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1 Die Historizität von Individuen

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Wir sollten Individuen in der Geschichte wieder viel mehr zur Geltung bringen.1 Warum? Das möchte ich im Folgenden ausführen. Es geht mir dabei keinesfalls um die Rückkehr zur Geschichte der großen Männer, übrigens auch nicht zu einer der großen Frauen. Zwar kann die soziale Struktur einzelnen Individuen mitunter außergewöhnliche Macht verleihen, um die Zukunft zu gestalten, die entscheidende explanatorische Frage gilt aber nicht den Qualitäten oder den Taten jener Individuen, so spannend diese auch sein mögen. Erklärungsbedürftig sind vielmehr die Bedingungen, unter denen sich derartige soziale Strukturen herausbilden und festigen. Die eigentliche Frage ist beispielsweise nicht, warum sich Elizabeth Tudor gegen die Ehe entschied, sondern wie eine soziale Struktur zustande kam, in der ihre Weigerung, zu heiraten, so dauerhafte politische Folgen zeitigen konnte. So gesehen ist die Geschichte der großen Persönlichkeiten lediglich eine empirisch definierte Unterabteilung der Geschichte sozialer Strukturen im Allgemeinen. Sie handelt nicht wirklich von Individuen als Individuen oder auch nur von Individuen als einer Gruppe oder einem Typus, sondern von den Bedingungen, die besondere Individuen besonders wichtig machen. Ich möchte uns also auf keinen Fall eine Rückkehr zum Nachdenken über große Persönlichkeiten ans Herz legen.

Genauso wenig geht es mir darum, dass wir uns die »Lebenslaufperspektive« zu eigen machen, auch wenn einige meiner früheren Arbeiten über Karrieren dieser Perspektive zumindest in methodologischer Hinsicht ähneln. In den Lebenslaufansätzen suchen wir die Bedeutung von Ereignissen bekanntlich nicht, indem wir eine Anzahl von Fällen in den Blick nehmen, so wie wir das in der variablenbasierten Sozialwissenschaft tun. Wir schauen uns die Fälle vielmehr jeweils für sich an, um die Bedeutung dieses oder jenes Ereignisses in seinem Verhältnis zur Entfaltung der Erfahrung eines Individuums zu entdecken. Dabei macht es keinen Unterschied, ob wir einen narrativen Ansatz wählen und die »Geschichte« eines individuellen Lebens mit textuellen Methoden untersuchen oder ob wir uns für einen analytischen Ansatz entscheiden und mit Zeitreihenmethoden (oder einer Sequenzanalyse oder sonstigen formalen Mitteln) eine geordnete Sequenz der Werte einer Variablen über einen individuellen Lebensverlauf untersuchen. So oder so interessieren wir uns für die sequenzielle Entfaltung der Ergebnisse des Lebens einer Person.2

Die relativ starke Ausrichtung auf Ergebnisse schränkt den Lebenslaufansatz erheblich ein. Der soziale Prozess hat keine Ergebnisse. Er geht einfach immer weiter. Auch Individuen haben keine Ergebnisse, außer dem unabänderlichen, mit dem wir alle auf John Maynard Keynes’ lange Sicht rechnen müssen.3 So schafft die implizite analytische Ausrichtung der Lebenslaufstudien auf individuelle Ergebnisse gravierende Probleme, wie wir beobachten können, wenn wir uns den Begriff der Karriere anschauen – den zentralen Lebenslaufbegriff meines eigenen Sachgebiets, die Erforschung der Arbeit und der Berufe. In unserer Untersuchung beruflicher Werdegänge sehen wir das Individuum oft als eine Art letzte Tafel, auf der die Ergebnisse der sozialen Prozesse niedergeschrieben werden. Analytisch heißt das, dass die meisten Studien zu Karrieren eine Welt voraussetzen, in der große soziale Kräfte kleine Individuen herumschubsen, wobei sie fortlaufend Spuren in der Arbeitserfahrung der Individuen hinterlassen, die dann als das finale Explanandum begriffen wird. Wenn wir diese Voraussetzung in eine sachgerechtere Sprache übersetzen, könnten wir sagen, dass große exogene Veränderungen in Technologie, Arbeitsteilung, Märkten und rechtlichen Institutionen die fortlaufende Erfahrung arbeitender Individuen bestimmen, die somit in ihnen gefangen sind.

Aber die Individuen handeln natürlich, denn sie machen die Erfahrung der verschiedenen, eine Karriere konstituierenden Zwischenergebnisse, während ihre Karriere noch im Gange ist. Und diese Handlungen führen wiederum zu weiteren Ergebnissen dieser Erfahrungen. Ein Ausweg aus der impliziten analytischen Sackgasse der Lebenslaufanalyse besteht deshalb darin, dass wir uns auf diese weiteren Ergebnisse konzentrieren – die Interpretationen und Handlungen, die Arbeitnehmerinnen (üblicherweise kollektiv) auf die größeren sozialen Kräfte reagieren lassen, die sie unter Druck setzen. Es gibt natürlich einen Zweig der Forschungsliteratur, der genau das bereits macht: unsere traditionsreiche Untersuchung der sozialen Bewegungen, in deren Rahmen die Arbeitnehmer auf den Gestaltwandel des Kapitalismus reagieren. Diese Bewegungen sind genau jene sozialen Strukturen, die sich in der Arbeitnehmerschaft herausgebildet haben, um auf den individuellen Druck zu reagieren, der jede und jeder Einzelne von ihnen unterliegt – Druck durch die sozialen Strukturen der Kapitalisten, aber auch durch Aspekte der allgemeinen sozialen Struktur, die sich der Kontrolle der Kapitalisten entziehen – und die wir als das Zusammentreffen von Umständen bezeichnen können.

