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b. Klub-Aversion

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Damals wie heute ist Abbott nicht bereit, sich klar irgendwelchen politischen oder theoretischen Traditionen zuzuordnen, sodass er noch stets Irritationen verursacht bei all denen, die ihn und seine Argumente zu vereinnahmen suchen. Er pflegt fast demonstrativ seinen Status als Solitär, für Klubs jeder Art ist er kaum zu haben. Wie er in einer autobiografischen Skizze über seine Zeit als Schüler und Student in den so bewegten 1960er Jahren erzählt, schwankte Abbott nicht nur zwischen diversen wissenschaftlichen Interessen, die sich auf die Literaturwissenschaft ebenso beziehen konnten wie auf die Biologie. Auch ein klares politisches Engagement wie im Fall vieler seiner gleichaltrigen und später berühmt werdenden Kolleginnen aus der Soziologie vermochte er nicht aufzubringen, zu skeptisch war sein Blick auf den Politikbetrieb, als dass er sich diesem umstandslos hätte hingeben können.45

Zur Leitfigur einer politisch engagierten Soziologie taugt Abbott somit denkbar schlecht – was in gleicher Weise für eine Verortung in einer bestimmten wissenschaftlichen Tradition gilt. Zwar hatte Morris Janowitz ihn in Chicago bei seiner Promotion begleitet,46 der mit der Theorierichtung des Symbolischen Interaktionismus und seinem soziologischen Gründungsvater Herbert Blumer eng verbunden war. Doch Abbott selbst hatte ein alles andere als unkritisches Verhältnis zu dieser Theorietradition, auch wenn er durchaus viele Gedanken daraus schöpfen und ihr gar eine Monografie widmen sollte47 – und ihr daher oft auch zugerechnet wird. Dabei ist aber Vorsicht geboten. Es ist zweifellos richtig, dass Abbott sich auf die klassische Chicago School of Sociology48 und auf den späteren Symbolischen Interaktionismus bezieht und dabei Konzepte wie »Ökologie« oder »Karriere« aufgreift.49 Aber Abbott überlegt sich bis heute sehr genau, was er für seine Theoriezwecke zu entlehnen bereit ist und was nicht.50

Eine dritte Klub-Aversion besteht schließlich darin, dass Abbott sich so mancher Grundsatzdebatte entzieht, obwohl sich seine Beteiligung gerade durch seine vertiefte Kenntnis der Chicago School of Sociology eigentlich angeboten hätte. So war ja die internationale Soziologie der 1970er und 1980er Jahre durch heftige Auseinandersetzungen zwischen System- und Handlungstheoretikern gekennzeichnet, in denen – aufseiten der Handlungstheoretiker – immer auch Vertreter mit Affinitäten zum Symbolischen Interaktionismus eine wichtige Rolle spielten. Dazu zählten etwa Hans Joas mit seinem Buch Die Kreativität des Handelns aus dem Jahre 1992 oder – im US-amerikanischen Kontext – Anselm Strauss mit seinem ein Jahr später erschienenen Continual Permutations of Action.51 Beide versuchten, ein reichhaltigeres und stimmigeres Handlungsmodell zu gewinnen, als es von so unterschiedlichen Theorietraditionen wie dem Parsons’schen Wertfunktionalismus oder Rational-Choice-Ansätzen angeboten wurde. Abbott freilich findet solche Debatten seit jeher nicht sonderlich interessant,52 nicht zuletzt weil ihm das Verhältnis von Stabilität und Prozess als eine zu lösende Theorieaufgabe der Sozialwissenschaften wichtiger ist als »nur« handlungstheoretische Probleme oder das Verhältnis von Handeln und Struktur.53

Abbott ist letztlich kaum zu fassen, sogar dort, wo man am ehesten Klubzugehörigkeiten vermuten dürfte: Obwohl er einer der wenigen Soziologen ist, die sich, belehrt durch literaturwissenschaftliche Debatten, frühzeitig mit der auch für die Soziologie unvermeidbaren Problematik von Narrativität vertraut gemacht hatten, weigert er sich beharrlich, sich Diskussionssträngen umstandslos anzuschließen, die das Terrain bereits durchziehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihm immer daran lag, die Eigenart und die Komplexität soziologischer Argumente zu wahren, was es notwendig machte, literaturwissenschaftliche oder historistische Positionen zu transzendieren. Dadurch gelang es, die dort tätigen Autorinnen stets aufs Neue zu provozieren, etwa mit seiner auf sich selbst bezogenen, in vielen Ohren nach einem Oxymoron klingenden Redeweise von einem »narrativen Positivismus«.54 Abbott plädiert damit für eine Rehabilitation der Erzählung und kritisiert das Denken in großen Struktur- und Prozesskategorien, wodurch er (kontingente) Ereignisse und ihre Folgen tatsächlich auch ernst nimmt, zumindest so ernst, dass er sie für wert erachtet, theoretisiert zu werden. Gleichzeitig will er nicht darauf verzichten, Ereignissequenzen zu formalisieren.55 Es sei gerade die Aufgabe der Sozialforscherin, durch präzise Begriffsarbeit festzustellen, was ein Ereignis und was eine Okkurrenz sei und dann darauf zu achten, ob sich nicht typische Ereignisfolgen zeigen, die sich eben in typischen Erzählungen wiedergeben lassen. Dazu könnten disziplinspezifische Wandlungsprozesse in der Wissenschaft,56 die Ausbreitung von Gerüchten ebenso wie die Diffusion von Innovationen zählen.57 Für all diejenigen, die sich in der damaligen Zeit – wie dies etwa in der qualitativen Sozialforschung der Fall war – Narrationskonzepten anzunähern begannen, war Abbotts provozierende Aufrufung des Positivismusbegriffs natürlich ein Affront. Viele Anhänger konnte er sich durch die Einnahme einer solchen Position sicherlich nicht erhoffen.

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