Читать книгу Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King - Andreas Suchanek - Страница 12

Barrington Cove, ein Montag

Оглавление

Danielle lag in ihrer Hängematte vor dem Fenster und starrte hinaus. Sonnenschein tauchte die Wälder und Wiesen hinter dem Anwesen in helle, kräftige Farben, die Blätter schienen von innen heraus zu leuchten. Wie gerne hätte sie sich jetzt in den Sattel geschwungen, um einfach davonzureiten und alles zu vergessen.

Die Hängematte baumelte in einem kleinen Erker ihres Zimmers an zwei Stangen. Auf dem Fenstersims daneben stand ein Glas mit kühlem Eistee. Wütend schlug sie ihr Buch zu und legte es beiseite. Anstatt sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren, drehten sich ihre Gedanken ständig im Kreis.

Die Vorwürfe von Olivia und später Mason hatten sie – obwohl sie es nur ungern zugab – hart getroffen. Bevor sie auf die beiden und Randy getroffen war, war sie mit ihrem Leben eigentlich ganz zufrieden gewesen.

Heute Morgen, als die Putzfrau gekommen war, hatte Danielle sich aber plötzlich sehr unwohl gefühlt. Als ihr Dad dann unfreundlich geworden war, weil Conchetta ein paar Staubflusen auf einem Bilderrahmen übersehen hatte, war das Danielle richtiggehend peinlich gewesen.

Gleichzeitig war sie aber auch wütend über die Doppelmoral. Olivia warf Danielle nicht weniger vor, als dass sie in eine reiche Familie geboren worden war.

Entschuldige, tut mir furchtbar leid!

Mason wiederum spielte sich als cooler Typ auf, dabei hatte er panische Angst davor, seine Unschuld nicht beweisen zu können.

Und dann der Plan, die wahre Identität des Drahtziehers hinter der Drogensache aufzudecken, um damit Masons Unschuld zu beweisen.

Sie schnaubte.

Wie sollte ihnen gelingen, was den anderen vieren dreißig Jahre lang nicht gelungen war? Obendrein würden sie sich dabei in Lebensgefahr begeben, hatte dieser Gangsterboss doch mehr als deutlich gemacht, dass er keinerlei Skrupel kannte, jemanden aus dem Fenster zu werfen – oder verschwinden zu lassen.

Warum müssen alle Jungs immer den Helden spielen?

Masons bester Freund war aus dem Fenster geworfen worden, der Drahtzieher hinter der Sache war ein unbekannter Gangsterboss, und trotzdem wollte er weitermachen.

Vermutlich war ihm nicht klar, was Geld und Macht, vor allem in Kombination, ausrichten konnten. Sie hörte tagtäglich, wie ihr Vater darüber sprach, welche Firma er gerade rechtlich beraten hatte, um dabei zu helfen, Firmenübernahmen durchzuführen. Ständig sprach er davon, wer dadurch gefeuert worden war, wie viel Geld aber auf der anderen Seite in seine Taschen floss und wie stolz er auf Danielles Bruder war, der später die Kanzlei übernehmen sollte. Leben wurden in seinen Statistiken und Verträgen auf Zahlen reduziert.

Glücklicherweise war es nicht aufgefallen, dass sie den CLS aus der Garage ausgeborgt hatte. George war der beste Chauffeur, den sie je gehabt hatten – mit einer Menge Verbindungen. Vermutlich hatte er den Tank wieder aufgefüllt, den Kilometerstand zurückgesetzt und jede Spur verwischt, die darauf hindeuten mochte, dass der Wagen woanders gewesen war als in der Garage.

Seltsamerweise hatte ihr Dad auch nichts dazu gesagt, dass Randy bei Doktor Silverman behandelt worden war. Mit etwas Glück hatte der Doc ihre Mum am Telefon erwischt, und die hatte dem Ganzen im Alkoholrausch keine Beachtung geschenkt.

Damit war sie noch einmal davongekommen.

