Читать книгу Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King - Andreas Suchanek - Страница 11

Zwischenspiel

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Ein wütender Schrei erklang, gefolgt von einem Fluchen. »Meine Manolo Blahniks.«

Sie hat sich kein Stück verändert, dachte Jamie.

Mit knallrotem Gesicht, einen Schuh mit abgebrochenem Absatz in der Hand, kam Shannon um die Kurve gestakst. Bei seinem Anblick blieb sie stehen, und für einen Augenblick sah er wieder das sechzehnjährige Mädchen vor sich, mit dem er so viel erlebt hatte. Doch der Moment verging und die Gegenwart legte sich über ihr Gesicht wie ein dunkler Schleier, der jede Freude erstickte. Alles was er heute noch sah, war Hochnäsigkeit und Arroganz, übertüncht durch Dutzende von Schönheitsoperationen. Als sie näher kam, war der alkoholgeschwängerte Atem Shannons zu riechen.

»Hallo, Jamie«, sagte sie emotionslos.

»Shannon.« Er nickte.

Er bedeutete ihr, auf dem Stuhl gegenüber Platz zu nehmen.

Sie hatten die alte Hütte im Wald als Treffpunkt gewählt. Damals waren sie oft hier gewesen. Erst nach dem Tod von Marietta hatte sich alles verändert. Die Terrasse bestand aus Holz und ragte ein Stück über den See hinaus. Am Ufer wucherte dichtes Unkraut. Der Geruch des brackigen Wassers war nicht angenehm, erinnerte Jamie aber an den Sommer ’83 – der letzte wunderbare Sommer mit all seinen Freunden.

Shannons Augen wirkten glasig, als sie umherschaute und den Blick wieder auf ihn richtete. »Es ist lange her.«

»Warum hast du mich angerufen?«

Sie atmete schwer. Das blondierte Haar fiel ihr in Locken auf die Schultern, die schweren Saphirohrringe baumelten hin und her. »Es geht um Danielle. Doktor Silverman hat heute Morgen angerufen und uns mitgeteilt, dass dein Sohn mit ihr in seiner Praxis war. Scheinbar hatte dieser deutsche Junge einen Unfall.«

»Ich weiß. Mason hat uns davon erzählt. Sie waren im Crest Point unterwegs.«

Beim Erwähnen des Steinbruchs verzog Shannon angewidert den Mund. »Meine Tochter war bisher niemals dort und wird es auch in Zukunft nicht mehr sein, verstehen wir uns?«

Jamie wurde einmal mehr bewusst, dass Shannon mit der Heirat dieses Kotzbrockens Holt nicht nur ihren Namen geändert hatte. Ihr ganzes Wesen war abgeglitten, verlor sich in der Glitzerwelt der Reichen und Pseudoschönen.

Aber wenn ich ehrlich bin, hat das bereits mit dem Tod von Marietta begonnen, dachte er. Und mit den Ereignissen damals in der Schule. In dieser einen verdammten Nacht.

Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken abzustreifen. »Du solltest endlich damit aufhören, deine Tochter in einen goldenen Käfig zu sperren.«

»Sag du mir nicht, was ich tun oder lassen soll«, keifte Shannon. »Meine Tochter wird nicht durch deinen Sohn in diesen Drogensumpf geraten.«

»Stell dich nicht dümmer als du bist«, sagte er. »Du weiß so gut wie ich, dass Mason nichts damit zu tun hat.«

»Nicht schon wieder«, seufzte Shannon. »Fängst du jetzt wieder mit deiner Verschwörungstheorie an?«

»Ich …«

»Nein!« Sie ballte die Fäuste. »Ich will nichts mehr davon hören, Jamie. Marietta ist seit über dreißig Jahren tot. Es ist vorbei. Ich habe nie verstanden, warum du und Billy nicht einfach aufhört. Aber jetzt … Billy ist tot und Harrison – ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was er heute treibt und es ist mir auch egal! Mir geht es um meine Familie. Ob dein Sohn nun Drogen nimmt, damit dealt oder ein unschuldiges Opfer ist: Danielle wird nicht zum Kollateralschaden!«

Jamie nickte resignierend. Shannon hatte vor langer Zeit einen Weg gewählt, der sie fort von der Realität brachte. Sie lebte in ihrer kleinen Welt aus Rubinen, Smaragden und Saphiren, Geld und edlen Yachten. Es war ihre Art zu vergessen. Und wo all der Pomp nicht half, kam der Alkohol ins Spiel. Die kleine Danielle tat Jamie leid. Und er vermisste Billy.