Wie die Forschung über die sozialen Bewegungen aber ignoriert auch die Forschungsliteratur zu Lebensläufen ein zentrales Faktum bezüglich der Individuen: die Historizität von Individuen, wie ich es nennen möchte. Ich behaupte, dass diese Historizität eine zentrale Kraft darstellt, die die meisten historischen Prozesse determiniert. Das heißt, ich werde zu zeigen versuchen, dass die schiere Masse an Erfahrung, die Individuen über die Zeit mit sich führen – und die wir uns im demografischen Sinn als gegenwärtigen Niederschlag der Erfahrung vergangener Kohorten vorstellen können –, eine immense soziale Kraft ist. Allzu leicht übersieht man diese gerne auch mal unsichtbare Kraft, eine Blindheit, der wir fast zwangsläufig zum Opfer fallen, wenn wir in historischen Perioden denken, was wir oft tun, sobald wir auf der Ebene von Gruppen arbeiten. Im Grunde verbietet die enorme Kontinuität von Individuen im Zeitfluss eine solche periodische Analyse, wie praktisch sie auch sein mag; die meisten Individuen, die in einer bestimmten Periode leben, lebten auch in der unmittelbar vorangegangenen. Kurzum, Individuen sind für die Geschichte von zentraler Bedeutung, weil sie der vorrangige Speicher historischer Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart sind. Das verstehe ich unter der Historizität von Individuen.

Ich möchte erst einmal noch etwas detaillierter ausführen, was ich unter Historizität verstehe. Zunächst einmal meine ich Kontinuität im Zeitablauf. Und ich behaupte, dass Individuen eine Kontinuität im Zeitverlauf in einem Maß besitzen, die sozialen Strukturen abgeht. Es muss uns klar sein, dass wir diese relative Dominanz der individuellen Kontinuität voraussetzen, wann immer wir die weit verbreitete Feststellung treffen, dass sich der soziale Wandel immer stärker beschleunigt. Diese Feststellung impliziert die Annahme, dass Individuen langlebiger sind als soziale Strukturen, denn nur dann müssen sie die Veränderungen Letzterer ertragen und können das Ausmaß von deren Wandlungsfähigkeit überhaupt wahrnehmen. In einer Welt, der man einen immer rascheren sozialen Wandel bescheinigen kann, muss die historische Kontinuität von Individuen jene Sehne bilden, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Es ist die Historizität von Individuen, die es uns ermöglicht – ja, die uns dazu zwingt –, vom sozialen Wandel zu wissen.

Nun impliziert die Überzeugung, dass sich der soziale Wandel immer mehr beschleunigt, auch die Auffassung, dass das Ungleichgewicht zwischen der Kontinuität des Individuums und jener der Sozialstruktur einmal geringer war als heute. Auch wenn manch einer es womöglich für axiomatisch halten mag, dass Individuen über größere zeitliche Kontinuität verfügen als soziale Strukturen, ist das tatsächliche Verhältnis zwischen individueller und sozialstruktureller Kontinuität wahrscheinlich eine empirische Frage, die zeitlich und örtlich variiert. Ich bin davon überzeugt, dass wir den Grad der historischen Kontinuität als eine empirische Variable denken sollten. Für eine anschauliche Darstellung jedoch werde ich meine Theorie etwas willkürlich in einem stilisierten Verständnis der zeitgenössischen Gesellschaft begründen. In diesem stilisierten Verständnis, so scheint mir, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass Individuen »langlebiger« sind als die meisten sozialen Strukturen.

Diese größere »Langlebigkeit« kann unterschiedliche Dinge betreffen. Auf den ersten Blick scheint es mindestens drei wesentliche Dimensionen einer solchen Historizität zu geben. Die erste von ihnen ist biologisch. Individuen haben Körper, die in einem gewissen Sinne über die Zeit physisch beständig sind. Obwohl sich die Zellen unserer Körper permanent erneuern, ist diese Erneuerung eindeutig ein zielgerichteterer Vorgang als etwa die Erneuerung einer formalen Organisation durch den schrittweisen Austausch ihrer Mitglieder. Körper führen Aufzeichnungen der Vergangenheit in ziemlich buchstäblicher Weise mit sich. Sie bewahren Krankheitsorganismen. Sie bewahren eine implizite Aufzeichnung ihrer vergangenen Ernährung. Sie bewahren die Spuren vergangenen Verhaltens – sei es beruflicher oder sportlicher Natur, seien es Spuren von Drogenmissbrauch oder ungeschütztem Sex. Ihre Immunsysteme bewahren eine Aufzeichnung über verschiedene Pathogene, die in der Vergangenheit auf sie eingewirkt oder nicht eingewirkt haben.

Nur wenige dieser Dinge werden von irgendeiner sozialen Struktur so genau festgehalten. Die Ehe ist vielleicht die soziale Struktur, die dem Individuum in diesem biologischen Sinn der Historizität am meisten ähnelt, da die verschiedenen Ehepraktiken – der Sexualität, der Hygiene, des Zusammenlebens, der Ernährung usw. – zweifellos zu einer Bündelung eines großen Teils dieser biologischen Erbmasse führen. In diesem wörtlichen Sinne werden Mann und Frau in der Tat zu einem Fleisch. Und wie jede andere dyadische soziale Struktur hängt auch die Ehe in ziemlich buchstäblicher Weise vom biologischen Leben der beiden beteiligten Individuen ab. Sie stirbt mit jedem der beiden, sodass auch sie somit langfristig immer tot ist. Ein wenig gleicht die Ehe also in ihrer biologischen Historizität den Individuen.