Trotzdem hatte ihr Dad, weil sie gestern so spät nach Hause gekommen war, das Reiten für drei Tage verboten. Er erwartete Disziplin. Die Regeln, die er aufgestellt hatte, mussten von jedem Familienmitglied befolgt werden.

Und das alles nur wegen Mason.

Sie hätte die Sache auf sich beruhen lassen sollen. Nachdem der Pfleger ihrer Granny ausgetauscht worden war, achtete die Heimleitung ganz besonders darauf, dass sich ein ähnlicher Vorfall nicht mehr ereignete. Andernfalls würde Danielles Vater vermutlich den ganzen Schuppen kaufen und jeden Angestellten an die Luft setzen.

Manchmal war es doch praktisch, dass sie mit seiner Gnadenlosigkeit punkten konnte.

Als es an der Tür klopfte, zuckte Danielle zusammen. Es kam quasi nie vor, dass ihre Mum oder ihr Dad sie tagsüber besuchten.

»Ja?«

Jemand schob die Tür einen Spalt weit auf und steckte seinen Kopf herein.

Randy lächelte schüchtern. Seine Haare wirkten wie immer, als hätte ein Tornado hindurchgetobt. Sein Shirt war etwas zu groß, aber die blaue Slim-fit Jeans saß perfekt.

»Störe ich?«

Im ersten Moment war Danielle zu verblüfft, als dass sie etwas erwidern konnte. »Nein«, sagte sie daher nur.

Randy schob die Tür hinter sich zu. »Nett hast du es hier.« Er ließ den Blick schweifen.

Danielle dachte lieber nicht darüber nach, wie ihr Zimmer mit dem Himmelbett, den Tüllvorhängen und den rosa Kissen auf einem altfranzösischen Sofa auf einen Jungen wirken musste.

Schnell sprang sie aus der Hängematte und wäre dabei beinahe gestolpert. Einen letzten Rest an Würde wahrend, richtete sie sich kerzengerade auf. »Was machst du hier?«

»Na ja.« Er scharrte mit den Schuhspitzen auf dem Boden. »Bei all der Hektik am Wochenende konnte ich mich nicht dafür bedanken, dass du die Limousine organisiert hast. Wer weiß, was sonst passiert wäre.«

»Doktor Silverman hat gesagt, dass du nur einen Schock und Schürfwunden davongetragen hast, du hättest auch so überlebt.«

Randy legte den Kopf zur Seite und sah sie forschend an. »Die Menschen sagen nicht oft ‚Danke‘ zu dir, oder?«

Danielle wurde rot. Dann musste sie lächeln. »Gern geschehen.«

»Schon besser.«

Jetzt grinste er übers ganze Gesicht, was irgendwie niedlich aussah. Nicht, dass sie Interesse an Randy Steinbeck hatte – zumindest keines, das über das einer Freundschaft hinausging –, aber auf eine seltsame Kleiner-Bruder-Art hatte der Nachwuchs-Nerd etwas Goldiges an sich. »Das ändert aber nichts an meiner Meinung.«

Er nahm den Rucksack herunter, kramte einen Moment darin und deutete auf ihren Schreibtisch. »Darf ich?«

Sie nickte.

Randy breitete ein paar alte Polaroids, Zettel und kopierte Unterlagen aus. »Ich war noch einmal im geheimen Raum. Es ist unglaublich, was Billy zusammengesammelt hat.«

»Billy?«

»Hm?« Er sah auf. »Oh, ich meine Billy Tarnowski. Ein paar der ersten Dokumente stammen noch aus dem Jahr 1984. Stell dir das mal vor! Zusammen mit seinen Freunden hat er kurz nach der Ermordung von Marietta mit den Ermittlungen begonnen. Masons Dad war einer der 84er.«

»Die 84er?«

»So nenne ich sie.« Er wedelte mit der Hand. »Das ist doch jetzt egal. Auf jeden Fall haben sie jahrelang einen haarsträubenden Fall nach dem anderen erlebt, während sie versucht haben, den Tod von Marietta King zu lösen. Die Zeitungen waren damals voll davon, es war das Stadtgespräch schlechthin.«

Danielle musste zugeben, dass sie interessiert war, was aber nichts an ihrer Meinung änderte und sie keinesfalls zugeben würde.