»Ich mache meinem Sohn keine Vorwürfe«, sagte er. »Er hat es schon schwer genug. Wenn du deine Tochter von ihm fernhalten willst, musst du das mit ihr klären.«

Shannon sprang auf. »Hätte ich mir denken können, dass du das sagst. Noch immer ganz der alte Sturkopf. Aber ich warne dich, mit Geld kann man eine Menge erreichen. Du willst mich nicht zur Feindin haben, Jamie. Wir haben viel gemeinsam erlebt und ich habe diese Jahre nie vergessen. Aber euer Wahn, den Mord an Marietta aufzuklären, hat uns in ein haarsträubendes Abenteuer nach dem anderen geführt. Harrison wäre ’85 beinahe gestorben, als wir versucht haben, Mariettas Spur zu dem Zirkus …«

Er winkte ab. »Ich weiß, ich weiß. Wir waren jung und ungestüm. Heute sind wir weiser.«

»Die von uns, die noch leben«, gab Shannon müde zurück. »Wie gesagt: Das Wohl meiner Tochter geht mir über alles, auch wenn du das nicht glauben magst.«

Dann solltest du dich von deinem Mann scheiden lassen, meine Liebe, dachte Jamie. Laut sagte er: »Natürlich glaube ich dir das.«

»Gut. Dann hoffe ich sehr, dass wir uns heute zum letzten Mal gesehen haben.« Sie erhob sich. »Du bist ein Teil meiner Vergangenheit, nicht meiner Zukunft. Halte Mason von Danielle fern, oder ich werde es tun – auf meine Art.«

Sie wandte sich um und stakste barfuß davon, die Schuhe in der Hand.

Jamie starrte sinnierend auf den See hinaus. Er dachte an Billy und Harrison, an die alte Shannon und natürlich Marietta. In seinen Gedanken sah er auf der anderen Seite des Sees fünf lachende Jugendliche, die sich an einem Tau von dem kleinen Abhang über das Wasser schwangen und in den See fallen ließen. Sie lachten, drückten sich gegenseitig unter Wasser und tranken Stunden später, auf einem Handtuch in der Sonne liegend, eisgekühlte Cola.

Das Lachen verebbte hallend.

Er schüttelte den Kopf.

Vermutlich würde er diese Erinnerung eines Tages mit ins Grab nehmen. Danach war eine lange dunkle Zeit gefolgt. Wie gerne hätte er sie in seinen Geist vergraben und vergessen, doch wie es solche Dinge an sich hatten, ließen sie einen nicht los. Stattdessen verfolgte ihn all das bis in die Gegenwart.

Jamie stand auf und seufzte.

Er musste etwas erledigen.


*


Seit sie beschlossen hatten, am Abend im Steinbruch zu sein, um Pratt und seinem Auftraggeber eine Falle zu stellen, verging die Zeit wie im Fluge.

Olivia fuhr mit Danielle in die Werkstatt, wo sie ihr Auto abholte. Scheinbar kannte sie jemanden, der jemanden kannte, der solche Reparaturen unter der Hand für kleine Gefälligkeiten erledigte. Danielle brachte den CLS wieder nach Hause, während Olivia zum Abendessen heimfuhr. Da es sowieso erst spät dunkel wurde, würde Pratt sicher noch nicht aktiv werden.

Randy radelte nach Hause, um dort das benötigte technische Equipment zusammenzusuchen: eine Kamera, ein Aufnahmegerät mit Richtmikrofon, einen Restlichtverstärker und mehrere mobile Scheinwerfer. Mason verzichtete darauf, den Freund zu fragen, woher er all den Kram hatte. Er war einfach ein Technik-Genie, baute ständig an irgendwelchen Bauteilen oder programmierte an etwas herum.

Mason ging nicht nach Hause. Er sendete seiner Mum eine kurze Nachricht, damit sie sich nicht sorgte. Sekunden später gab sie ihm das Okay, dem Abendessen fern zu bleiben, sein Dad sei sowieso noch nicht da.

Mit seinem Skateboard fuhr Mason in Richtung Strand. Wie immer bog er vorher ab, kam schließlich zum Waldweg und stand Minuten später an seiner geheimen Bucht. Dieses Mal war keine Olivia weit und breit zu sehen.

