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Reputation und Randständigkeit Andrew Abbott und die Suche nach der prozessualen Soziologie

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»Man kann […] eine grundlegende Veränderung nicht als gelegentliches Resultat einer kontinuierlichen Stabilität erklären. Somit kann es keine wahren ›Perioden‹ geben, und wir müssen davon ausgehen, dass die soziale Welt in erster Linie eine gegenwärtige Welt und der Wandel ihr natürlicher Zustand ist. Die Kontinuität der sozialen Dinge von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft kann nicht vorausgesetzt werden. Sie ist eine Leistung, keine Tatsache – die Erschaffung einer bestimmten Art der Entwicklungslinie von Ereignissen.«1

Die Soziologie hat ein problematisches Verhältnis zur Prozessualität ihrer Gegenstände. Denn erstens fällt es ihr nicht gerade leicht, volatile Verhältnisse und Phasen analytisch zu durchdringen. Ihre Stärke liegt eher darin, stabile Zustände und Entitäten zu untersuchen und auf Begriffe zu bringen. Sprechen Sozialwissenschaftlerinnen2 von »Staat«, von »Kapitalismus«, von »Organisationen«, »Klassen« oder von »Familie«, so meinen sie damit zwar in der Regel historisch gewordene und sich wandelnde Gebilde – aber doch eben Gebilde, mehr oder weniger »feste« Phänomene, die sich als solche erfassen und in ihrem Verhältnis zueinander definieren lassen.3 Zweitens ist offensichtlich, dass noch stets eine gewisse Spannung bestand zwischen den Theoretisierungen sozialer Gebilde sowie ihrer Relationen zueinander einerseits und diversen prominenten Begriffen andererseits, die sich auf langfristige Transformationen von Sozialität beziehen, darunter »Modernisierung«, »Rationalisierung«, »Differenzierung« oder »Individualisierung«. Es handelt sich hier insofern um »gefährliche Prozessbegriffe«4, als sie von Beginn an mit einem Bündel empirischer und konzeptioneller Fragen konfrontiert waren, etwa ob und inwiefern die betreffenden Transformationen das Gebilde, in dem sie ihren Ausgang nehmen, nicht letztlich auflösen und dadurch ihre Konturen verlieren, ob und inwiefern es sich nur um gedankliche Abstraktionen oder um reale Vorgänge gesellschaftlicher Makrodetermination handelt und ob und inwiefern die Begriffe eher deskriptiv oder eher normativ angelegt sind. Paradoxerweise sind diese Begriffe bis heute deshalb so gegenwärtig, weil sich praktisch jede neue Generation von Forschenden kritisch mit ihnen auseinandersetzt.

Die üblichen Prozessbegriffe zählen also vornehmlich aufgrund ihrer Problematisierung zum soziologischen Kanon, nicht aufgrund ihrer Affirmation. Das ist keineswegs unproduktiv. Die stete Unzufriedenheit mit Bewegungsbegriffen mündet regelmäßig in Diskussionen, die mal enger, mal weiter die Frage der Prozessualität des Sozialen adressieren – zumindest in der deutschsprachigen Forschung, auf die wir uns hier zunächst beschränken.5

Die immer wieder aufflammenden Diskussionen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Soziologie erfolgreicher darin ist, den Prozessbegriff zu problematisieren, als positiv zu bestimmen, was er bezeichnen soll und leisten kann.6 Kein Wunder, dass »Prozess« trotz seiner Allgegenwart nicht einmal ansatzweise das Maß an Aufmerksamkeit in einschlägigen Selbstverständigungsschriften findet, wie es bei anderen Fundamentalkonzepten wie »Institution«, »Struktur« oder »Handlung« der Fall ist.7 So findet sich im Lexikon Soziologie und Sozialtheorie,8 das im Untertitel immerhin Hundert Grundbegriffe verspricht, erst gar kein Eintrag zu »Prozessen«, wohl aber zu »Differenzierung«, »Globalisierung« oder »Individualisierung«, die dann allesamt – Überraschung! – als Prozesse gelten.9 Auch im Wörterbuch der Soziologie, in den Soziologischen Stichworten und dem Kompendium der Soziologie finden sich keine nennenswerten Ausführungen.10

Um es abzukürzen: Die Liste der Fehlanzeigen ließe sich problemlos verlängern. Der Punkt sollte jedoch deutlich geworden sein. Obwohl der Prozessbegriff in der Regel als so bedeutsam anerkannt wird, dass auf ihn kaum verzichtet werden kann, ist die Bereitschaft in der Soziologie, sich mit diesem Begriff näher auseinanderzusetzen oder gar die grundlegende Frage nach der prinzipiellen Prozesshaftigkeit des Sozialen zu stellen, eher gering. Sie war hier sozialtheoretisch schon einmal weiter, war doch die Prozesshaftigkeit menschlicher Vergesellschaftung eine zentrale Prämisse der sogenannten Chicagoer Schule der Soziologie.11

Es gibt gegenwärtig nur einige wenige Ausnahmen von dieser weitgehenden soziologischen »Prozessignoranz«, aber es gibt sie. Eine der prominentesten Ausnahmen ist der Chicagoer Soziologe Andrew Abbott, den wir in diesem Band mit einer Auswahl zentraler Aufsätze einem deutschsprachigen Publikum vorstellen möchten.