Sie setzte sich auf ihren Stuhl, betrachtete die Bilder und bekundete mäßiges Interesse.

»Auf jeden Fall haben die 84er im Verlauf ihrer Ermittlungen herausgefunden, dass es in Barrington Cove einen Mann gibt, der die Unterwelt quasi kontrolliert. Stell dir das nur vor, wir haben unseren eigenen Professor Moriarty.«

»Ist das so was wie Doktor Frankenstein?«

Randy, der gerade Luft geholt hatte, um weiter zu sprechen, hielt inne und starrte sie entsetzt an. »Sag mal, liest du ab und zu auch Bücher?«

»Klar. Vor allem zum Thema Pferde und Boote.«

»Oookay.« Er nickte, als habe sie gerade eine seiner Vermutungen bestätigt. »Moriarty war der Gegenspieler von Sherlock Holmes. Wer das ist, weißt du aber, ja?«

»Klar. Der letzte Film mit Robert Downey jr. war nicht schlecht. Jetzt weiß ich, wen du meinst.«

Jetzt sah Randy so aus, als könne er nur mit Mühe an sich halten. »Okay, ich fange gar nicht erst an.« Er seufzte. »Auf jeden Fall hat er überall hier in der Stadt seine Hand im Spiel, wenn es um dunkle Geschäfte geht. Die 84er haben niemals herausgefunden, wer er ist. Aber, und an der Stelle wird es interessant: Er war auch sehr daran interessiert, den Mord an Marietta King aufzuklären. Er nennt sich übrigens«, Randy hob eines der Polaroids in die Höhe, auf dem die alte Barrington High von außen zu sehen war, »der Graf. Und er hat einen englischen Akzent.«

Sie nahm das Foto entgegen. Hinter einem der Fenster konnte man schemenhaft eine Person ausmachen. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob es ein Junge oder ein Mann war. »Das ist ja alles ganz toll, aber damit änderst du meine Meinung nicht.«

Randy grinste, als sei er ein Zauberer, der jetzt, wo die Vorstellung sich dem Ende entgegen neigte, das Kaninchen aus dem Hut zog. »Der Graf hatte einmal, das war Ende der 80er, ein Mädchen vom 84er-Team gekidnappt. Deshalb habe ich mir die mal genauer angesehen. Es war die beste Freundin von Marietta King.«

Danielle verdrehte die Augen. »Okay. Und warum erzählst du mir das alles? Das ist ja echt nett, dass du dir so viel Mühe gibst, aber das ändert meine Meinung nicht.«

»Das Mädchen hieß Shannon Jenkins.«

Und da war es, das Kaninchen.

Oder genauer: der Vorschlaghammer.

Danielle hatte das Gefühl, als hätte Randy gerade ausgeholt und ihr die Faust ins Gesicht gedonnert. »Aber … Jenkins ist der Mädchenname meiner Mum.«

Randy nickte. »Deine Mum ist eine der 84er gewesen, ebenso wie Masons Dad. Sie waren ’ne Zeitlang sogar zusammen und viele Jahre danach noch beste Freunde. Ich weiß nicht, was dann passiert ist, aber irgendwann hat sie sich von dem Team abgewendet.«

Danielle konnte es nicht fassen. Ihre schnapsdrosselige Mutter, die den ganzen Tag Martinis schlürfte und am Pool lag, die ständig versuchte, den armen Poolboy abzuschleppen – der wiederum von ihrem Dad ständig ausgetauscht wurde – und der die Bräune ihrer Haut wichtiger war als die Bürgermeisterwahl, hatte einst mit ihren Freunden in einem Mordfall ermittelt.

Erst jetzt bemerkte Danielle, dass Randy ihr ein Foto hinhielt. Sie schnappte es ihm aus der Hand, als wäre es ein Diamant. Tatsächlich: Auf dem vergilbten Polaroid, das mit Selbstauslöser aufgenommen worden war, standen die 84er im geheimen Raum und grinsten in die Kamera.

