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IVWeiter auf der Suche nach der verlorenen Zeit

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Spätestens seit den 1990er Jahren zeichnet sich ab, dass Abbott aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit Ereignissen und Sequenzen auf eine Art Soziologie hinsteuert, die sich von herkömmlichen sozialtheoretischen Konventionen unterscheidet. Er legt seither die Grundzüge eines Forschungsprogramms vor, bei dem es ihm nicht in erster Linie darum geht, soziale Prozesse im Sinne von besonderen oder irgendwie außergewöhnlichen Vorkommnissen zu untersuchen. Er fragt vielmehr danach, wie eine Soziologie aussehen muss, die mit guten Gründen annimmt, dass sie es mit einer prinzipiell flüchtigen Realität zu tun hat, mit einer Realität, die prozesshaft organisiert ist und in der stabile Zustände eher als erklärungsbedürftige Ausnahmen zu gelten haben.

In diesem Zusammenhang stellt sich Abbott zunehmend auch ontologische Fragen oder zumindest solche, die auf ontologische Probleme verweisen. Neben seiner kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Gründerfiguren des Amerikanischen Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus beginnt er in dieser Zeit, sich mit Philosophen wie Henri Bergson und insbesondere mit Alfred North Whitehead zu beschäftigen.65 Dadurch gewinnt er wiederum grundlegende Einsichten, die mit denjenigen, wie sie in der Mainstream-Soziologie vorherrschen, kaum in Einklang zu bringen sind.66 In seinem 2016 veröffentlichten Aufsatz La Conception de l’ordre dans la sociologie processuelle67 ordnet Abbott seine Theoriebaustrategie, die sich in den 1990er Jahren entwickelt, aber rückblickend in eine bestimmte, sehr viel bekanntere Tradition des sozialen und politischen Denkens ein. Dafür unterscheidet er grob zwischen historischen Denkern und Philosophen wie Machiavelli, Vico und Montesquieu auf der einen Seite – und eher ahistorisch argumentierenden Ordnungsdenkern wie Hobbes oder Rousseau auf der anderen. Folgt man Abbott, ist den drei erstgenannten Autoren ein prozessualer Blick zumindest nicht fremd – auf eine Weise, die ihm, Abbott, sehr naheliegt. Es gibt vier zentrale Aspekte, die dieses Prozessdenken auszeichnen.

1)Ordnungsdenker verweigern sich zwar nicht der Idee des sozialen Wandels, sie unterstellen aber, dass Ordnungen zu Konflikten führen, diese Ordnungen damit aufgelöst oder zerstört werden, bis dann eine neue Ordnung eintritt. Die zentrale Prämisse dieses Denkens ist also ein Gleichgewichtsmodell, das vom Normalfall der Ordnung ausgeht und in dem der konfliktbedingte Wandel deshalb die Ausnahme darstellt. Abbott hingegen will mit dieser Vorstellung brechen und behauptet deshalb, dass die Realität per se eine Prozesshafte sei.68 Für die Sozialtheoretikerin gilt es deshalb zu klären, wie aus Prozessen vermeintlich stabile Zustände werden.

2)Damit eng verknüpft basieren Ordnungsmodelle auf der theoretisch nicht zu rechtfertigenden Vorstellung, dass das Telos des sozialen Wandels immer ein irgendwie stabiler Zustand sei, der darüber hinaus in normativer Hinsicht als ein wünschenswerter oder bevorzugter betrachtet werden müsse. Von diesen normativ unterlegten Teleologien habe sich eine Prozesssoziologie dagegen frei zu machen, weil sich nur so ein vorurteilsloser analytischer Blick auf das Soziale gewinnen lasse.

