Lumperei“ werden sein Geheimnis bleiben.

Nicht nur das Geheimbleibende drückt er aus. Durch den mit der Kreuznaht verschlossenen Mund, verbannt er auch das Teuflische, das er durch den flammenähnlichen Oberteil der Figur und die an Behaarung mutend gestalteten Beine, unterstreicht.

Das „Lumpen gespenst“ ordnete Paul Klee der „Sonderklasse“ zu, ein selten verwendetes Prädikat. Mit „Sonderklasse“ benennt er Werke die nicht für den Handel bestimmt waren.

Vorerst wollen wir festhalten, dass es etwas geben muss, was unter der […] „sichtbaren Oberfläche“ […] ist.

Der Unterstrich als Abschluss, am unteren Bildrand ist die Bezugnahme auf das Tafelbild. Es lässt schon jetzt den Schluss zu, das „Lumpen gespenst“ ist eine Umformung, eine Nachbildung.

933 „Den Chorus mysticus erfinden, der von einigen hundert Kinderstimmen vorgetragen werden müsste. Wer das könnte, der brauchte sich nicht strebend mühen. Die vielen Werkchen führen letzten Endes dahin.“

Der „Chorus mysticus“ schliesst Goethes Faust-Dichtung ab. Er umschreibt die geistige Entwicklung, beruhend auf das Denken, Fühlen und Wollen. In ähnlicher Weise geht Goethe in seinem Märchen vor. Den Bezug Klees zu Goethe, den Märchen und zur Musik interpretieren wir in der Folge.

Goethe:

„Chorus mysticus“

„Alles Vergängliche

ist nur Gleichnis!

Das unzulängliche,

Hier wird’s Erreichnis,

Das Unbeschreibliche,

Hier ist’s getan;

Das Ewig – Weibliche

Zieht uns hinan!“

Die Faust-Tragödie gilt als Goethes tiefstes Bekenntnis, seine allegorische Offenbarung. Den vielen Abhandlungen über den Chorus mysticus möchte ich keine neue hinzufügen, nur kurz zusammenfassend:

Unzählige Vorgänge der Vergangenheit ähneln sich oder haben identische Ursprünge. Unzulängliches, Böses, Fehler, Mängel, Schwächen ereignen sich trotz oder wider besseres Wissen immer wieder, gar „Das Unbeschreibliche“ wird getan.

Die Besinnung, Läuterung, Reue, vielleicht gar die Busse reinigen die Seele und machen sie frei für eine gesteigerte Geistigkeit und geben eine neue Richtung zum Sehnen und Streben nach Vollkommenheit (Humanismus) vor.

„Das Ewig-Weibliche“ versteht sich als die Ewigkeit, die Vollkommenheit, (die) der Seele. Der Artikel die ist grammatisch zum Geschlecht Femininum zuzuordnen.

Bei Paul Klee müsste der Chorus mysticus von einer Schar Kinder eingeleitet werden. Die Kinder stehen ihm für Unschuld, Unverdorbenheit und Urtümlichkeit:

Das heisst, Umwege über unzulängliche und unbeschreibliche Erfahrungen, Ereignisse und Taten, welche unweigerlich zu Irritationen führen, könnten auf dem Weg zur Vollkommenheit verhindert werden. Ob „Die vielen Werkchen“, „letzten Endes dahin“ „führen“, wäre nur am gesamten Lebenswerk mit den entsprechenden Resultaten zu beurteilen und wie weit sich der Chorus mysticus bei Klee erfüllte. Sein „strebend mühen“ darf als beeindruckend anerkannt werden.

934 „Elend“

Land ohne Band neues Land,

ohne Hauch der Erinnerung

mit dem, Rauch vom fremden Herd.

Zügellos:

wo trug kein Mutter Schoss.

Zwischen 934 und 935 brach der Krieg aus.“

935 „Die grossen Tiere trauern am Tisch und sind nicht satt. Aber die kleinen listigen Fliegen klettern auf Brotbergen und wohnen in Butterstadt.“

936 „Nur eines allein ist wahr, im Ich Gewicht ein kleiner Stein.“

Hier fällt auf, wie Paul Klee mit sich selbst beschäftigt ist. In seinem eigenen Denken und Fühlen, und dies unmittelbar nach den vielen Erlebnissen und Eindrücken aus Tunesien.