Abbott, Jahrgang 1948 und seit 1991 Professor für Soziologie an der University of Chicago, ist zeit seines Forscherlebens auf der Suche nach einer prozessualen Soziologie. Das hat ihm in Nordamerika, seit einigen Jahren verstärkt auch in Frankreich erhebliche Reputation eingebracht, während die Rezeption seiner Arbeiten in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften noch recht verhalten ist. Dabei ist er mit seiner unentwegten Suche ohne Zweifel eine der prägenden Figuren der aktuellen US-amerikanischen Soziologie, was sich auch daran zeigt, dass er eine enorm lange Zeit, nämlich zwischen 2000 und 2016, als Herausgeber des prestigeträchtigen American Journal of Sociology wirkte. Gleichzeitig ist er – eigentümlicherweise – bis heute in disziplinärer Hinsicht randständig geblieben, ist er weder schulbildend noch debattenprägend geworden, auch wenn er keiner Kontroverse ausgewichen ist. Reputation und Randständigkeit, eine auf den ersten Blick widersprüchliche Charakterisierung seiner Stellung in der internationalen Soziologie, ist dabei – wie zu zeigen sein wird – die Konsequenz seiner Suche nach einer genuin temporal angelegten Sozialtheorie.

Wer sich mit den Arbeiten Abbotts befasst, kommt nicht umhin, sich gleichzeitig damit auseinanderzusetzen, wie sich die Soziologie als Disziplin entwickelt hat. Das liegt zum einen daran, dass Abbott die Soziologie selbst als einen empirischen Untersuchungsgegenstand behandelt, dem er sich regelmäßig widmet, um nicht nur wissenschaftssoziologische, sondern auch sozialtheoretische Argumente voranzutreiben. Zum anderen ist Abbott über seine gesamte Forscherbiografie hinweg ein Suchender, wobei er immer wieder die Soziologie als Ausgangs- und Bezugspunkt nimmt. Dabei lassen sich mindestens drei Dimensionen dieser Vorgehensweise unterscheiden. Erstens, so ließe sich in lockerer Anlehnung an Marcel Proust formulieren (ohne dass Abbott diesen Bezug allerdings selbst herstellt), ist er auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Es geht ihm darum, die Temporalität des Sozialen als zentralen Aspekt sozialwissenschaftlicher Methodologie und soziologischer Theoriebildung zu verankern. Die Soziologie hat diesen Aspekt in den vergangenen Jahren – wie einleitend skizziert – zwar nicht komplett verloren. Sie hat ihn, mit einigen wenigen Ausnahmen, über die wir später noch sprechen werden, allerdings weitgehend vernachlässigt.

Zweitens zielt Abbott auf sozialtheoretische Anschlussfähigkeit ab. Er findet eine Disziplin vor, in der seine Argumente zunächst kaum Gehör finden, da sie für gewöhnlich auf Basis grundlegend divergierender Prämissen verfährt. Das macht die Aufgabe, ihn und einen Band mit Aufsätzen von ihm vorzustellen, nicht gerade leicht, hat man doch einen Autor zu präsentieren, der einerseits eine einflussreiche und auch mächtige Figur in der internationalen Soziologie ist, dessen Werk aber andererseits aufgrund seiner idiosynkratischen Positionen, seiner Begriffsbildung und seines Argumentationsstils durchaus immer wieder auf Rezeptionsschwierigkeiten und Irritationen gestoßen ist. Das gilt insbesondere für den deutschen Sprachraum, in dem Abbott – auch wenn es vereinzelte Übersetzungen gibt12 – im Unterschied zur wesentlich breiteren Rezeption in Frankreich oder Spanien eher eine unbekannte Figur geblieben ist.

Drittens schließlich ist, was zunächst überraschen mag, Abbott ständig damit beschäftigt, eigene Positionen zu revidieren. Er arbeitet fortlaufend daran, seine bisherigen Prämissen, Konzepte und Standpunkte zu überdenken, zu modifizieren oder auch fallen zu lassen, wie er selbst immer wieder sehr eindrücklich einräumt, vor allem in den Einleitungen zu seinen beiden Aufsatzbänden, Time Matters aus dem Jahr 2001 und Processual Sociology von 2016. Aus beiden Bänden stammen auch die hier vorgelegten Übersetzungen. Es handelt sich um Schlüsseltexte, die treffend abbilden, wie die Suchbewegungen nach der verlorenen Zeit (Abschnitte II und IV), nach sozialtheoretischer Anschlussfähigkeit (III) und nach der nächsten Revision eigener Standpunkte (V) letztlich zu einer Position führten, die Abbott in ein interessantes Verhältnis zu gegenwärtigen Debatten in der Soziologie (VI) setzt.

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