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c. Landesspezifische Rezeptionskonjunkturen

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Neben Abbotts radikalem Historismus und seiner Klub-Aversion spielen schließlich auch noch höchst unterschiedliche Temporalitäten eine Rolle, wenn man erklären will, warum sein Werk in manchen Ländern – zumindest in jüngster Zeit, wie in Frankreich – eine durchaus starke Rezeption erfahren hat, während sie sich beispielsweise in Deutschland noch immer in Grenzen hält. Man darf nicht vergessen, dass eine Rezeption des Symbolischen Interaktionismus in Deutschland vergleichsweise früh erfolgt ist, weil etwa Jürgen Habermas bereits in den späten 1960er Jahren mit seinem großen Literaturbericht zu den Sozialwissenschaften58 auf die damaligen Theorieentwicklungen in den USA aufmerksam machte und dann Soziologen wie Joachim Matthes mit diversen Publikationen und Übersetzungen59 Theorieimporte unternahmen – was den Eindruck erwecken konnte, dass alles Wesentliche, das aus dieser Richtung kommt, bereits zur Kenntnis genommen und abgearbeitet sei. In der Tat fällt es heute in der deutschsprachigen Soziologie schwer, eine klar konturierte Theorierichtung ausfindig zu machen, die sich Argumenten von Mead, Blumer und anderen verpflichtet fühlt.

Die Situation war demgegenüber in Frankreich eine ganz andere, führte man hier doch bis hinein in die späten 1990er Jahre die Debatte um den Strukturalismus und Poststrukturalismus60 und stellte sich in dieser Zeit dann auch die Dominanz des Werkes von Pierre Bourdieu ein. Es gab in dieser Phase kaum ein Bedürfnis, sich mit US-amerikanischen Theorien zu beschäftigen. Das begann sich fundamental erst mit dem Tod Bourdieus im Jahre 2002 zu ändern. Seither gibt es eine verstärkte – und im Vergleich zu Deutschland sehr späte – Rezeption der Ethnomethodologie und des Symbolischen Interaktionismus, was sich auch daran zeigt, dass in den sozialwissenschaftlichen Abteilungen der Buchläden seither französische Übersetzungen von Erving Goffman oder Howard S. Becker zu finden sind, die schon vor langer Zeit ins Deutsche übersetzt worden waren oder – weil wohl für die Nachfrage auf dem deutschen Buchmarkt zu spät erschienen – dann auch nie ins Deutsche übersetzt worden sind.

Die französische Rezeption der genannten US-amerikanischen Theorien hat dann auch zu einer Strömung geführt, die unter dem Namen »pragmatische Soziologie« firmiert und der sich u.a. Luc Boltanski und Laurent Thevénot, Bénédicte Zimmerman oder Danny Trom, Michel Callon oder Bruno Latour zurechnen – oder zugerechnet werden. So unterschiedlich sie im Einzelnen auch argumentieren mochten, waren sie sich doch darüber einig, dass man, erstens, zur Vermittlung zwischen der Situation der Handelnden und sozialen Strukturen zunächst einmal erstere detailliert analysieren müsse, dass es, zweitens, gelte, einen naiven soziologischen Objektivismus zu brechen (weshalb sie auch die Nähe zu Historikerinnen suchten), und dass man, drittens, weder die Kohärenz des Ich unterstellen noch die Fluidität von Machtbeziehungen ignorieren dürfe.61 Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich dieser Autorenkreis dafür zu interessieren begann, was Abbott konzeptuell anbietet. Es entstand ein Kontext, in dem ab Mitte der 2000er Jahre das Werk Abbotts in Frankreich zunehmend rezipiert wurde – wobei diese Rezeption sich mit zwei weiteren theoretischen Trends verknüpft. Seit den 1990er Jahren gibt es auch in der französischen Geschichtswissenschaft, hier vor allem in der Mikrohistorie,62 verstärkte Reflexionen auf das Verhältnis von Mikro und Makro und darüber dann auch auf Fragen von Kausalität und Kontingenz.63 Zusätzlich versuchen einige Politikwissenschaftler wie etwa Michel Dobry,64 herkömmliche Linearitätsannahmen und teleologische Unterstellungen, die sich in vielen sozialwissenschaftlichen Erklärungsdesigns finden, zu unterlaufen und theoretische Gegenentwürfe zu formulieren. Abbott gehört damit zwar noch immer keinem Klub an, ist aber auch nicht (mehr) allein auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit.

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