Über Beziehungen wie die Ehe hinaus weisen die meisten sozialen Strukturen nichts auf, was dieser physischen Kontinuität gleichen würde. Die Teilnehmerinnen ändern sich. Regeln und Praktiken unterliegen einem permanenten Wandel. Selbst die sozialen Strukturen, die mehr oder weniger um biologische Gemeinsamkeiten oder eine gemeinsame biologische Geschichte konstruiert werden – soziale Geschlechter, Verwandtschaftsstrukturen, Lobbyverbände für verschiedene Krankheiten usw. –, verfügen nicht über die relativ umfassende, aber nichtsdestotrotz gezielte biologische Kontinuität, die das Individuum auszeichnet.

Somit ist die Historizität des Individuums in ihrem ersten Sinne biologisch. Biologische Individuen führen eine gewaltige Menge an historischer Erfahrung mit sich, die einigermaßen buchstäblich in und auf ihren Körpern eingeschrieben ist. In ihrem zweiten Verständnis ist die Historizität von Individuen eine des Gedächtnisses. Sie entsteht mit der eigentümlichen Konzentration von Erinnerungen in biologischen Individuen. Damit meine ich nicht unbedingt, dass sich soziale Strukturen an nichts erinnern können. Ich habe kein Problem mit der Vorstellung, dass zum Beispiel meine Erinnerungen an vergangene Treffen der Social Science History Association (SSHA) ebenso sehr Erinnerungen der Organisation sind wie meine eigenen. Der Unterschied besteht freilich darin, dass die Erinnerungen individueller Menschen in einer Weise in ihrem biologischen Selbst konzentriert sind, wie das die Erinnerungen sozialer Strukturen nicht sind. Viele – vielleicht sogar die meisten – der weltweit bestehenden Erinnerungen an Andrew Abbott sind in meinem Kopf versammelt. Zwar existieren Hunderttausende solcher Erinnerungen andernorts – in den Köpfen meiner Lehrer, Klassenkameraden, Kolleginnen, Freunde, Studierende, Verwandte, Versicherungsvertreter und vielleicht sogar in dem der Kontrolleurin, die kürzlich meine Zugfahrkarte entwertete. Für die Sozialtheorie ist es entscheidend, sich daran zu erinnern, dass das Selbst in diesem Sinn über die gesamte soziale Landschaft verteilt und nicht absolut an einem einzigen biologischen Ort versammelt ist.

Trotzdem ist das individuelle Gedächtnis weniger durchlässig als die Gedächtnisse einer sozialen Struktur. Wie gerade gesagt, befindet sich ein beträchtlicher Teil der gesamten Masse von Erinnerungen mit Bezug auf Andrew Abbott in meinem Kopf. Die Erinnerungen sozialer Strukturen wie der SSHA hingegen sind einigermaßen gleichmäßig auf die Gehirne Tausender Mitglieder und ehemaliger Mitglieder und Leserinnen unserer Zeitschrift, von Mitarbeitern der Hotels, in denen wir unsere Jahresversammlungen abhalten, usw. verteilt. Es gibt nicht das eine Sensorium, in dem so etwas wie eine Mehrheit oder auch nur eine beträchtliche Zahl dieser Erinnerungen angesiedelt ist. Selbst unser Vorstandsvorsitzender verfügt nur über einen winzigen Bruchteil der gesamten Erinnerungen der Welt an die SSHA. Diese Verteilung des Gedächtnisses bedeutet nicht, um es zu wiederholen, dass die SSHA kein Gedächtnis hat. Ganz im Gegenteil. Wenn ein politisches Problem auftaucht, das organisatorische Präzedenzfälle berührt, gibt es ein sehr umfangreiches organisatorisches Gedächtnis – das sich manchmal wechselseitig stützt, manchmal aber auch widerspricht, mal klarer, mal schwächer, aber stets auf viele verschiedene Personen verteilt ist. Dieses Gedächtnis ist jedoch, obgleich umfangreich, ziemlich weit und relativ gleichmäßig verteilt. Erinnerungen von Individuen hingegen sind relativ stark konzentriert. Das vergrößert den Einfluss ihrer Kontinuität erheblich.

Man könnte nun anmerken, dass das Gedächtnis einer Organisation deshalb breit gestreut ist, weil es in diversen weit verstreuten Akten enthalten ist. Diese Akten bilden einen dritten Vektor der Historizität, denn ihr ganzer Zweck besteht in der wortwörtlichen Aufzeichnung – und damit der Historisierung – einer sozialen oder individuellen Entität. Anders als im Fall der biologischen und der erinnerungsbezogenen Historizität mag es schwierig sein zu behaupten, dass die aufgezeichnete Historizität von Individuen über die von sozialen Strukturen hinausgeht. Als Rechtswesen verfügen Personen jedoch ungefähr über dieselbe historische Dauer wie Unternehmen, die letzten Endes personae fictae sind. Es gibt somit ein rechtliches Wesen, das mich ausmacht, eine lockere Zusammensetzung aus Dokumenten, die meine Geburt, Hochzeit, Besitzverhältnisse und Verbindlichkeiten, vertraglichen Verpflichtungen, meinen Wehrdienst, meine Bonität, meine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten usw. verzeichnen. Dieses rechtliche Wesen entspricht annähernd dem rechtlichen Wesen eines Unternehmens, das in ähnlichen Dokumenten über seine Gründung, Fusionierung, sein Eigentum und seine Verbindlichkeiten, vertraglichen Verpflichtungen usw. festgehalten ist. Während Unternehmen somit eine rechtliche Historizität ähnlich der von Individuen aufweisen, kann die ihre jedoch in willkürlicher Weise beendet und begrenzt werden, was mit der rechtlichen Historizität einer Person nicht möglich ist. Somit geht selbst Unternehmen die rechtliche Historizität natürlicher Individuen ab, obwohl sie – wie alle wahrhaft sozialen Entitäten – Individuen zeitlich überdauern können.