Den Ausbruch des 1. Weltkrieges erwähnt er im 934 überaus oberflächlich, als ginge ihn das nichts an. Es ist erstaunlich, alles was im politischen Umfeld vorging interessierte oder prägte ihn in keiner erwähnenswerten Weise; höchstens ironisierend und er verbleibt beim Thema des 936, das ihn seit Jahren innerlich bewegt.

937 „Ein Auge welches (welch es) sieht, das andere, welches (welch es) fühlt.“

938 „Menschentier, Uhr aus Blut.“

939 „Schon von einem Kirchturm aus gesehen, nimmt sich das Treiben auf dem Platze komisch aus. Und erst von dort aus, wo ich bin ! (Satyrspiel).“

940 „Der Mond im Bahnhof: eine von vielen Lampen

Im Wald: ein Tropfen im Bart

am Berg: dass er nicht rollt!

dass ihn der Kaktus nicht spiesst!

dass ihn die Blase nicht zerreisst.

941 „Ingres soll die Ruhe geordnet haben, ich möchte über das Pathos hinaus die Bewegung ordnen. (Die neue Romantik.)“

Unter Pathos ist eine feierliche Ergriffenheit, ein von Leidenschaft bewegter Gefühlsausdruck zu verstehen.

941 „Ingres soll die Ruhe geordnet haben“ […]

Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1869) war ein Vertreter des Klassizismus, der schulbuchmässig das Wahrzunehmende naturgetreu abbildete, als Bewahrer der Tradition, mit einem leicht angedeuteten Vorgriff auf die Moderne. Ingres begann die Wirklichkeit zaghaft seinen eigenen Vorstellungen zu unterordnen. Das stand in leichter Opposition zur französischen Romantik. Klee selbst wollte ordnen, nämlich die Bewegung über das Pathos hinaus.

Im (Titel)bild tat er dies. Er übernahm Formen und Figurfragmente, setzte sie neu zu- und übereinander, verkürzte, abstrahierte und entfernte jedes Aufkommen pathetischer Gefühle.

942 „A: Grosspapa fährt Karussell auf der Pfeffermühle

B: Ein Dieb ? Schnell das Gebiss für den Hund !

C: Sie wünschen? Eine Glaskugel ! Wie gross ? Vielleicht in Vollmondgrösse !

(Gegenseitiges verstehendes Lächeln).

D: Nicht jeder soll erraten dies hier, denn wehe mir, sonst wär ich ganz verraten.“

942 ist ein lustiges Rätsel das, wie er hofft, nicht jedermann lösen kann.

„D: Nicht jeder soll erraten dies hier, denn wehe mir, sonst wär ich ganz verraten.“

Wir versuchen es. Er benennt die Verse in der Reihenfolge des Alphabets. Ob dies eine Hinführung oder eine Ablenkung ist? Wo ist der hilfreiche Tipp, sehr wahrscheinlich nicht in allen 4 Zeilen. Nehmen wir:

„C: Sie wünschen? Eine Glaskugel ! Wie gross ? Vielleicht in Vollmondgrösse ! (Gegenseitiges verstehendes Lächeln).“

Eine geschlossene Glaskugel ist in den allermeisten Fällen eine Lampe, ein Leuchtkörper. In „Vollmondgrösse“ würde einen riesigen Leuchtkörper ausmachen und zwar von ungeahnter Leuchtkraft. Der Vollmond ist die Stellung des Mondes in grösster Opposition zur Sonne. Der Vollmond erreicht die maximale Helligkeit und beleuchtet die Erde um etwa das zehnfache. Die Erde ist bei Vollmond etwa 250-mal heller als bei einem sonstigen Nachthimmel. Paul Klees „möchte über das Pathos hinaus die Bewegung ordnen.“ Dazu bräuchte er eine immense Erhellung, eine Erleuchtung seines Geistes.

Im Vergleich zum Vollmond ist das Sonnenlicht etwa 400‘000-mal so hell.

Denken wir an die vielen Vollmonde oder Sonnen die sich in Klees Bildern farblich unterscheiden. Dabei handelt es sich nicht um blosse Darstellungen sondern um Erhellungen. Die Farbgebung macht den Sinn aus; auf der Palette von hellstrahlend bis verschwommen und getrübt.

943 „Die Genesis als formale Bewegung ist das wesentliche am Werk. Am Anfang das Motiv, Einschaltung der Energie, Sperma. Werke als Formbildung im materiellen Sinne: urweiblich.

Werke als formbestimmendes Sperma: urmännlich.

