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a. Radikaler Historismus

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Abbott legt seine frühen, stark auf die Geschichtswissenschaft zugehenden Aufsätze ebenso wie sein historisch argumentierendes Professionenbuch in einer Zeit vor, in der Skocpol und Tilly zusammen mit Kollegen wie Reinhard Bendix, Anthony Giddens, John A. Hall, Michael Mann, Barrington Moore oder Dietrich Rüschemeyer daran arbeiten, der englischsprachigen Historischen Soziologie zu einer ersten Blüte zu verhelfen. Sie ist in den 1980er und 1990er Jahren theoretische Avantgarde.40 Abbott bleibt jedoch Zaungast, da er in mehrfacher Hinsicht zu radikal argumentiert, nämlich zu historisch, gleichzeitig theoretisch zu komplex und zu wenig offensichtlich an einer bestimmten Form soziologischer Modellierung orientiert und interessiert.

Abbott selbst ist sich seiner Randständigkeit bewusst, jedoch nicht gewillt, in den historisch-soziologischen Mainstream einzurücken. In seinen Augen folgt die Historische Soziologie seiner Zeit zu sehr der Vorstellung einer allgemeinen Linearität kausaler Verhältnisse, anstatt die narrative Ordnung des Sozialen anzuerkennen:

»If there is any one idea central to historical ways of thinking, it is that the order of things makes a difference, that reality occurs not as time-bounded snap-shots within which ›causes‹ affect one another […], but as stories, cascades of events. And events, in this sense, are not single properties, or simple things, but complex conjunctures. On this argument, there is never any level at which things are standing still. All is historical.«41

Selbst wenn spätere Historische Soziologen diese von Abbott frühzeitig angemahnte Vorsicht gegenüber bestimmten Methoden und Kausalannahmen tatsächlich auch beherzigen sollten,42 änderte dies doch eben nichts an der Tatsache, dass dessen Argumente im Prinzip viel zu früh kamen, als dass sie seinerzeit in der angloamerikanischen Historischen Soziologie angemessen hätten gewürdigt werden können. Damals glaubte das Gros der Beteiligten noch fest daran, generalisierbare Konstellationen von Variablen (im Sinne des kausalen Zusammenspiels problemlos identifizierbarer Einheiten) finden zu können – beispielsweise um zu erklären, warum sich die Demokratie in England und den USA im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzen konnte, nicht aber in Deutschland.

Als die Blüte der Historischen Soziologie bereits leicht zu welken beginnt, erinnert Craig Calhoun bekanntlich daran, dass es ihr ursprüngliches Ziel gewesen sei, die Sozialtheorie und soziologische Theorie grundlegend zu historisieren – und damit auch entscheidend zu verändern. Doch stattdessen, so Calhoun, habe sie sich domestizieren lassen, sie habe sich an die in bloßen Variablen-Kategorien denkende Mainstream-Soziologie angeglichen.43 Abbott dagegen hat sich, so ließe sich argumentieren, jeder Domestizierung verweigert. Er beharrt bis heute auf einer prozessorientierten Perspektive. Es ist kein Wunder, dass er mit einer solchen Haltung im angloamerikanischen Kontext randständig geblieben ist.44

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