Überdies sind soziale Strukturen in ihrer überwiegenden Mehrzahl keine Unternehmen oder auch nur formale Organisationen. Sie sind vielmehr so etwas wie Wohnviertel, Berufe, Lesezirkel, Kirchengemeinden, soziale Klassen, Ethnien, Technikgemeinden und Konsumgruppen: oft desorganisiert oder unorganisiert, aber trotzdem folgenreich als soziale Strukturen. Häufig verfügen sie über keine formalen Akten. Wenn sie es doch tun, dann sind dies häufig Akten sehr unterschiedlicher Art, die sich im Lauf der Zeit rasch ändern. Und selbst ihre nicht aufgezeichneten Erinnerungen sind über diverse Personen verstreut, die in vielfältigen Verhältnissen zu ihnen stehen. Nur die wenigsten Mitglieder dieser Gruppen stehen in mehr als minimaler Verbindung mit der gesamten Menge dieser Erinnerungen.

Solche sozialen Strukturen sind von recht durchlässiger Historizität. Ihr Riesenwirrwarr an Erinnerungen ist weder in einer Handvoll Personen noch in einem Rechtswesen verkörpert. Weil ihre Erinnerungen breit gestreut und ihre Akten oft dünn sind, können sich solche Strukturen schnell und leicht verändern. Es gibt wenig, was sie über die Zeit zusammenhält. Die Soziologie beispielsweise ist als Fach seit rund einem Jahrhundert so etwas wie eine soziale Realität. In diesem Zeitraum hat sie sich ziemlich schnell von einer progressiven und explizit religiösen Interessengemeinschaft aus Weltverbesserern, Reformerinnen und politischen Universitätsgelehrten in eine Gruppe hochprofessioneller Sozialwissenschaftlerinnen mit einem exklusiven Fachverband mit dem Ziel verwandelt, Lehrkräfte auszubilden. Dieser Wandel gründet vor allem in der Leichtigkeit, mit der das Fach seine Vergangenheit vergessen kann – eine Vergangenheit, die heute still und leise in den Köpfen emeritierter Kolleginnen und Kollegen erlischt.

In einer ersten Annäherung besteht Historizität also in biologischer, erinnerter und aufgezeichneter Kontinuität. Es gibt zumindest ein denkbares Argument dafür, dass die Gesamtmasse dieser Historizität von Individuen gegenwärtig größer ist als die aller sozialen Strukturen, von einer kleinen Handvoll abgesehen. Doch was folgt daraus? Die erste Konsequenz ist, dass »größere soziale Kräfte« das Individuum im sozialen Prozess nicht mehr überragen. Sie überragen einzelne Individuen, wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen. Sie überragen aber nicht die große Masse individueller Historizität. Denn während ein einzelnes Individuum leicht vom Tod ausgelöscht werden kann, gilt dies für die große Masse der Individuen nicht. Und diese Masse enthält zudem einen enormen Speicher an Kontinuität mit der Vergangenheit. Diese Kontinuität trotzt den »großen sozialen Kräften« unserer Argumentationen – der Entwicklung der Arbeitsteilung, dem technologischen Fortschritt, der Herausbildung des Kapitalismus – mit einem gewaltigen störrischen, recht spezifischen menschlichen Material, das erheblich einschränkt, was jene großen Kräfte tatsächlich bewirken können.

Diese Kontinuität bedeutet zum Beispiel, dass wir keine Geschichte von Perioden schreiben können, wie wir das für gewöhnlich mit der Geschichte einer Bevölkerung tun: das Jazz-Zeitalter, die Weltwirtschaftskrise, die 1960er, die Reagan-Jahre usw. Diese Vorgehensweise erweckt den Eindruck, als seien die historischen »Selbste« einer sozialen Struktur wie »Die Vereinigten Staaten von Amerika« eine Aufeinanderfolge von Schnappschüssen. Die meisten Menschen jedoch, die wir in aneinandergrenzenden Schnappschüssen dieser Sequenz sehen, sind natürlich dieselben. Von dem Bevölkerungsanteil, der die Tiefen der Depression als Arbeiter durchlebte – den Menschen, die 1930 mindestens 15 Jahre alt waren –, waren bereits 1920 rund drei Viertel mindestens 15 Jahre alt. Das heißt: Die meisten Menschen, die in der Weltwirtschaftskrise lebten und arbeiteten, hatten auch in der Jazz-Ära gelebt und gearbeitet. (Dieser Definition zufolge waren tatsächlich rund die Hälfte von ihnen bereits 1910 Arbeiter gewesen, obwohl natürlich nicht unbedingt in den Vereinigten Staaten.) Die Weltwirtschaftskrise betraf also im Wesentlichen Menschen, die Perioden echten Wohlstands erlebt hatten. Diese Tatsache ist offensichtlich, aber trotzdem wichtig, da die Erfahrung der Depression ohne sie nicht zu verstehen ist.

Mit zunehmendem Alter der Bevölkerung wird dieser Speicher von Erinnerungen tiefer und tiefer. Das Medianalter ist in den USA im Lauf des letzten Jahrhunderts von 23 auf 36 und die 75. Altersperzentile von etwa 39 auf 51 gestiegen. Die Implikationen für das soziale Gedächtnis sind enorm. 2003 waren 30 Jahre seit dem großen Wendepunkt von 1973 vergangen – dem Jahr, das das Ende des Vietnamkrieges, das Ende der Bretton-Woods-Vereinbarungen, die erste Ölkrise und die Watergate-Anhörungen brachte. Jedoch waren 43 Prozent der Bevölkerung von 2003 im Jahr 1973 mindestens zehn Jahre alt gewesen und konnten sich insofern an das vorangegangene Zeitalter erinnern, jene Zeit, die man in Frankreich als les trentes glorieuses bezeichnet, die 30 herrlichen Jahre von Wirtschaftswachstum und Egalitarismus nach dem Zweiten Weltkrieg. 30 Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg hingegen waren nur 24 Prozent der Lebenden bei Kriegsende bereits mindestens zehn Jahre alt gewesen. Somit ist der Erinnerungsspeicher nach 30 Jahren heute fast doppelt so groß. Folglich ist die historische Kontinuität geschlossener Gruppen wie der Bevölkerung in hohem Maße eine Funktion ihrer statistischen Zusammensetzung. Und der Grund, warum wir heute glauben, dass sich der soziale Wandel so sehr beschleunigt hat, liegt darin, dass mehr von uns länger leben und entsprechend mehr sozialen Wandel erfahren.