Danielle konnte es nicht erklären, doch mit einem Mal hatte sie das Gefühl, durch ein Fenster in die Vergangenheit zu blicken und einen Teil ihrer Mutter zu sehen, der vor langer Zeit gestorben war. Das Mädchen auf dem Bild wirkte durchsetzungsstark und energiegeladen, als könne sie es mit der ganzen Welt aufnehmen.

Als sie aufblickte, waren ihre Augen nass.

Randy schaute zerknirscht drein. »Tut mir leid, ich wollte nicht …«

»Schon gut.« Sie winkte ab. »Danke, dass du mir das gezeigt hast.«

»Ich weiß nicht, was eure Eltern begonnen haben«, sagte Randy, »wer Marietta King umgebracht hat oder wer dieser Graf ist, aber es ist noch nicht vorbei.«

»Was meinst du?«

Randy zuckte die Schultern. »Die Drogen in Masons Schrank. Mein ‚Sturz‘ aus dem Fenster. Der geheime Raum mit all diesen Unterlagen und die Verstrickung eurer Eltern in Dinge, die scheinbar heute noch Auswirkungen haben – das können wir nicht einfach so beiseite schieben.«

Danielle starrte auf das Foto. Sie konnte spüren, wie die Neugierde in ihr erwachte. Sie wollte wissen, was ihre Mum und die anderen 84er damals für Abenteuer erlebt hatten. Mason hatte es nicht verdient, dass sein Leben auf dem Altar dieses alten Kampfes zwischen seinem Dad und dem Graf geopfert wurde. Und ja, sie wollte wissen, wer Marietta King – das Mädchen mit den traurigen Augen – umgebracht hatte. Zur Hölle, sie wollte nicht länger hier zu Hause herumsitzen – alleine.

Mit einem Mal wurde ihre Brust eng. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Alles okay?«, fragte Randy besorgt.

»Bestens«, sagte sie schnell. »Lass uns nach draußen gehen. Ich zeig dir unseren Garten. Dann reden wir weiter.«

Er musterte sie noch einen Augenblick durchdringend, als würde er überlegen, ob er Hilfe herbeirufen sollte, dann sagte er: »Okay.«

Gemeinsam verließen sie das Zimmer.


*


Eigentlich hatte Mason geglaubt, dass eine derartige Umgebung nur von Regisseuren und Drehbuchautoren erdacht wurde, um eine altehrwürdige Anwaltskanzlei darzustellen. Doch tatsächlich blickten grimmig dreinschauende Männer von in Goldrahmen eingefassten Ölgemälden auf ihn herab. Der Teppich war so tief und flauschig, dass man bei jedem Schritt darin versank und kein Laut zu hören war. Die Wände waren holzvertäfelt. In der Luft lag ein Geruch von Tabak – keine Zigaretten, eher Zigarren.

Sein Dad hatte eine der Computerzeitschriften vom Tisch des Wartebereichs genommen und blätterte lustlos darin. Mason konnte sich auf nichts konzentrieren, stierte einfach mal hierhin und mal dort hin. Wie er diese Warterei hasste.

»Mister van Straten erwartet Sie dann«, sagte eine ältliche Sekretärin, deren grauer Rock vermutlich mit Stahlplatten verstärkt worden war.

Mason schluckte.

Gemeinsam mit seinem Dad trat er in das Büro, das sich nur unwesentlich vom Wartebereich unterschied. Einzig der wuchtige Ebenholzschreibtisch, hinter dem ein schlanker Mann mit grauem Haar thronte, war auffällig.

Das also war der berühmte Mister van Straten, der Rechtsanwalt, auf den sein Vater Stein und Bein schwor. Nach eigener Aussage hatte der ihn schon aus zahlreichen Problemen gehauen – in die er natürlich stets unschuldig geraten war. Mittlerweile konnte sich Mason denken, dass besagte Probleme mit den Ermittlungen der 84er-Clique zu tun hatten.