Barfuß schlenderte er über den Sand, schloss die Augen, genoss die milde Abendbrise, die ihm entgegen wehte. Der Geruch von Salzwasser stieg in seine Nase.

Wenn er wollte, konnte er morgen früh hierher zurückkehren, während die anderen in die Schule gehen mussten. Falls es ihm heute Abend nicht gelang, seine Unschuld zu beweisen, konnte er jeden Tag hierher kommen.

Der Gedanke schmerzte.

Wie von selbst steuerte er dem alten Steg entgegen. Die Bohlen quietschten, als er darüber schritt. Das Wasser schwappte an der Seite in die Höhe.

Unwillkürlich fiel sein Blick auf einen Haufen Namen. Sie waren in das Holz geritzt worden. Mal stand da nur ein einzelner Name, mal war es ein Anagramm, viel öfter aber ein Herzchen mit den Initialen der Verliebten im Inneren. Gedankenverloren strich Mason darüber.

Die Einkerbungen sahen alt aus. Manchmal fragte er sich, welche Gesichter zu den Namen gehörten, ob die Pärchen immer noch zusammen waren oder sich über die Jahre getrennt hatten. In einem der Herzchen erkannte er die Zahl 79, in einem anderen die 84.

Damals hab ich noch nicht mal gelebt.

In einem einzigen Moment hatte jemand sich hier verewigt und jetzt, über dreißig Jahre später, schaute er auf die Einkerbung, den Fußabdruck in der Zeit.

Mason schüttelte den Kopf.

Er wollte nicht, dass Barrington Cove sich an ihn als den Drogenjungen erinnerte. Skandale wurden hier nie vergessen, dafür sorgte schon die Gazette. Vermutlich würde spätestens am Montag die ganze Stadt wissen, dass er mit Drogen erwischt worden war. Eher wussten sie es bereits jetzt.

Der heutige Abend würde darüber entscheiden, wie es weiterging. Er setzte sich ans Ende des Steges und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Für ein paar letzte Stunden wollte er einfach nur Ruhe und Frieden.

Vor den Basketballspielen hatte er es auch immer so gemacht. Während andere unruhig auf und ab trippelten, legte er sich einfach hin und döste, schaute aufs Meer hinaus oder studierte alte Spiele. Seltsamerweise dämpfte das seine Aufregung anstatt sie noch zu erhöhen.

Mason lehnte sich zurück und schaute in den Himmel, während die Wellen an seine Beine schwappten. Langsam breitete sich eine wohlige Wärme in seinem Inneren aus.

Sekunden später war er eingeschlafen.


*


»Man könnte meinen, er ist wenigstens pünktlich«, sagte Danielle. »Wenn meine Eltern merken, dass ich mich noch mal aus dem Haus geschlichen habe, sind meine Reitstunden gestrichen.«

»Und das wäre ja gleichbedeutend mit dem Untergang der Welt«, kommentierte Olivia.

Danielle holte tief Luft und setzte zum Sprechen an.

»Wir sollten besser still sein, immerhin kann Thompkins jederzeit auftauchen«, sagte Randy schnell.

Sie kauerten zwischen zwei Sträuchern. Es war der gleiche Platz, den Mason und er schon heute Mittag verwendet hatten. Von hier aus hatten sie einen wunderbaren Ausblick.

Randy war so darauf konzentriert, Crest Point zu beobachten, dass er zusammenzuckte, als Mason sich keuchend zwischen ihn und Olivia schob.

»Sorry, ich bin eingepennt«, sagte er. »Kein Wunder, dass so viele Touris unsere Strände unsicher machen, das Meer ist einfach zu idyllisch.«

»Alter, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der unter Druck am besten schläft. Gib mir vor der nächsten Klausur was davon ab.«

»Wozu, du schreibst doch eh nur Einsen.«

Tief unter ihnen hatten die beliebtesten Plätze sich geleert. Gerade ging das letzte Pärchen, das am hartnäckigsten gewesen war, eng umschlungen davon.

»Wurde ja auch Zeit«, sagte Danielle schnippisch. »Manche Leute sollten sich ein Zimmer nehmen.«

Sie warteten.

Und warteten.

Und warteten.