Das klingt trivial, weil es etwas ist, was wir alle wissen. Wir schreiben aber nicht so, als wüssten wir es. Das heißt, mein Argument über die Wichtigkeit der Historizität impliziert ebenfalls, dass es so etwas wie eine Bevölkerungsbefragung mit unabhängigen Wellen wirklich nicht geben kann. Alle in regelmäßigen Abständen wiederholten Befragungen sind in hohem Maße Befragungen impliziter Panel. Das war es, woran Paul Lazarsfeld dachte, als er behauptete, dass »die Leute bei derselben Wahl abstimmen, aber nicht alle über dieselbe«. Er meinte damit, dass viele Wählerinnen mit ihren jetzigen Stimmen auf politische Anliegen reagieren, die viel früher entstanden sind und die ihre Stimmabgabe schon in mehreren vergangenen Wahlen beeinflusst haben mögen. Es lohnt sich, seine Argumentation ausführlich zu zitieren:

»So bildeten sich etwa die Tendenzen, die bei den Wählerentscheidungen von 1948 zur Geltung kamen, nicht nur in der Zeit des New Deal und des Fair Deal heraus. Sie reichten vielmehr auch auf Loyalitäten zu Eltern und Großeltern zurück, auf religiöse und ethnische Spaltungen eines vergangenen Zeitalters sowie auf erkaltete regionale und kommunale Konflikte. In einem sehr realen Sinn ist somit jede Wahl eine Kombination aus verschiedenen Wahlen sowie verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen. Die Menschen stimmen an einem bestimmten Tag im November für einen Präsidenten, ihre Entscheidung treffen sie jedoch nicht nur auf der Grundlage dessen, was in den vorangegangenen Monaten oder sogar vier Jahren geschehen ist; 1948 stimmten einige Leute faktisch über die Internationalismus-Frage von 1940, die Folgen der Wirtschaftskrise von 1932 und manche sogar über das Zerwürfnis um die Sklaverei von 1860 ab.«4

Wir sollten bedenken, dass diese kompositorischen Implikationen nur unter der Voraussetzung eines vollkommenen Gedächtnisses geradlinig ausfallen werden. Dies wiederum legt nahe, dass wir uns ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen sollten, wann, wie und warum sich die Tiefe und Zuverlässigkeit dieser Art von Gedächtnis verändert. Die Wahlforschung hat sich in der Praxis nicht in diese Richtung entwickelt, diente sie doch überwiegend dem praktischen Zweck, bestimmten Kandidaten zur Wahl zu verhelfen, und konzentrierte sich deshalb auf eine bestimmte Folge der Historizität von Individuen: die Tatsache, dass nur ein relativ kleiner Teil der Wählerschaft seine Position von Wahl zu Wahl ändert. Diese »Wechselwähler« waren – aus pragmatischer Sicht – viel wichtiger als der enorm treue Durchschnittswähler und die Historizität, die seine Treue hervorbrachte.

Darüber hinaus sollten wir bedenken, dass der Einfluss dieses Gedächtnisses und dieser Kontinuität – dieser Historizität – sehr stark variieren kann, insbesondere im Zusammenhang mit Ereignissen, die in einem typischen Lebenslauf nur sehr selten stattfinden. Wahlen werden mit großer Regelmäßigkeit abgehalten, dementsprechend ist der Einfluss der Historizität – obwohl massiv – im Zeitverlauf relativ stetig. Bei Ereignissen, die nur selten im Leben geschehen, zeigt sich hingegen: Je später im Leben ein Ereignis üblicherweise eintritt, desto kürzer ist der Schatten, den es auf die Gesamtbevölkerung wirft. Die amerikanische Bevölkerung vergaß schnell, dass es einmal eine Welt ohne Medicare gegeben hat, weil sie 1964 nur zu neun Prozent in ihren mittleren Sechzigern war und somit einen Lebensabend ohne Medicare erlebt hatte. Diese wenigen verschwanden rasch, und so entwickelte sich Medicare schon sehr bald zu einem für selbstverständlich gehaltenen Leistungsanspruch. Die Wehrpflicht hingegen, die nur zehn Jahre später (1973) ausgesetzt wurde, hatten 30 Jahre später noch 28 Prozent der männlichen Bevölkerung Amerikas im Kopf, weil eine Einberufung junge Menschen betrifft, sodass 30 Jahre später 28 Prozent aller noch lebenden Männer irgendwann einmal von ihr betroffen waren. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht könnte mithin leichterfallen als eine Abschaffung von Medicare, weil mehr Menschen, die sich an ihre Einberufung erinnern, noch am Leben sind und folglich einen Präzedenzfall für sie sehen können. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel, dass sie sich ihr aber auch stärker widersetzen könnten, weil sie schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht haben. Die Richtung des Einflusses der Historizität steht nicht von vornherein fest. Fest steht lediglich, dass das Gedächtnis in jeder Diskussion über eine Wehrpflicht eine viel größere Rolle spielen wird als in einer Diskussion über Medicare.

Meine Beispiele der Wahlen und politischen Positionen betreffen das Gedächtnis von Individuen im buchstäblichen Sinne. Eine viel allgemeinere Form von Historizität liefert uns aber die erwerbstätige Bevölkerung. Es handelt sich dabei nicht um die deskriptive Historizität von Erinnerungen und Akten, sondern um eine allgemeine substanzielle Historizität wie die des Körpers.