3)Ordnungsmodelle haben Abbott zufolge zudem die negative Eigenschaft, dass sie nur selten die Frage stellten, für wen diese Ordnung gut bzw. vorteilhaft ist oder sein soll. Indem diese Frage zumeist im Hintergrund verbleibe, werde gleichzeitig auch übersehen, dass – so Abbott – Ordnung immer wieder neu und immer wieder anders produziert wird, ein Aspekt, der sich nur dann erschließt, wenn man konsequent eine prozessuale Herangehensweise verfolgt.69

4)Ordnungsdenken ignoriert – im Unterschied zum Prozessdenken – die notwendige Einsicht, dass Ordnung sehr Verschiedenes bedeuten kann, dass die Ordnung sozialer Gruppen strukturell und temporal in der Regel ganz anders verfasst und reguliert ist als etwa diejenige der individuellen Biografie und dass beide nicht miteinander harmonisieren müssen. Deshalb ist die ordnungstheoretische Vorstellung einer zwanglosen Einbettung des Individuums in eine größere soziale Einheit höchst problematisch.70

Die vier genannten Aspekte umreißen ein Forschungsprogramm, das Abbott selbst zuerst und gleichzeitig am schlagendsten – gerade im Hinblick auf ihre kontraintuitiven Momente – in dem 1995 erschienenen Aufsatz Things of Boundaries umsetzt.71 Hier heißt es zunächst:

It is easier to explain stasis as an emergent phenomenon in a fundamentally changing universe than vice versa. Social theories that presume given, fixed entities – rational choice being the obvious current example – always fall apart over the problem of explaining change in those entities, a problem rational choice handles by ultimately falling back on biological individuals, whom it presumes to have a static, given character. But it is very nearly as difficult to account, in a processual ontology, for the plain fact that much of the social world stays the same much of the time. Here, too, is the problem of entities and boundaries.«72

Um das Problem fragiler Einheiten und Grenzziehungen zu bearbeiten, gilt es – so Abbott – nicht, danach zu fragen, was eigentlich die Grenze von Phänomenen oder Dingen ist, das wäre »the boundary of things«. Es ist vielmehr sinnvoll, die Fragerichtung umzudrehen, sich also damit zu befassen, was Grenzen eigentlich sind (die »things of boundaries«), weil nämlich gilt: »Social entities come into existence when social actors tie social boundaries together in certain ways. Boundaries come first, then entities.«73 Erst aus Grenzziehungen, die Akteure vornehmen, ergeben sich – unter Umständen, mal erfolgreich, mal weniger erfolgreich – Entitäten.74

Es ist dann zum einen die Aufgabe einer prozessualen Soziologie, sich damit auseinanderzusetzen, wie sich diese Schaffung von Einheit ereignet (wobei, um es nochmals zu betonen, auch die Einheit und Kontinuität von individuellen Personen für Abbott keine gegebene Tatsache, sondern eine empirisch zu untersuchende Frage ist).75 Zum anderen besteht ihre Aufgabe darin, zu untersuchen, wie diese Ereignisse im Sinne von Sequenzen miteinander verkettet sind und wie sich diese Verkettung erzählen lässt.76 Abbott argumentiert hier in Übereinstimmung mit Positionen aus der Prozessphilosophie, die sich in den Arbeiten ihrer Vertreterinnen jeweils deutlich unterscheiden mögen, die aber doch eine wesentliche Prämisse teilen:

»In a dynamic world, things cannot do without processes. Since substantial things change, their nature must encompass some impetus to internal development. In a dynamic world, processes are more fundamental than things. Since substantial things emerge in and from the world’s course of changes, processes have priority over things.«77

Abbott will seine Position aber – und dies ist zu betonen – nicht als eine bloß metaphysische (oder gar nur: sozialkonstruktivistische) Haltung verstanden wissen, sondern betont darüber hinaus immer auch stets, dass es ihm (und der Prozesssoziologie) um Ereignisse mit kausaler Wirkung gehe. Morgan Jouvenet bringt diese Perspektive treffend auf den Punkt:

»The defensibility of an entity, its ›structural resilience‹, is associated with its ›causal authority‹, which increases with the number and solidity of its footholds in different orders of reality (or in ›several different dimensions of difference‹), and with the ›connections‹ that these forge ›across long reaches of the social world.‹«78