»Ah, Mister Collister und Sohn.« Er kam um den Schreibtisch herum, schüttelte beide Hände seines Dads – man konnte es auch übertreiben –, ergriff auch kurz Masons rechte Hand und bedeutete ihnen dann, Platz zu nehmen.

Vor ihm auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Akte. »Ich muss zugeben, wir stecken hier in einer Bredouille.« Er warf Mason einen langen Blick zu. »Zuerst die gute Nachricht: Entgegen der ersten Ankündigung des Staatsanwaltes hat sich kein Belastungszeuge gemeldet.«

Aus den Augenwinkeln beobachtete Mason seinen Dad. Der wirkte überrascht und lächelte. »Das ist ja großartig!«

Natürlich musste ihm klar sein, dass der Mann, mit dem er einen Pakt geschlossen hatte, diesen gekauften Zeugen zurückgezogen hatte. Was er nicht wusste, war, dass es sich dabei um Brian Bruker handelte, den Sohn des Sheriffs. Nachdem sein Dad die Unterlagen über Marietta King herausgerückt hatte, sah der Unbekannte aber wohl keine weitere Veranlassung mehr, Mason über diese Schiene ans Leder zu gehen.

»Leider gibt es noch immer das ordentliche Drogenpaket, das man in ihrem Spind gefunden hat, Mister Collister.« Bei diesen Worten richtete sich der unangenehme Blick van Stratens wieder auf ihn. »Dass es sich dabei um illegale Black Flash-Tabletten handelt, macht es nur noch schlimmer. Gerade letzte Woche ist ein Jugendlicher aus Sunforest Cove – unserer lieben Nachbargemeinde – wegen diesem Zeug ins Koma gefallen. Seitdem fährt der Gouverneur eine Nulltoleranz-Politik. Das wurde natürlich an die Bürgermeister- und Sheriff-Ämter weitergegeben.«

Er seufzte schwer. »In Ihrem Fall handelt es sich zwar trotzdem nur um einen Indizienbeweis, aber leider wird er ausreichen, Sie von der Schule zu werfen, und vermutlich fallen auch ein paar Sozialstunden an. Das Eintragen in ihre Schulakte wird zudem dafür sorgen, dass Sie keinen Collegeplatz bekommen.« Er zuckte entschuldigend die Schultern. »Natürlich werde ich entsprechende Gegenargumente anführen und die Beweiskette als Ganzes infrage stellen. Prinzipiell müssen wir den Staatsanwalt allenfalls ein paar Wochen hinhalten. Sobald der Gute merkt, dass der Fall zu teuer wird, wird sich der Anwalt der Staatsanwaltschaft auf einen Vergleich einlassen. Immerhin ist nächstes Jahr Wahljahr, und da wäre eine schlechte Publicity fatal. Und Geld hat die Stadt schließlich nicht zu verschenken.«

»Vergleich?«, fragte Mason. »Aber bedeutet das nicht, dass meine Unschuld nicht bewiesen wird.«

Van Straten bedachte ihn mit einem Hast-du-Idiot-das-auch-schon-kapiert-Blick. »Genau genommen werden Sie sich sogar schuldig bekennen müssen.«

Mason ballte die Fäuste. »Aber ich habe es nicht getan! Es waren nicht meine Drogen!«

»Also das spielt hier nun wirklich keine Rolle«, sagte der Anwalt. »Wenn dieser Fall vor eine Jury wandern sollte, wird man in Ihnen einen ehemaligen Sportler in der Krise sehen. Für die Staatsanwaltschaft ein gefundenes Fressen. Nein, nein. Wir fechten zuerst einen Papierkrieg aus und verzögern, wo es nur geht. Dann kommt die Voranhörung. Ich werde den Richter mit Anträgen zuschütten und am Ende einen Misstrauensantrag stellen. Zu diesem Zeitpunkt werden wir uns mit der Staatsanwaltschaft einigen.« Er sagte es, als sei es bereits beschlossene Sache. »Diese Straftat landet in Ihrer Akte, doch da Sie minderjährig sind, wird sie versiegelt. Sie leisten die Sozialstunden ab, und Ihr Vater«, dabei deutete er auf seinen Dad, »wird Sie in ein Internat stecken. Damit ist diese Sache sauber vom Tisch.«

»Sauber?«, fragte Mason heiser. Was hatte dieser Idiot gleich noch mal studiert? Jura sicher nicht!