Dafür ein Beispiel. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die im Zeitraum zwischen 2000 und 2005 in Rente gehen, sind nicht nur eine beliebige Gruppe von Menschen, die zufälligerweise gerade ihren Ruhestand antreten. Sie bringen vielmehr zum Moment der Rentenentscheidung ein ziemlich spezifisches historisches Gepäck mit. Einiges von diesem Gepäck kann abgelegt werden, beispielsweise ihr Ausbildungsniveau; es hat keine speziellen Folgen, dass sie im Durchschnitt deutlich weniger gut ausgebildet sind als die gegenwärtige Arbeitnehmerschaft. Manches von ihrem historischen Gepäck allerdings ist höchst folgenreich. So spielt es beispielsweise eine große Rolle, dass etwa die Hälfte der Arbeitnehmer in dieser Rentenkohorte Veteranen sind, denen eine Vielzahl spezieller Leistungen zusteht. Es spielt eine sehr große Rolle, dass zwar Tariflohn und Leistungsprämien in ihrem frühen Arbeitsleben auf einem Höhepunkt waren (ein Spitzenwert, von dem ältere Gewerkschaftsmitglieder zur damaligen Zeit hervorragend leben konnten), dann aber gerade zu dem Zeitpunkt in ihrer beruflichen Laufbahn rasch sanken, als sie Pensionsgelder hätten ansparen sollen. Die finanziellen und praktischen Ressourcen, die diese Kohorte in den Ruhestand mitbringt, sind somit entscheidend durch ihre historische Arbeitsbiografie geprägt; ihre Vergangenheit ist in Form mangelnder Rentenmittel, über die ihre Eltern an einem vergleichbaren Punkt in ihrem Leben verfügten, in ihre Gegenwart »eingeschrieben«. Und natürlich bedeuten medizinische Fortschritte, dass heutige Rentnerinnen damit rechnen können, ein volles Jahrzehnt länger im Ruhestand zu leben als ihre Eltern – mit den entsprechenden Kosten. Aufgrund dieser Einschreibungen des Vergangenen in die Gegenwart bieten diese 14 Millionen Menschen (das in den Ruhestand tretende Segment der 55- bis 64-jährigen Kohorte der amerikanischen Erwerbsbevölkerung, darunter rund 55 Prozent Männer) einen enormen Speicher an Kontinuität, an Prozess und Struktur unterhalb der sich wandelnden Oberflächen der Arbeitswelt der Vereinigten Staaten in den vergangenen 40 Jahren. Diese Kontinuität umfasst persönliche Erinnerungen, gemeinsame soziale und politische Erfahrungen und Einstellungen, gemeinsame Muster an materiellen Ressourcen und ein erhebliches Maß an gemeinsamen Erfahrungen als Arbeitnehmer.5

Diese Masse an persönlichen Attributen und Erfahrungen, die über die Zeit mitgeführt werden, lässt sich als eine vierte Art von Historizität denken, die ich als substanzielle bezeichnen werde. Ein bekanntes Konzept, das eine substanzielle Historizität verkörpert, ist jenes des Lebenseinkommens, das sporadisch als Gradmesser für Ungleichheit herangezogen worden ist. Wenn man es aber als Maß für Ungleichheit betrachtet, versteht man es schlicht als ein Ergebnis, das weiter keine Konsequenzen hat und das wir schlicht dazu verwenden, einen Lebenslauf im Vergleich mit einem anderen zu bewerten. So wichtig dieser Vergleich ist,6 gilt das prozessuale Interesse am Lebenseinkommen auch dessen eigenen weiteren kausalen Konsequenzen zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Lebensverlauf. Das heißt, wir sind am Lebenseinkommen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch aufgrund der Frage interessiert, was es an einem späteren Zeitpunkt schließlich ermöglicht oder verhindert – eine entspannte oder schwierige Pensionierung beispielsweise. Jeder derartige Aktivposten wird (wie jede Verbindlichkeit) über die Zeit mitgeführt und konfrontiert seinen Besitzer jederzeit mit einer Vielzahl von Möglichkeiten und Beschränkungen.

Auf eine ganze Kohorte bezogen, ist die Masse dieser substanziellen Historizität zu jeder Zeit ein zentraler Bestimmungsfaktor nicht nur der Erfahrung dieser Kohorte, sondern der der gesamten sie umgebenden Gesellschaft. So bedeutet zum Beispiel die substanzielle Historizität von Rentenkohorten, dass wir uns »die Rente« nicht in einem abstrakten Sinn vorstellen können, selbst wenn wir zugestehen, dass sich unsere Wahrnehmung von ihr über die von uns analysierten historischen Epochen verändert. Jede Kohorte bringt eine unterschiedliche Reihe von Aktivposten und Verbindlichkeiten aus der von ihr ebenso gemachten wie erlittenen Geschichte in den Ruhestand mit. Da überdies der Ruhestand zu jedem beliebigen Zeitpunkt mehrere Kohorten potenzieller Ruheständler einschließt, kann selbst ein Periodenansatz dem Umstand nicht gerecht werden, dass die diversen vom Ruhestand betroffenen Kohorten jederzeit eine systematisch verschiedenartige Reihe eingeschriebener Erfahrungen in ihn einbringen, eine Verschiedenartigkeit, die selbst die Rentenpolitik in diesem Moment bestimmen wird.

Was für den Moment der Verrentung zutrifft, gilt auch allgemeiner. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt kennzeichnen Ereignisse und sozialer Wandel die Erfahrung der verschiedenen Kohorten. Langfristige Trends, lokale Schwankungen, idiosynkratische Veränderungen: All dies kennzeichnet Kohorten unauslöschlich – mit charakteristischen Berufsbiografien, mit bestimmten Fähigkeiten und Erfahrungen, mit finanziellen Mitteln, mit beruflichen und beschäftigungsspezifischen Vorteilen und Nachteilen –, und all diese Kennzeichen werden durch die simple Historizität von Individuen in die Zukunft überführt.