Die Arbeit der Sozialforscherin endet nicht in Beweisen, was alles konstruiert sei. Aus Sicht Abbotts ist die gesamte soziale Welt von den Akteuren ohnehin immer schon konstruiert. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, sofort nach der kausalen Wirkung dieser Ereignisse in einem Kontext und nach Ereignisverkettungen und ihren jeweiligen Temporalitäten zu fragen. Wie Abbott deshalb im Anschluss an den späten Mead sagen wird, ist die soziale Welt eine Welt von Ereignissen79 – und nicht eine von (fixierten) Entitäten oder Gebilden.80 Um es auch an dieser Stelle noch einmal zu betonen: Abbott denkt somit nicht in Kategorien einer beständigen sozialen Welt mit darin vorfindbaren Dingen und Gebilden, sondern an eine Welt als Bündel von Prozessen, weil sich eben auch die vermeintlichen Entitäten stets neu konstituieren und transformieren.81 Daraus folgt zudem, dass Abbotts Schriften ein scharfer antiteleologischer Zug durchzieht: Denn der Sozialforscherin ist die Welt nie als ganze gegeben. Eine »vollständige Darstellung des sozialen Prozesses«82 muss scheitern, aus der Vergangenheit lässt sich niemals eine zusammenhängende Erzählung generieren.83 Möglich ist allenfalls der Blick auf einzelne prozessuale Abläufe,84 deren Zusammenspiel aber nicht vorhersehbar, auch nicht retrospektiv vollständig rekonstruierbar ist. Die Soziologie kann höchstens anstreben, räumlich und zeitlich begrenzte Kausalitäten, solche, die in einem ökologischen Raum nachvollziehbar sind, aufzudecken.85 – Kausalität ist hier somit weder deterministisch noch teleologisch gedacht, sondern im Grunde singulär. Abbott vertritt die Position, dass Okkurrenzen im Sinn von immer wieder aufs Neue stattfindenden Gegenwarten weder in einer umfassenden Weise durch ihre Vergangenheiten noch durch ihre Zukünfte bestimmt sind. Die jeweilige Gegenwart ist vielmehr »stets offen für neues Handeln […], während sie gleichzeitig jederzeit Vergangenheit wird, ja, dass es das Handeln in der Gegenwart ist, das die Gegenwart zur Vergangenheit macht«86. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn Abbott allzu großflächigen Prozessbegriffen, wie sie in den Sozialwissenschaften gängig sind, mit größter Skepsis gegenübersteht.87 Geschichte ist für Abbott die Abfolge prekärer Gegenwarten – Gegenwarten, die immer auch sofort vergehen, dadurch aber soziale Realität konstituieren.88

Der Fokus auf die Gegenwart, der sich nun bei Abbott findet, dessen wissenschaftliche Laufbahn – wie gesehen – mit einer Historischen Soziologie von Professionen begann, bedeutet selbstverständlich nicht, dass er nun einen ahistorischen Zugriff auf das Soziale bevorzugt. Ganz im Gegenteil: Abbott redet, angelehnt an Clifford Geertz’ Ausdruck der »dichten Beschreibung«, von »dichten Gegenwarten«89. Diese Gegenwarten lassen sich immer nur zeitlich und räumlich lokal erfahren,90 sie sind unvermeidlich indexikal. Eine globale Gegenwart, d.h. die Gleichzeitigkeit aller sozialen Ursachen, ist nicht denkbar, denn »es dauert, bis Ursachen und Wirkungen durch die Sozialstruktur gesickert sind«91, weil etwa die kausalen Effekte des Handelns von Akteur A auf Akteur B unmittelbar und sofort sichtbar sein mögen, diejenigen auf C jedoch erst sehr verzögert auftreten können, weshalb die Vorstellung einer universellen Gegenwart, die man als Newton’sche Gegenwart in ihrer Gänze erkennen könnte,92 (zumindest für die soziologische Forschung) fehlgeleitet wäre.

»Genau genommen definiert jeder ›Radius‹ um ein bestimmtes fokales Ereignis im Wesentlichen einen ›Wirkungskegel‹, der in die Vergangenheit zurückreicht, sodass eine Wirkung, die von irgendeinem Ereignis ›innerhalb‹ dieses Kegels ausgesandt wird, bereits von dem fokalen Ereignis oder den ›Nachfolgern in seiner Entwicklungslinie‹ erfahren wurde. Dasselbe gilt für den Blick in die Zukunft: Es wird einen Wirkungskegel der Art geben, dass eine Wirkung, die von irgendeinem Ereignis innerhalb des Kegels emittiert wird, bis zu dem Newton’schen Moment, an dem die Wirkungen der äußersten Ereignisse des Kegels eintreffen, von dem fokalen Ereignis erfahren worden sein wird. All dies impliziert, dass der soziale Raum und die soziale Zeit in Wirklichkeit logische Transformationen voneinander sind und als eine einzige Eigenschaft aufgefasst werden können, die sich als ›Stelle‹ oder ›Ort‹ bezeichnen lässt.«93