Meine Zeichnung gehört ins männliche Gebiet.“

944 „Formbildung ist energisch abgeschwächt gegenüber Formbestimmung. Letzte Folge beider Arten von Formung ist die Form. Von den Wegen zum Ziel. Von der Handlung zum Perfektum. Vom eigentlichen Lebendigen zum Zuständlichen.

Im Anfang die männliche Spezialität des energischen Anstosses. Dann das fleischliche Wachsen des Eies.

Oder: Zuerst der leuchtende Blitz, dann die regnende Wolke. Wo ist der Geist am reinsten? Im Anfang. Hie Werk, das wird (zweiteilig). Hie Werk, das ist.“

Im 943 und 944 beschreibt Paul Klee die Entstehung des Werkes in biologischer Anschauung eines Fortpflanzungsaktes. „Genesis“ verstanden als von der Zeugung bis zur Geburt. Zur Zeugung braucht es ein „Motiv.“ Die Bewegung, erzeugt („Energie“ „Sperma“) Samen. Der Same macht die Formbestimmung möglich, ist „urmännlich.“

P. Klee sieht sein Werk und daraus folgernd, die Werke als Formbestimmung. Somit verstehen wir die grundsätzlichen methodischen Ansätze seiner Kunstauffassung. Der „oberste Kreis“ ist die Formbestimmung, die Idee. Und die Idee, letztlich, das Geheimnis aus dem Innersten kommend, lässt erst die Formgebungen im graphischen Sinne zu. Im „obersten Kreis“ (Schöpferische Konfession), am „Anfang“ ist „der Geist am reinsten.“

943 beschliesst er bestimmend und explizite im Singular:

[…] „Meine Zeichnung gehört ins männliche Gebiet.“ […]

Paul Klee bezieht sich mit diesem Notat auf das (Titel)bild als Um- und Nachformung des Tafelbildes. Das Geheimnis in seinem Sinngehalt verdeutlicht er hingegen unumwunden. Seine „Zeichnung“ handelt: „Vom eigentlichen Lebendigen zum Zuständlichen.“

945 „Meine kristallklare Seite war je da und dort hochgetrübt, meine Türme manchmal bewölkt. Pein setzt sich zur Liebe, und ohne Sehnsucht 314 kann ich nicht lang noch kurz leben.“

Italien

314 „7.12.1901 Es reisen zwei Briefe und zwei Karten nach Norden, die eine Antwort nicht voraussetzen. Ich will die meisten Fäden, die mich mit früher verbinden, durchschnitten wissen. Vielleicht sind es Anzeichen einer beginnenden Meisterschaft. Ich trenne mich, von denen ich lernte. Undank der Schüler. Was bleibt mir dann? Nur Zukunft. Ich stelle mich gewaltsam drauf ein. Viele Freunde hatte ich nicht, wenn ich geistige Freundschaft fordere, bin ich fast verlassen. Zu Bloesch hat ich noch Vertrauen. Lotmar hat grosse Chancen, mit Haller stehe ich eigen. Wir passen nicht zusammen. Eine gewisse ehrenhafte Feinheit des Handelns werden wir uns wohl stets gegenseitig zutrauen. Enger sind wir nicht verbunden, waren wir vielleicht nicht. Ein ziemlich primitiver Mensch ist er, kann sich leicht sammeln und ganz sein. Lässt sich überblicken. Ich nicht. Bei so grosser Verschiedenheit wären wir ohne das gemeinsame Studium nie zusammengekommen. Ich kenne ihn seit seinem sechsten Jahr, und doch machten wir erst Gebrauch voneinander, als er ein oder zwei Jahre vor der Matura Maler werden wollte. Er näherte sich mir damals und schloss sich bei Landschaftsjagden an. Brack ist wertvoll, aber zwischen uns stehen jetzt noch Schranken. Leider muss man mit den Launen und Marotten dieses Originals stets rechnen. Manchen ganz guten Freund will ich gerne entbehren. Mein Lehrer Jahn ist mehr väterlichen Charakters.

Mit weiblicher Freundschaft will ich nichts mehr zu tun haben.“

946 „Traum: Ich finde mein Haus: leer, ausgetrunken den Wein, abgegraben den Strom. Entwendet mein Nacktes; gelöscht die Grabinschrift. Weisse.“

Im 945 beginnen wir den Zusammenhang zu erkennen, was er mit Erleuchtung und Erhellung seines Geistes ausdrückte. „Meine kristallklare Seite war da und dort hochgetrübt“ […]

Kristallklar ist ein stark glänzendes, meist geschliffenes Glas (von bestimmter chemischer Zusammensetzung).