Irgendwann zog Danielle ihr funkelnagelneues Smartphone heraus und begann damit, irgendein Quiz zu spielen. Randy döste ein wenig, während Mason aufmerksam durch den Feldstecher sah. Olivia hielt das Richtmikrofon und lauschte gespannt in den Kopfhörer.

»Und?«, fragte Mason.

»Bisher nur irgendwelche Vögel.« Sie runzelte die Stirn. »Warte mal, da ist was.«

Mason schaute sofort in die angegebene Richtung. Tatsächlich kam dort jemand von der gegenüberliegenden Seite zwischen zwei Reihen dicht beieinander stehender Steine auf die kleine zentrale Fläche gelaufen, die leicht erhöht lag.

»Das ist nicht Thompkins«, sagte Mason. »Das passt nicht von der Statur. Der Typ dort ist größer. Aber ich kann sein Gesicht nicht erkennen.«

Der Unbekannte wartete.

Es dauerte nur Minuten, da hielt ein Auto in der Nähe der Büsche, zwischen denen die Freunde kauerten. Thompkins und zwei seiner Lakaien stiegen aus.

Was wollen die mit dem Lautsprecher? Der ist so groß wie ein Koffer, damit könnten die den ganzen Crest Point beschallen.

Das Trio stieg den Pfad hinab.

Mason gab Randy einen Schubs. Der Freund war sofort hellwach. Danielle verstaute ihr Handy und sie scharten sich alle um Olivia, um kein Wort zu verpassen, das dort unten gesprochen wurde.

»Wartet, ich lass die Übertragung von ’ner App ausgeben«, sagte Randy. Schnell konfigurierte er die Verbindung, worauf leise Stimmen aus dem Lautsprecher klangen. »Das ist besser.«

Mason legte den Feldstecher zur Seite.

»Ich hatte schon befürchtet, dass Sie nicht kommen würden«, sagte Thompkins. »Darüber wäre mein Boss sehr verärgert gewesen.«

»Keine Sorge, ich habe Ihre Nachricht klar und deutlich verstanden.«

Mason zuckte zusammen.

»Ist das dein Dad?!«, fragte Randy fassungslos.

Mason nickte nur, unfähig, etwas zu erwidern.

»Es wäre nicht notwendig gewesen, seinen besten Freund aus einem Fenster zu werfen.«

Thompkins lachte. »Sie sollten froh sein, eigentlich wäre ihr Sohn der Glückliche gewesen. Leider war er nicht greifbar, daher musste ich improvisieren. Hätten Sie nur reagiert, als die Drogen bei Mason gefunden wurden.«

»Ich bin hier, oder nicht?«

Im Hintergrund erklangen seltsame Geräusche. Mason schaute durch den Feldstecher, während sein ganzer Körper sich anfühlte, als wäre er in Eiswasser getaucht worden. »Die haben den Lautsprecher aufgestellt«, erklärte er den anderen.

Zwar hatten Thompkins und seine Leute eine Taschenlampe, Masons Dad ebenso, doch die Erhebung war einfach zu weit entfernt. »Und jetzt steckt einer ein Pad auf die Lautsprecherbox.«

Augenblicke später erhellte sich das Pad, was für Mason aussah, als würde weit entfernt eine quadratische Fläche aufleuchten.

»Guten Abend, Mister Collister«, erklang eine seltsam verzerrte Stimme mit deutlichem englischen Akzent. »Nach so vielen Jahren stehen wir uns also endlich gegenüber, mag es auch nur über eine audiovisuelle LTE-Verbindung sein.«

Mason bekam eine Gänsehaut. Die Stimme wurde von einem Vocoder verzerrt, war aber eindeutig männlich.

»Ich hatte immer gehofft, dass Sie in Handschellen abgeführt werden, wenn wir uns das erste Mal begegnen.«

»Aber, aber«, ein Lachen erklang, »wer wird denn so unfreundlich sein? Sie und Ihre kleine Bande haben sich jahrelang redlich Mühe gegeben, meine Identität aufzudecken, dem zolle ich Hochachtung. Nur deshalb habe ich niemanden verschwinden lassen. – Doch unterschätzen Sie mich nicht. Die Zeit der Spiele ist lange vorbei.«

»Das haben Sie deutlich gemacht«, sagte sein Dad. »Meinem Sohn Drogen in den Spind zu schmuggeln, war eine widerliche Idee.«

»Kollateralschaden nennt man so etwas. Nach all den Abenteuern sollten Sie sich an so etwas gewöhnt haben. Ich erinnere mich an eine Zeit auf dem College, als Sie und Ihre Freunde recht übermütig wurden. Der arme Harrison wäre beinahe … zu Schaden gekommen. Wann war das gleich, '86?«

Mason zuckte zusammen. Wer immer dieser Kerl war, der da mit seinem Dad sprach, er hasste ihn schon jetzt.