Die Gesamtsumme dieser Kennzeichen, dieser eingeschriebenen historischen Erfahrung, stellt jederzeit eine Menge von Möglichkeiten und Einschränkungen dar, in deren Rahmen die verschiedenen Akteure in der Gegenwart handeln müssen. Einschneidende Ereignisse in dem betrachteten Zeitraum – die »größeren Kräfte« der meisten Modelle der Arbeitswelt – sind diesem System historischer Strukturen nicht äußerlich. Sie setzen sich selbst als Teil von ihm ins Werk. So können etwa Arbeitgeberinnen mit neuen technischen Konzeptionen oder bürokratischen Vorstellungen bestimmte Arten von hochqualifizierten Arbeitnehmern nicht einstellen, wenn es diese Arbeitnehmerinnen nicht gibt. Das heißt: Die eingeschriebene Historizität von Individuen zwingt die Arbeitgeber jederzeit dazu, mit ihren Einschränkungen zu leben. Sie werden womöglich kurzfristig mit nicht optimalen Arbeitskräften auskommen müssen. Und langfristig werden sie womöglich in unterschiedlicher Weise auf diese Einschränkungen reagieren müssen. Vielleicht müssen sie den Arbeitsprozess verändern, um das bestehende Angebot an Arbeit und Qualifikationen zu nutzen. Vielleicht müssen sie eine Arbeitsmigration erzwingen oder erleichtern oder ihre Produktion in neue Arbeitsmärkte verlegen. Vielleicht müssen sie Institutionen unterstützen, die Menschen in bestimmten Fähigkeiten ausbilden. Irgendwie aber müssen sie reagieren. Ihre Geschichte machen sie nicht ausschließlich selbst, genauso wenig wie sie sie allein durch ihre Auseinandersetzung mit den sozialen Bewegungen der arbeitenden Klassen machen. Die eingeschriebene Masse an Historizität ist faktisch ihre größte einzelne Beschränkung.7

Bis hier scheint meine Argumentation – um es mal ganz nüchtern zu formulieren – womöglich einfach darauf hinauszulaufen, dass die historische Demografie zu wichtig ist, um sie den Demografen zu überlassen. Ich möchte aber zumindest die Anfänge zweier weiterer Argumente andeuten, die damit verwandt sind, das eine im Sinne direkter Abstammung, das andere im Sinne einer ehelichen Verbindung, die mit einer gewaltigen und imposanten Mitgift einhergeht.

Der argumentative Sprössling zielt darauf, über die Reflexion der Historizität von Individuen hinauszugehen und über die Historizität von intermediären Gruppen nachzudenken. Ich habe im Zusammenhang mit Gruppen wie der gesamten Bevölkerung und der erwerbstätigen Bevölkerung von substanzieller Historizität gesprochen. Dies sind große, inklusive Gruppen, aus denen man im Allgemeinen auf eine relativ überschaubare und gleichbleibende Weise ausscheidet – durch Tod im ersten Fall und durch Pensionierung oder eine andere Form des Ausscheidens aus der Erwerbsbevölkerung im zweiten. Wenn wir meinen Begriff von Historizität jedoch im Zusammenhang etwa mit einzelnen Berufen ins Feld führen, begeben wir uns auf völliges Neuland. Sich die Historizität eines einzelnen Berufs im Lauf der Zeit vorzustellen ist offensichtlich der erste Schritt in jeder allgemeinen Theorie der Geschichte von Berufen, doch fällt dies extrem schwer. Eine solche Konzeption muss sämtliche Fäden individueller substanzieller Historizität umfassen, die durch die normalen demografischen Prozesse des Berufseinstieges, der internen Mobilität und des Berufsausstieges in den Beruf hineingewoben und aus ihm herausgetrennt werden. Gleichzeitig muss ein solches Konzept auch die eher traditionelle »Geschichte« der Berufe umfassen – die sukzessive Veränderung von beruflichen Tätigkeiten und Arbeitsorganisationen im Lauf der Zeit. Und sie muss die kontextuelle Geschichte der sich oft radikal verändernden Stellung eines Berufs im Rahmen der Arbeitsteilung umfassen, also jene ökologische Ebene, die im Mittelpunkt meiner ersten berufssoziologischen Arbeit stand.8Es ist diese Wiedereinführung der individuellen Historizität von Individuen in die Analyse von Berufen auf Makro- und auf ökologischer Ebene – Analysen, über die wir zum großen Teil bereits verfügen –, die mein argumentativer Sprössling unterstreicht.

Mein zweites verwandtes Argument – das »angeheiratete« – ist weniger leicht zu fassen. Es geht um Folgendes: Sobald wir den Begriff der Einschreibung (encoding) dazu genutzt haben, zu erkennen, wie große Mengen vergangener Geschichte in die Gegenwart gebracht werden – nämlich als Aktivposten und Verbindlichkeiten und Einschränkungen in der Gegenwart, die in Erscheinung treten, wenn wir uns der Historizität von massenhaften Individuen erinnern –, müssen wir im Anschluss einen weiteren Schritt machen, um zu sehen, wie sich die strukturelle Neuordnung im gegenwärtigen Moment vollzieht. Wir müssen also nachvollziehen, wie die Kodierung von einem Moment zum nächsten voranschreitet und dabei potenziell die gesamte soziale Struktur neu ordnet.