»Mister van Straten hat Recht«, sagte sein Dad unerwartet. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Für einen Moment war Mason felsenfest davon überzeugt, dass er in irgendeinem seltsamen Traum gefangen war, aus dem er jeden Moment erwachen musste. Gerade sein Dad wusste doch, dass er nichts mit den Drogen zu tun hatte.

Bevor er dem Lackaffen am Schreibtisch die Meinung sagen konnte, klingelte das Telefon. Van Straten nahm ab.

»Ja, Miss Perkins? Was? Sind Sie sich sicher? Verstehe. Danke.« Der Hörer knallte auf die Gabel des Telefons, das der Anwalt zweifellos aus dem vorherigen Jahrhundert mit herübergerettet hatte.

Jemand sollte ihm sagen, dass Telefone heute kein Kabel mehr haben, dachte Mason.

Zum ersten Mal seit dem Betreten des Raumes wirkte der Anwalt überrascht. »Es scheint so, als sei das Drogenpaket aus der Asservatenkammer des Sheriffs entfernt worden.«

Stille.

»Bitte?«, fragte sein Dad. »Ich verstehe nicht.«

»Um ehrlich zu sein, bin ich auch verblüfft«, gab van Straten zu. »Das war das einzige Beweismittel, das dem Staatsanwalt zur Verfügung stand. Meine Sekretärin hat mich soeben darüber informiert, dass das Verfahren gegen Ihren Sohn eingestellt wurde.«

Sein Dad grinste über das ganze Gesicht. Van Straten wirkte einfach nur perplex, aber nicht unzufrieden. Mason hingegen fühlte sich leer.

»Was ist los?«, fragte sein Dad. »Freust du dich nicht?«

»Freuen?«, erwiderte er wütend. »Was sollte mich daran freuen? Dass die Drogen verschwunden sind, wird sich herumsprechen. Das macht alles nur noch schlimmer! Ich wollte, dass meine Unschuld bewiesen wird. Aber jetzt werde ich ewig der Drogenjunge sein, der eigentlich ins Gefängnis gehört, der aber wegen eines Diebstahls – und so wird es der Sheriff hinstellen – nicht verurteilt worden ist. Damit bin ich endgültig erledigt.«

Mason sprang auf, ließ seinen verdutzten Vater sitzen und rannte davon.


*


Olivia stand in der Dunkelkammer und wartete. Da die Tür nicht abschließbar war, konnte sie nur darauf hoffen, dass ihre Eltern und Geschwister das Betreten-endet-tödlich-Schild an der Tür ernst nahmen. Es war jedes Mal ein Glücksspiel.

Über die Sache mit Mason hatte sie den Wettbewerb ganz vergessen, an dem sie demnächst teilnehmen wollte. Sie warf einen Blick auf die Ausschreibung, die sie aus der Barrington Cove Gazette herausgerissen hatte. Ein Tourismus-Magazin suchte nach Bildern von den Sandstränden Barrington Coves. Da sie grundsätzlich einen leeren Geldbeutel hatte und den letzten Rest ihres Geldes in die Reparatur des Autodachs gesteckt hatte, war das die Gelegenheit.

Natürlich hatte Danielle angeboten, sich an der Reparatur zu beteiligen. Selbstverständlich hatte Olivia abgelehnt. So weit käme es noch, dass sie Geld von ihr annahm.

Sie seufzte.

Bisher war es ihr noch nicht gelungen, den perfekten Moment einzufangen. Und perfekt musste er sein.

Sie hatte die Bilder mit Wäscheklammern an einer Schnur vor der Bretterwand aufgehängt. Zuerst erschienen nur die Umrisse, dann entstanden Kleckse, schließlich Szenen. Es waren jene Bilder, die sie am Strand aufgenommen hatte, bevor sie auf Mason getroffen war.