Die radikale Gegenwartsorientierung, die Abbott vertritt, läuft dabei auf ein kompliziertes Problem zu, das sich sowohl sozialtheoretisch als auch methodologisch stellt. Wenn es stimmt, dass Gegenwarten jeweils Vergangenheiten und Zukünfte haben – wie sind diese zu Narrativen verknüpft, die von Dauer sind? »How then can one have narratives that are wholes-enduring things with influence over the future?«94 Abbott fasst dieses Problem als Encoding, als Einschreibung – und macht gleichsam die Entdeckung, dass er, wir befinden uns in den 1990ern, zuvor kaum nennenswert darüber nachgedacht hat, wie die Zeitlichkeit des Sozialen mit historischen Sozialstrukturen zusammenhängt. Das Konzept der Einschreibung soll für diesen Zusammenhang sensibilisieren, da es darauf aufmerksam macht, dass soziale Strukturen der Vergangenheit kausale Relevanz für die unvermeidlich indexikalen Gegenwarten haben, weil sie hier in veränderter Gestalt wieder auftreten – nur wie sie konkret relevant sind, das ist ebenfalls indexikal und somit empirisch zu klären:

»[T]the structural past is well and truly gone. It can have its influence – this was one of those cases where you form the sentence then you try to figure out what the words in it actually mean – only if it somehow encodes itself into the present on a continuing basis.«95

Genau in diesem Diskussionskontext findet dann auch wiederum der Begriff der Ökologie seine theoretische Verankerung. Eben weil die Gegenwart sowohl dicht als auch »encoded« und der soziale Prozess im Ganzen uns nicht zugänglich ist, müssen wir uns auf »Regionen der Gegenwart konzentrieren«96, in denen von uns noch bestimmte kausale Verkettungen von Ereignissen nachvollzogen werden können, eben auf »Ökologien«. Und gelegentlich wird es dann den Sozialforschern gelingen, einige kausale Verbindungen zwischen einzelnen Ökologien, zwischen einzelnen Professionen etwa, die Abbott schon ganz früh in seiner Laufbahn untersucht hat, aufzudecken im Sinne von »linked ecologies«. Mehr aber dürften und sollten wir nicht erhoffen. Allzu generalisierende Narrative sind mit Skepsis zu betrachten, wollen wir nicht »nachträgliche Rationalisierungen dieser aufeinanderfolgenden Gegenwarten« produzieren.97

Wenn sich nun die Welt als eine Welt von Ereignissen und ihrer Verkettungen darstellt, die nur über die historisch fundierte Analyse »dichter Gegenwarten« zugänglich ist, dann folgt für Abbott daraus auch eine Kritik zeitgenössischer soziologischer Argumentationsmuster. Ihm zufolge ist es weder sinnvoll, Ereignisse irgendwie scharf von Strukturen abgrenzen, noch auf den üblichen soziologischen Mikro-Makro-Unterscheidungen aufzubauen, die mit Ebenenvorstellungen des Sozialen arbeiten, dafür jedoch oftmals unterstellen, eine Ebene sei realer als die anderen, weil von ihr die ontologische Prägung der sozialen Welt ausgehe.98 Die betreffenden Unterscheidungen sind Abbott zufolge sinnlos, real sind – um es zu wiederholen – Okkurrenzen und Ereignisse, die narrativ verkettet sind. Es emergieren lediglich Entitäten (wie prekär und fluid auch immer),99 von denen aber nicht behauptet werden kann, die einen seien wirklicher als die anderen, wie es etwa stillschweigend im Coleman’schen Badewannenmodell unterstellt wird.100 Abbott strebt also nicht eine Soziologie an, die eine Art Mikrofundierung betreibt, also – wie dies etwa bei Randall Collins der Fall ist101 – den basalsten Mikrovorgängen des Sozialen irgendwelche ontologische Priorität zuerkennen will. Ganz im Gegenteil: Abbott möchte auf eine Soziologie hinaus, die es sich zum Ziel setzt, je unterschiedliche Prozesse als verkettete Ereignisfolgen in ihrer Verschränktheit zu analysieren, also herauszubekommen, wie sie verbunden sind, dabei immer davon ausgehend, dass einige dieser verschränkten Prozesse sehr viel länger dauern als andere (die biologischen Prozesse des menschlichen Lebens haben eine andere Temporalität als diejenigen von Familien oder Organisationen), einige weit in andere Ökologien hineinreichen etc. Er will die ontologischen Ebenen des Sozialen also nicht nur enthierarchisieren, sondern auflösen.

