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III. Wirksamkeit des Beitritts?

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Es bleibt zu klären, welche Wirkungen die Unwirksamkeit des Vorbehalts auf den Beitritt Sinistriens zur Anti-Folter-Konvention hat. Auch hierzu enthält die WVK keine explizite Regelung. Da die Unzulässigkeit eines Vorbehaltes genauso gut zur Geltung kommt, wenn ein unzulässiger Vorbehalt zu Gunsten einer vollen Vertragsbindung entfällt, wie wenn der unzulässige Vorbehalt die Unwirksamkeit auch des Beitritts nach sich zieht, lässt sich Art. 19 WVK insoweit keine implizite Regelung entnehmen. Es liegt eine Lücke vor, die durch Rückgriff auf Völkergewohnheitsrecht zu schließen ist.[21]

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Dass der Vorbehalt von der Beitrittserklärung (bzw. der Ratifikation o.Ä.) zu trennen ist und die Unwirksamkeit des Vorbehalts die insoweit uneingeschränkte Vertragsbindung zur Folge hat, ist eine Position, die v.a. vom EGMR seit der Rechtssache Belilos vertreten wird.[22] Dieser Auffassung hat sich auch der Menschenrechtsausschuss für den IPBPR angeschlossen.[23] Die Rechtsprechung des EGMR, der gemäß Art. 33 i. V. m. 46 Abs. 1 EMRK zur verbindlichen Interpretation der Konvention ermächtigt ist, lässt sich jedoch nicht im Hinblick auf andere Vertragssysteme verallgemeinern. Insbesondere dem UN-Menschenrechtsausschuss kommt eine vergleichbare Befugnis nicht zu, weswegen mehrere Staaten, darunter die USA, Großbritannien und Frankreich, gegen seine Auffassung, auch beim IPBPR ließen sich die Frage der Wirksamkeit von Vorbehalten und Beitritt bzw. Ratifikation trennen, scharf protestiert haben.[24] Zwar deuten in neuerer Zeit einige Einsprüche zu Vorbehalten – wie die bereits erwähnten schwedischen und finnischen Erklärungen – in eine andere Richtung, wonach der den unwirksamen Vorbehalt anmeldende Staat Vertragspartei bleibe, aber von der Unwirksamkeit nicht profitieren könne; diese bleiben aber zu vereinzelt, um eine Änderung der Völkerrechtslage zu bewirken.

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Ein allgemeines Trennungsprinzip stünde im Widerspruch zur Souveränität des den Vorbehalt anmeldenden Staates, der sich unter Umständen nur in dem durch den Vorbehalt abgesteckten Rahmen binden wollte. Das Trennungsmodell kann derzeit noch nicht als allgemeine Regel des Völkerrechts betrachtet werden.[25] Angesichts der uneinheitlichen Staatenpraxis kann aber auch nicht eindeutig festgestellt werden, dass – jenseits des Sonderfalls der EMRK – der Status als Vertragspartei stets automatisch das Schicksal des Vorbehalts teilt.[26] Es kann auch der Wille des Staates sein, sich ungeachtet der Unwirksamkeit des Vorbehalts am Vertrag festhalten zu lassen.[27]

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In ihrem Praxisleitfaden von 2011 formuliert die ILC daher auch einen differenzierten Lösungsansatz: Danach ist von einer vorbehaltlosen Bindung des den unwirksamen Vorbehalt erklärenden Staates auszugehen, sofern nicht feststeht (ausdrücklich oder auf andere Weise), dass die Geltung des Vorbehalts conditio sine qua non seiner Ratifikation bzw. seines Beitritts war.[28] Eine ausdrückliche Erklärung in dieser Richtung hat Sinistrien nicht abgegeben. Zwar lassen die Umstände des Beitritts wie auch der schlechte Ruf des Landes vermuten, dass Sinistrien eine vorbehaltlose Bindung nicht wünschte; dies steht jedoch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest. Auch im Interesse der Rechtssicherheit im völkerrechtlichen Verkehr ist daher von einer vorbehaltlosen Bindung auszugehen.

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Dieses (Zwischen-)Ergebnis wird gestützt durch das sinistrische Schweigen auf die Erklärung Kontrariens hin: Erklärt – wie hier Kontrarien – ein Staat einen mit Sinn und Zweck des Vertrages unvereinbaren Vorbehalt für unwirksam und betont, dass dieser die Vertragsbindung nicht beschränken könne, so ist es an dem Vorbehaltsstaat zu reagieren. Schließlich hat er den Widerspruch zwischen seiner Beitrittserklärung und dem mit Sinn und Zweck des Vertrags nicht vereinbaren Vorbehalt zu verantworten.[29] Er kann sich entscheiden, ob er den Vorbehalt zurückziehen oder modifizieren will (u. U. reicht auch eine Klarstellung) oder ob er von dem Vertrag insgesamt Abstand nehmen möchte.[30] Reagiert er nicht, so wird er nach den Grundsätzen der acquiescence so behandelt, als habe er stillschweigend in eine insoweit unbeschränkte Vertragsbindung eingewilligt.[31] Das Konsensprinzip ist insoweit gewahrt, da es Sinistrien überlassen bleibt, die seinen politischen Interessen entsprechende Reaktion zu wählen und sich somit zwischen vorbehaltloser Bindung oder aber der Nichtbindung zu entscheiden.

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Hinweis:

Der Grundsatz der acquiescence (Nämliches gilt für die Effet-utile-Regel) braucht hier nicht näher ausgeführt und hergeleitet zu werden. Es handelt sich um einen im Kern unbestrittenen völkerrechtlichen Grundsatz, der hier nicht einen Schwerpunkt des Falles darstellt, sondern nur ein Baustein im Lösungsmosaik ist.

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Von einer Reaktion Sinistriens auf den Einspruch Kontrariens ist im Sachverhalt nichts mitgeteilt. Vorausgesetzt, dass eine angemessene Zeit seit diesem Einspruch verstrichen ist, innerhalb derer eine Reaktion von Sinistrien hätte erwartet werden können,[32] ist Sinistrien vorbehaltlos an die Bestimmungen der Anti-Folter-Konvention gebunden. Da Vorbehalte, die gegen Ziel und Zweck des Vertrages verstoßen, nicht einwilligungsfähig sind (Rn. 86), gilt diese insoweit vorbehaltlose Bindung nicht nur gegenüber Kontrarien, sondern gegenüber allen Vertragsstaaten. Ansonsten würde der unzulässige Vorbehalt auf dem Umweg über die bilaterale Annahme doch noch „gerettet“ und Art. 19 WVK konterkariert.

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Hinweis:

Diese Lösung (die keineswegs zwingend ist: andere Ansichten sind hier besonders gut vertretbar!) „funktioniert“ nur dort reibungslos, wo eine verbindliche Feststellung der Unzulässigkeit möglich ist (etwa durch ein Gericht oder – wie hier – in einem juristischen Gutachten). In der Praxis der Staaten untereinander ergibt sich das Problem, dass ein einzelner Staat nicht verbindlich für alle über die Unzulässigkeit befinden kann. Hier kommt man um eine Bilateralisierung kaum herum. Immerhin kann dort aber durch einen Einspruch und qualifiziertes Schweigen des „Vorbehaltsstaats“ zumindest in diesem bilateralen Verhältnis eine vorbehaltlose Bindung entstehen, was bei zulässigen Vorbehalten nach Art. 21 Abs. 3 WVK gerade nicht möglich ist.

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