Hier verbirgt sich eine entscheidende Prämisse. Die Idee der Einschreibung ist deshalb so nützlich, weil sie uns aus der Falle der vermeintlichen Tatsache befreit, dass die Vergangenheit wirklich und wahrhaftig vergangen ist, der Tatsache, dass es aus der historischen Distanz keine Wirkung geben kann. Die Begriffe der Historizität und der Einschreibung befreien uns aus dieser Falle, indem sie uns daran erinnern, dass bestimmte Teile der Vergangenheit permanent (wieder) in die gegenwärtige synchrone Sozialstruktur eingeschrieben werden, in dem Sinne, dass sie dadurch Historizität erwerben – den Anschein zeitlicher Dauer. In dieser momenthaften Abfolge von Gegenwarten steht jedoch alles an der Sozialstruktur auf dem Spiel, und alles kann sich ändern – selbst die »großen Strukturen«. Gleichzeitig erzeugt etwas an dem Prozess und der Natur des Einschreibens die Illusion, dass es »große historische Strukturen« gibt, die sich irgendwie über lange Zeiträume erstrecken und die zusätzliche Illusion einer langen, beständigen Historizität bestimmter Arten von sozialen Strukturen erzeugen – etwa unserer alten Bekannten »moderner Kapitalismus« und »Produktionsverhältnisse«. Wir müssen ergründen, wie dieser illusionierende Prozess funktioniert. Zweifellos umfasst er nicht nur eine unmittelbare synchrone Determination »kausaler« Art, sondern auch eine begriffliche Umstrukturierung der Art, die man für gewöhnlich »kulturell« nennt. Das ist die Mitgift meines angeheirateten Arguments. Wenn wir erkennen, dass die Einschreibung mit einer synchronen Phase der Umgestaltung der Dinge verbunden ist, öffnen wir den Prozess des Einschreibens für die kognitive und, allgemeiner gesprochen, kulturelle Neustrukturierung.9

Zusammengefasst habe ich also ein Hauptargument und zwei Ableger. Das Hauptargument besagt, dass die historische Demografie in der Tat zu wichtig ist, um sie den Demografen zu überlassen, weil niemand von uns die Folgen der Historizität von Individuen ignorieren kann. Die beständigen Massen biologischer Individuen sind eine der größten »sozialen« Kräfte, die es gibt. Das erste daraus abgeleitete Argument besagt, dass es noch schwieriger wird, die Historizität ernst zu nehmen, wenn wir intermediäre soziale Gruppen wie Berufe, soziale Bewegungen usw. in den Blick nehmen. Der zweite argumentative Ableger besagt, dass es uns unweigerlich dazu bringen wird, sowohl über kulturelle als auch über verhaltensbezogene Determination zu reflektieren, wenn wir der Frage nachgehen, wie die Historizität von Individuen und sozialen Gruppen effektiv von Moment zu Moment eingeschrieben wird. Mit diesen drei Argumenten habe ich die theoretischen und empirischen Hauptlinien des prozessualen Ansatzes dargestellt.

1Diesen Text habe ich 2003 als Presidential Lecture vor der Social Science History Association vorgetragen. Er erschien anschließend mit kleineren Änderungen in Social Science History (29/1, S. 1–13) unter dem Titel »The Historicality of Individuals«. Ich habe ihn hier noch einmal leicht überarbeitet, ohne ihm jedoch seinen Charakter als mündlichem Vortrag zu nehmen.

2Eine Alternative zu einer solchen Sequenzialität untersuche ich in Abbott, »Lyrische Soziologie«, in diesem Band, S. 191–251. Eine umfangreichere Analyse der Idee des Ergebnisses findet sich in ders., »Idea of Outcome«.

3Anmerkung der Herausgeber: Abbott spielt hier auf John Maynard Keynes’ berühmten Ausspruch »In the long run, we’re all dead« an, mit dem dieser 1923 gegen den sogenannten Goldstandard polemisierte.

4Berelson/Lazarsfeld/McPhee, Voting, S. 315 f. Lazarsfelds eigene Sozialtheorien erörtere ich in Abbott, »Idea of Outcome«.

5Die Beispiele in diesem Absatz (und das Einschreibungsargument im Allgemeinen) habe ich wesentlich ausführlicher entwickelt in Abbott, »Sociology of Work«.

6Dafür argumentiere ich in Abbott, »Idea of Outcome«, sowie »Inequality as Process«.

7Vgl. Brint/Karabel, Diverted Dream, zu einer Diskussion der Veränderungen, die Community Colleges durch die Bedürfnisse von Arbeitgebern aufgezwungen werden.

8Vgl. Abbott, System of Professions. Das theoretische Argument dieses Absatzes wird näher ausgeführt in einem Aufsatz zur Theorie der Mobilität; vgl. ders., »Mobility«.

9Meine Argumentation ist damit etwas dynamischer als die Norman Ryders, dessen klassischer Aufsatz über Kohorten und sozialen Wandel vor allem den Einfluss kodierter Differenzen auf die Leben in Kohorten in den Mittelpunkt stellt (»zeitliche Differenzierung zwischen Kohorten in den verschiedenen Parametern, die dazu genutzt werden können, um diese aggregierten Geschichten zu charakterisieren«, Ryder, »Cohort as a Concept«, S. 861). Die strukturellen Konsequenzen, die Ryder in den Blick nimmt, sind grundsätzlich stabil oder statisch dynamisch: zum Beispiel der statische Konflikt zwischen Generationen oder eine einfache Artikulation des sozialen Wandels durch Kohortenfluktuation. Er sieht allerdings die dynamischeren Implikationen von Kohorten, die hier betont werden. Seine Bemerkung »obwohl der Stimulus zur Innovation höchstwahrscheinlich von den Arbeitgebern ausgeht, hängt die Machbarkeit neuer Richtungen zum Teil davon ab, wie gut sie vom Bildungssystem antizipiert worden sind« (ebd., S. 848) ist ein deutliches Indiz für die Würdigung der makrostrukturellen Implikationen vergangener Kohortenerfahrungen, verstanden als gegenwärtige historische Realität.

Zeit zählt

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