»Es ist mein Sohn!«

»Und damit dürften wir alle wissen, wo wir gerade stehen. Wie ich sehe, haben Sie den Koffer dabei. Gehe ich richtig in der Annahme, dass sich darin alle Unterlagen zum Fall Marietta King befinden?« Stille. »Mister Collister?!«

»Ich habe alle Dateien gelöscht. Das hier sind Ausdrucke aller Unterlagen, die ich über die letzten Jahre gesammelt habe.« Er schnaubte. »Warum tun Sie das? Ich dachte immer, dass Sie auch daran interessiert sind, den Mordfall aufzuklären. Mögen Sie auch die Unterwelt der Stadt unter Ihre Kontrolle gebracht und mehr schmutzige Dinge gedreht haben als der größte Meisterverbrecher der Geschichte, haben Sie doch auch immer nach Beweisen gesucht.«

Mason beobachtete, wie Thompkins den Koffer entgegennahm. Wenn sein Dad wirklich glaubte, dass sich darin alle Unterlagen befanden und auch der seltsame Kerl auf dem Monitor davon ausging, wusste keiner der beiden von dem geheimen Raum im Tarnowski-Haus.

»Das hat Sie nicht zu interessieren«, sagte der Unbekannte. »Ihre Zeit als Hobbydetektiv ist vorbei und Marietta King – möge Sie in Frieden ruhen – wird als ewig ungelöster Mordfall in die Geschichte eingehen. Habe ich Ihr Wort, das Sie in dieser Sache nicht weiter ermitteln?«

»Wenn Sie die Finger von meinem Sohn und all seinen Freunden lassen, haben Sie mein Wort.«

»Ausgezeichnet.« Ein Klatschen erklang. »Dann haben wir einen Deal. Da ihre Freunde von damals tot sind oder die Spurensuche längst aufgegeben haben, werden keine weiteren Maßnahmen mehr notwendig sein. Sie dürfen also davon ausgehen, dass niemand mehr aus einem Fenster stürzt. Genießen Sie das Familienleben, das haben Sie sich redlich verdient.«

»Was ist mit der Entlastung meines Sohnes?«

Der Unbekannte lachte. »Sie waren in der Vergangenheit stets überaus einfallsreich, wenn es darum ging, ein Ziel zu erreichen. Zweifellos werden Sie das wieder schaffen. Es ist nicht meine Aufgabe, ein Problem zu lösen, das nur deshalb entstanden ist, weil Sie störrisch waren.«

»Sie Bastard!«

»Vorsicht, Mister Collister.« Die Stimme bekam einen gefährlichen Klang. »Vergessen Sie niemals, mit wem Sie sprechen. Ich weiß alles, ich sehe alles, ich bin überall und nirgends. In dreißig Jahren ist es Ihnen nicht gelungen, meine Identität aufzudecken. Vielleicht bin ich Ihr Nachbar oder ihr Chef oder der Direktor Ihres Sohnes.« Ein metallisches Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Ich hoffe, dass wir nie wieder Kontakt aufnehmen müssen. Andernfalls fürchte ich, wird es für Sie nicht so glimpflich ausgehen.«

Der Monitor erlosch.

»Ähm«, meldete sich Danielle. »Also wenn wir den Sheriff noch benachrichtigen wollen, damit er Thompkins auf frischer Tat ertappt, dann müssten wir das jetzt tun.«

Mason funkelte sie an. »Das dort unten ist mein Dad, wir werden auf keinen Fall den Sheriff rufen! Außerdem hat keiner dort unten etwas Illegales getan, oder hast du was anderes gesehen?«

»Es scheint sich alles um diese Marietta King zu drehen«, sagte Randy, das Kinn auf die Handflächen gestützt. »Tarnowski hat auch jahrelang gesucht, deinem Dad aber scheinbar nichts davon erzählt.«

»Oder er hat so getan, als wären das alle Unterlagen, während er in Wahrheit eingeweiht war.«

»Glaube ich nicht«, sagte Randy. »Er würde nicht dein Leben aufs Spiel setzen. Eher hätte er das ganze Tarnowski-Haus abgefackelt.«

»Ist euch eigentlich klar, dass es dort draußen jemanden gibt, der die Ermittlung im King-Fall unter allen Umständen aufhalten will?«, sagte Olivia. »Ich meine: Er hat dir Drogen untergeschoben, Mason. Und du, Randy, wurdest aus dem Fenster geworfen.«

»Das heißt, wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir ihn finden wollen«, sagte Mason leise.