Wenn man die Welt als eine Welt von Ereignissen begreifen will, dann könnte man sich dabei einen Strom vorstellen, auf dem viele Baumstämme flussabwärts treiben, Stämme, die vielfach ruhig dahingleiten, die sich aber gelegentlich auch verhaken, auftürmen, sich blockieren, erklärt er bildhaft in einer jüngeren Arbeit.102 Aus dem stetigen Wandel wird also plötzlich Stabilität – und genau diese Stabilität hat dann eine Prozesssoziologie zu erklären, die sich zwar nicht primär mit Baumstämmen beschäftigt, aber vielleicht mit der Frage, wie sich über berufliche Karrieren, Ausbildungsgänge oder Erbschaften vieler Personen so etwas herauskristallisiert wie eine stabile Struktur sozialer Schichtung. Dabei darf die Soziologin gleichwohl nicht der Täuschung verfallen, die Ereignisse seien immer schon klar definiert und gewissermaßen problemlos zugänglich. Vielmehr ist es laut Abbott so, dass ein jedes Ereignis und eine jede Einheit aus diversen partikularen Okkurrenzen besteht und mit Blick auf diese Partikularitäten untersucht werden kann. Ein Individuum ist niemals nur eine Einheit, sondern besteht aus einer »Myriade« von Okkurrenzen, weil ein Mensch, der gemordet hat, eben nicht nur ein Mörder ist, sondern vielleicht auch liebender Vater, Fußballspieler, Steuerzahler etc. Gleiches gilt dann auch für andere Einheiten wie soziale Gruppen und Organisationen.

Abbott ist dabei der festen Überzeugung, dass eine prozessuale Soziologie in ontologischer Hinsicht so formuliert sein muss, dass sie der ungeheuren Diversität historischer Erfahrungen gerecht werden kann.103 Seine scheinbar abseitige Beschäftigung mit Weltliteraturen ist somit eigentlich zentral, um seine Haltung nachzuvollziehen: Über Jahre hat er unter dem Pseudonym Barbara Celarent Rezensionen im American Journal of Sociology geschrieben, lange und grandiose Kritiken – in Wahrheit oft soziologische Analysen – von Romanen, Essays und politischen Schriften aus diversen Jahrhunderten und Weltregionen.104 Er macht damit deutlich, dass nur die Kenntnis unterschiedlicher kultureller und historischer Kontexte eine zu entwickelnde Prozesstheorie daran hindert, in ethnozentrische Fallen zu tappen und Verkettungen schon immer zu unterstellen (oder nicht zu sehen), weil sie im sogenannten Westen vorhanden bzw. nicht vorhanden sind.

Abbott hat über die Jahre – Stichwort »zu entwickelnde Prozesstheorie« – ein theoretisches und methodologisches Repertoire formuliert, mit dem er in diverse Themenbereiche vorstößt und in (sozial-)theoretische Debatten interveniert, in der Regel ohne sich bereits bestehenden Positionen anzuschließen. Er äußert sich zu Pfadabhängigkeiten und Wendepunkten, zu Narration, Struktur und Ereignis, zur unhintergehbaren Historizität von Individuen oder zu kausalen Mechanismen. Er nimmt zur (technologischen) Zukunft der Bibliotheken ebenso Stellung wie zur normativen Zukunft der Sozialwissenschaften.105 Gleichzeitig ist nicht absehbar, dass Abbotts Suche nach einer prozessualen Soziologie in nächster Zeit einen Abschluss findet. Das hängt maßgeblich mit seiner Arbeitsweise zusammen, die nicht ohne Brüche und Wendungen ist.

Zeit zählt

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