Olivia lächelte. Die Aufnahmen waren nicht schlecht. Sie hatte den Sandstrand aus mehreren Perspektiven aufgenommen. Auf zwei der Bilder sah man Mason, wie er auf dem Steg stand und traurig auf das Meer hinaus schaute.

Trauriger Junge am Strand. So könnte er mal auf positive Art berühmt werden.

Schließlich kamen noch Aufnahmen von den Holzbohlen des Steges. Überall gab es eingeritzte Herzchen und Zeichnungen.

Olivias Lächeln gefror.

Sie trat näher an eines der Bilder heran. Kein Zweifel: Jemand hatte ein Herz in das Holz geritzt. Im Inneren stand: 1984. Darunter: J.C. + M.K.

Kann es ein Zufall sein? Jamie Collister und Marietta King?

Olivias Gedanken rasten. Das würde erklären, warum der Vater von Mason noch bis vor kurzem nach dem Mörder gesucht hatte.

Er war mit Marietta zusammen. Womöglich hat er sie sogar geliebt?

Dieser Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Jeder schien auf irgendeine Art mit dem toten Mädchen in Verbindung zu stehen.

Wer warst du, Marietta?

Olivia wollte es herausfinden. Und dass Randy und Mason das auch wollten, stand außer Frage. Sie griff nach dem Foto. Die Frage war nur, ob das, was sie am Ende finden würden, dem Sportjungen tatsächlich gefallen würde.


*


Jamie Collister ließ seinen Blick über die Terrasse schweifen, auf der er vor wenigen Stunden Shannon getroffen hatte. Dass er so schnell hierher zurückkehren würde, hätte er nicht gedacht. Aber es war notwendig, immerhin durfte jetzt kein Fehler mehr geschehen.

Es war Montagabend und die Dämmerung brach herein. Regentropfen plätscherten auf den See nieder und hinterließen winzige aufspritzende Tropfen, die kreisförmige Wellen auf der Oberfläche erzeugten. Die Woche begann erst, doch Jamie fühlte sich bereits ausgelaugt. In wenigen Tagen begannen die Schulferien. Mason durfte zwar ab morgen wieder am Unterricht teilnehmen, nachdem die Staatsanwaltschaft die Klage hatte fallen lassen, doch sie hatten entschieden, ihn die letzten paar Tage nicht in die Schule zu schicken. Die Drogen-Geschichte war noch zu präsent.

Endlich erklangen die Schritte.

»Du spannst mich also noch immer gerne auf die Folter«, sagte er.

»Aber, Mister Collister«, kam es zurück. »Habe ich Sie jemals enttäuscht?«

Sie lachten beide.

Im Dämmerlicht zeichnete sich die Silhouette eines Mannes ab. In seiner Hand trug er ein Päckchen. »Wenn mich jemand damit erwischt hätte, würde ich jetzt in einer Zelle sitzen.«

Jamie schluckte. Kein Zweifel, mit so einer Menge an Drogenchemikalien wäre sein Sohn auch direkt verurteilt worden. Indizien waren manchmal genug.

»Ich hätte das Zeug auch gleich entsorgen können«, sagte der andere. Er trug eine einfache braune Hose, darüber ein burgunderfarbenes Hemd. Die Kombination tat in den Augen weh, aber irgendwie war das zu einem Markenzeichen von ihm geworden. Sie hatten sich damals kennengelernt, in der Mordnacht.

»Ich will mit meinen eigenen Augen sehen, wie die Beweise gegen meinen Sohn verschwinden«, sagte er. »Keine Hintertür, kein doppelter Boden.«

»Du hast Angst, dass der Graf es sich anders überlegt, was?« Bei diesen Worten wirkte Jamies Gegenüber traurig. »Manche Kämpfe kann man wohl nicht gewinnen.«

»Das mag sein. Aber dieser ist noch nicht vorbei.«

»Ich dachte, du hättest die Beweise vernichtet.«

Jamie lächelte. »Es gibt noch einen letzten Ort, an dem die Informationen zu Marietta sowie alle unsere zusammengetragenen Spuren geschützt aufbewahrt werden. Zusammen mit Unterlagen zu unseren alten Fällen.«