»Ihn finden?«, echote Danielle. »Hast du gerade nicht zugehört? Dein Dad und seine Freunde haben dreißig Jahre lang versucht, diesen seltsamen Mordfall aufzuklären und diesen Typen dingfest zu machen. Keines von beiden ist ihnen gelungen. Warum glaubst du, sollten wir mehr Glück haben?«

»Jetzt verstehe ich«, murmelte Randy. »Vorhin habe ich mir die Unterlagen angeschaut, die Tarnowski gesammelt hat. Da war auch ein Bild dabei, auf dem Marietta King als Mädchen drauf war. Einer der Jungs kam mir irgendwie bekannt vor. Das war dein Dad, Mason. Er war mit ihr befreundet.«

Olivia nahm die Kopfhörer ab. »Das erklärt, warum sie damals alles versucht haben, um die Sache aufzuklären. Hieß es nicht, dass insgesamt fünf Jugendliche in die Schule eingebrochen sind? Marietta King starb, aber die anderen vier kamen heil wieder raus. Dein Vater war einer davon, Billy Tarnowski auch.«

»Bleiben noch zwei übrig«, sagte Randy.

»Das spielt doch gar keine Rolle«, sagte Danielle.

»Natürlich tut es das!« Mason musste sich zusammenreißen, ruhig zu bleiben. »Der Mörder läuft immer noch frei dort draußen herum. Und dieser unbekannte Gangsterboss, der laut meinem Dad die Unterwelt kontrolliert, mischt auch kräftig mit.« Der Gedanke ließ ihn den Kopf schütteln. Olivia hatte Recht, er hatte sein ganzes Leben wohlbehütet und beschützt verbracht, während Barrington Cove und die Menschen um ihn herum nicht das zu sein schienen, was sie vorgaben zu sein.

»Wir sind nicht das FBI«, sagte Danielle. »Was passiert, wenn man sich mit solchen Typen anlegt, haben wir doch mittlerweile gesehen.« Sie deutete auf Randy. »Der Sturz hätte auch übler ausgehen können.«

»Niemand zwingt dich dazu mitzumachen«, erwiderte Mason gereizt. »Bestell dir am besten deinen Chauffeur und lass dich nach Hause fahren, in euer kleines Schloss.«

Danielle schluckte. Für einen Augenblick wirkte sie, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde.

»Tut mir leid«, sagte Mason. »Das war nicht so gemeint.«

»Doch, war es.« Sie funkelte ihn an. »Aber es ist egal, was ich tue, nicht wahr? Ich besorge einen Arzt, der Randy versorgt, stelle unsere Limousine zur Verfügung und klaue den CLS von meinem Dad. Wenn ihr es braucht, ist mein Geld gut genug – bin ich gut genug. Aber ansonsten muss man die verwöhnte reiche Göre nicht ernst nehmen. Viel Erfolg beim Detektiv spielen.« Sie kroch aus dem Gebüsch und rannte davon.

Mason fühlte sich wie das größte Arschloch der Welt. »Ich … Ach, verdammt.«

Selbst Olivia sah zerknirscht aus. »Wir sollten noch einmal mit ihr reden.«

Mason warf einen Blick durch den Feldstecher. »Mein Dad ist weg. Thompkins und seine Leute kommen gerade hoch, wir müssen warten, bis sie fort sind.«

»Wir reden morgen mit ihr.«

Keiner wollte mehr sprechen. Und so warteten sie, bis Thompkins und seine Bande gegangen waren, packten still zusammen und machten sich auf den Weg.

»Also, bis bald«, sagte Olivia und fuhr davon.

Randy nahm das Rad, Mason sein Skateboard.

Crest Point blieb hinter ihnen zurück wie ein Albtraum. Voller Rätsel, die sich nur langsam lichteten.


*

Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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