Wenn -da kommt die Glaskugel aus dem lustigen Rätsel wieder- das Glas, der Mond oder gar die Sonne getrübt ist, wird eine gründliche Reinigung nötig, damit das Licht, der Geist wieder in voller Helligkeit strahlend, leuchten kann.

Diese notwendige Reinigung und die Gründe dazu beschreibt Klee im 945 „Pein setzt sich zur Liebe.“ Pein ist ein heftiges seelisches Unbehagen; etwas Quälendes.

Da sich die Pein zur Liebe setzt und die Liebe seiner Frau Lily gehört, hat das Quälende und das Bedürfnis nach Reinigung vor seiner Bekanntschaft mit Lily, vor 1901 stattgefunden.

Im 314 befand er sich mitten in seinem Läuterungs- und Reinigungsprozess.

Einige Autoren von biografischen Interpretationen haben als Folge dieser selbst gewählten Veränderung eine gewisse Vereinsamung festgestellt, was Paul Klee selbst befürchtete. Der Grund für die Einsamkeit ist, wie wir im 314 feststellten, in der mangelhaften intellektuellen und geistigen Entwicklung seines Umfeldes zu finden. [...] „314 Viele Freunde hatte ich nicht, wenn ich geistige Freundschaft fordere, bin ich fast verlassen.“ [...]

947 „Töne aus der Ferne. Ein Freund früh am Morgen hinter dem Berg. Hörnerklang, Smaragden.

U. Es ruft mich Gedanken zu, Kuss sich ahnender Seelen verheissend.

O. Es verband uns ein Stern, sein Auge fand uns: Zwei Ich als Gehalt; mehr denn als Gefäss. Heilige Steine gestern, heute rätsellos, heute Sinn!:

Ein Freund früh am Morgen hinter dem Berg.“

Der 947 lohnt eines tieferen Nachdenkens. Das schöne und gehaltvolle Gedicht unterteilt er typographisch, nicht wie üblich, durch Alinea (Absatzzeichen), nicht alphabetisch oder nummerisch sondern mittels den Vokalen U und O. Trotzdem, (meine persönliche Meinung und ohne jemanden nahezutreten) mich die Deutungen von Buchstaben nicht sonderlich überzeugen, sind viele Versuche bekannt.

O: Als Zeichen des Allumfassenden, als Anerkennung der göttlichen Gesetze, als geschlossener Kreis, als Einheit, als Vollendung und Vollkommenheit und wird musikalisch mit dem Grundton der Tonleiter, dem C gleichgesetzt.

U: Als höchste Erkenntnis eines Kerns, als Inspiration, als Erlösung, als Nähe zur Wahrheit, durch die Öffnung als Trichter des von oben Gesandten.

Ich überlasse jedem Leser eine Wertung des Gedichtes in Bezug auf die Vokale.

Wesentlicher ist die Tatsache, Paul Klee macht im 947, im Zusammenhang mit dem (Titel)bild erstmals einen rückblickenden Bezug auf ein Werk, als Folge und Konsequenz auf das ihn traumatisierende Ereignis:

„Zwei Ich als Gehalt;“

Die damaligen zwei Ichs in der Persönlichkeit Klees hatte eine schmerzhaft empfundene Folge, die letztlich den Kampf auslöste. Trotzdem empfand er 1914 das entstandene Resultat, das aus den beiden Ichs Hervorgegangene (aus dem Erleben des sexuellen Mysteriums, mit Schwangerschaftsfolge), als Smaragd, als heiligen Stern, als Sinn. So gesehen sind die beiden Ichs nicht Feinde sondern Freunde. Der Smaragd, ein Kristall, ein Edelstein tiefgrüner Färbung gilt seit Jahrhunderten als edelstes kristallines Gebilde.

Zu jener Zeit (um 1900) bekämpften sich in Klees Inneren zwei Ichs. Das Ich des Guten und das Ich des Bösen. Diese beiden Ichs stehen sich gegenüber, abwägend, welches gewinnen würde. Paul Klee stellte sich das in der 1. Radierung aus dem Jahr 1903 so vor:

„Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich.“

Diese beiden Männer („zwei Ich“), nackt, von gleicher Statur und Grösse verneigen sich in gleicher Pose respektvoll voreinander. Klee nennt diese Bücklinge andernorts „Kratzfüsse.“ Die beiden Männer lassen Assoziationen mit Kämpfer, Ringer usw. zu.

Das geheimnisvolle Kleekreuz

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