»Wo?«

Er schüttelte den Kopf. »Da Billy tot ist, bin ich der Einzige, der davon weiß. Und so soll es auch bleiben. Momentan muss ich die Füße stillhalten, der Graf lässt mich sicher beobachten. Ich bin ihm einmal zu oft auf die Zehen getreten. Aber diesen Kampf hat er noch nicht gewonnen.«

Seine Gedanken schweiften ab zu dem geheimen Raum in Billys Haus. Sie hatten damals nach dem Tod von Marietta damit begonnen, Informationen zusammenzutragen.

Anfangs hatten sie die Akten in einem Nebenraum der Kanzlei von Harrisons Dad untergebracht. Als dort ein Feuer ausgebrochen war – eindeutig die Handschrift des Grafen –, sah es düster aus. Wohin ausweichen? Welcher Ort war sicher? Dann hatten Billys Eltern das Haus am Stadtrand gekauft, was Shannon, Billy, Harrison und ihn in ein haarsträubendes Abenteuer gestürzt hatte, in dessen Verlauf sie den geheimen Raum entdeckten.

Wer ihn ursprünglich erbaut hatte, wusste Jamie bis heute nicht. Natürlich hatten sie diese Entdeckung niemandem erzählt, sondern begonnen, den Raum in ihr eigenes kleines Reich zu verwandeln. Alle Akten wurden dort aufbewahrt.

Glücklicherweise hatte Mister van Straten bereits Einblick in das Testament von Billy erhalten. Er vererbte sein Haus – und allen verbliebenen weltlichen Besitz – an Jamie. Damit war der geheime Raum einstweilen sicher vor dem Zugriff anderer.

»Vertraust du mir nicht?«

»Doch, das tue ich«, sagte er. »Aber wenn du nichts weißt, kannst du auch nichts versehentlich verraten. Und gerade in deinem Job als Deputy schwebst du doch ständig in irgendeiner Gefahr.«

Sachsen schnaubte. »Die einzige Gefahr kommt von diesem Arschloch Bruker. Ich frage mich immer noch, wie der sich so lange als Sheriff halten konnte. Bei jeder Wiederwahl stimme ich gegen ihn.«

Jamie lachte. »Wo Geld ist, sind auch Stimmen. Die Reichen und Mächtigen unterstützen ihn, weil er den Status quo erhält. Es würde mich nicht wundern, wenn auch der Graf Geld in seine Tasche fließen lässt, denn ein inkompetenter Sheriff kommt ihm sehr zugute. Der Einzige, der dem Grafen noch Paroli bietet und den Sheriff ordentlich an die Kandare nimmt, ist der Bürgermeister.«

Sachsen nickte. »Gerade heute hat er ihn wieder zur Sau gemacht. Irgendeine Sache im Crest Point. Es ist immer eine Freude, wenn ich den Bürgermeister zu Bruker durchstellen darf. – Unsere Sekretärin ist mehr damit beschäftigt, sich die Nägel zu lackieren als ihren Job zu tun.«

Beide lachten.

»Also schön, ich lasse dieses Paket bei dir«, sagte Deputy Sachsen. »Meine Spuren sind verwischt, niemand wird darauf kommen, dass der trottelige gutmütige Sachsen etwas aus der Asservatenkammer hat verschwinden lassen. Dein Sohn ist sicher. Und ich halte ein Auge auf ihn gerichtet. Momentan scheint er sich ja ständig in irgendwelche Probleme zu stürzen.«

»Er hat es nicht leicht, seit …«

»Ich weiß«, unterbrach Sachsen. »Mach‘s gut, Jamie.«

Und schon war er wieder alleine.

Sein Blick fiel auf das Paket.

Nur das Plätschern der Regentropfen war noch zu hören, dazwischen die Schreie einiger Vögel. Der Geruch von nassem Laub lag in der Luft.

Jamie nahm das Paket auf und ging in die Hütte.


*


Ein Montagabend,

Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

Подняться наверх