Читать книгу Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs - Страница 10
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ОглавлениеSie hatte versucht, es so lange wie möglich hinauszuzögern, doch allmählich waren ihr die Ausreden ausgegangen.
Verdammt, dachte Malin. Als hätte ich nichts Besseres zu tun. Der Sonntag war ihr erster freier Tag seit einer Woche und sie war auf dem Weg zum wöchentlichen Familienessen. Ausgerechnet heute war ihr Mini nicht angesprungen. Schlecht gelaunt hatte sie sich auf den Weg zur U-Bahn gemacht. Die hatte nun aufgrund einer Signalstörung fünfundzwanzig Minuten Verspätung. Und das, wo Malin sowieso schon zu spät dran war.
Kurz entschlossen verließ sie den Bahnsteig und steuerte den nächsten Taxistand an. Ein Wagen wartete bereits mit laufendem Motor auf Kundschaft. Knoblauchgestank drang ihr aus dem Wageninneren entgegen, trotzdem glitt sie auf die Ledersitze und nannte dem Fahrer die Adresse in Harvestehude. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.
Seit zwei Tagen traten sie bei den Ermittlungen auf der Stelle. Sie hatten alle Verwandten, Freunde und Nachbarn von Dr. Woy befragt, Alibis überprüft und Zeugen vernommen. Nichts. Niemand schien etwas zu wissen oder auch nur ansatzweise ein Tatmotiv zu haben. Allem Anschein nach war Dr. Woy ein angesehener und unbescholtener Bürger gewesen, den alle gemocht und geschätzt hatten. Und dennoch hatte ihn jemand ermordet.
Am Harvestehuder Weg bezahlte sie den Fahrer und blieb kurz am Straßenrand stehen, um die Aussicht zu genießen. Hinter gepflegten Parkanlagen und der langen Uferpromenade schimmerte die Außenalster und zeigte Hamburgs schönste Seite.
Malin wandte sich um und ging die paar Meter zur Auffahrt. Die weiße Jugendstilvilla mit dem parkähnlichen Garten befand sich seit Generationen im Familienbesitz. Malins Mutter war Constanze Heidenberg, Hauptgesellschafterin der Heidenberg-Bank, eines hanseatischen Privatunternehmens, das seit fast anderthalb Jahrhunderten existierte.
Malin versuchte, das beklemmende Gefühl abzuschütteln, das sie jedes Mal befiel, wenn sie vor dem Haus ihrer Kindheit stand. Sie atmete tief durch und wollte gerade klingeln, als die Tür von innen weit aufgerissen wurde. Gewöhnt an den Anblick eines Dienstmädchens, sah Malin überrascht in das sommersprossige Gesicht von Marie Heidenberg, der Frau ihres Cousins Maximilian.
»Hi, Malin – akademisches Viertel?« Marie lächelte.
»Bin ich die Letzte?«
»Nein, Max ist noch in der Bank. Wie immer.«
Sie traten in einen getäfelten und üppig bestuckten Raum, der von allen nur der Salon genannt wurde. Eine blonde, gertenschlanke Frau kam ihnen entgegen und schaute missbilligend auf die Uhr. Constanze Heidenberg trug einen dunkelblauen Hosenanzug, kombiniert mit einer weißen Bluse und einer einreihigen Perlenkette. Das honigblonde Haar hatte sie zu einem strengen Knoten gesteckt.
»Du bist zu spät.«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte Malin trocken.
»Nun gut, dann können wir ja endlich beginnen. Geht ihr schon mal ins Esszimmer, ich sage schnell der Köchin Bescheid.«
»Was ist mit dem Dienstmädchen passiert?«, flüsterte Malin Marie zu, nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte.
»Hat gekündigt.«
Sie grinsten sich an und betraten das Esszimmer, einen länglichen Raum mit blassgrünen Wänden und bis zum Boden eingelassenen Fenstern. Der sechs Meter lange Mahagonitisch war mit weißem Porzellan und Silberbesteck eingedeckt.
»Erzähl doch mal, wie steht es an der Verbrecherfront?«, fragte Marie neugierig, nachdem die drei Frauen am Esstisch Platz genommen hatten.
»Das ist wohl kaum das richtige Gesprächsthema beim Essen.« Constanze Heidenberg widmete sich ihrem Vorspeisenteller mit gedünsteter Seezunge.
Malin räusperte sich. »Im Moment ermittle ich in einem Mordfall. Ihr habt bestimmt schon in der Zeitung davon gelesen – ein bekannter Kinderarzt. Wurde im Wellingsbütteler Torhaus aufgehängt gefunden.«
Mit einem lauten Klirren ließ Constanze Heidenberg ihr Fischbesteck auf den Rand ihres Porzellantellers fallen. »Malin, ich verbitte mir jedes weiteres Wort darüber. Reicht es nicht, dass du der Bank den Rücken gekehrt hast? Müssen wir uns jetzt auch noch die Einzelheiten dieses – Berufes anhören?«
»Mutter, ich lasse mir hier nicht das Wort verbieten. Es tut mir leid, wenn ich deine Erwartungen nicht erfüllt habe, aber ich habe getan, was ich für richtig hielt. Und vielleicht würdest du es auch verstehen, wenn du nicht immer jedes Gespräch darüber verweigern würdest.«
Constanze Heidenbergs Blick wurde hart. »Du bist wie dein Vater, Malin. Auch er wollte weder unseren Familiennamen noch unsere Bank.«
»Lass Vater aus dem Spiel!« Malin hatte ihren Teller von sich geschoben und erhob sich von ihrem Stuhl.
Es herrschte betretenes Schweigen. Constanze Heidenberg war bei Malins Worten aschfahl geworden. Wortlos nahm sie ihr Besteck wieder zu Hand und fuhr mit dem Essen fort.
Marie schaute von der Mutter zur Tochter. »Ist es denn nicht möglich, dass ihr beide ein einziges Mal an einem Tisch sitzt, ohne euch gleich in die Haare zu kriegen? Malin, bitte setz dich wieder. Und du, Constanze, es hat doch keinen Sinn, immer wieder auf diesem Thema herumzureiten.« Maries Augen funkelten.
Zögernd setzte sich Malin. Nach einer Weile begann Constanze ein belangloses Gespräch über eine neue Kunstausstellung.
Froh, der angespannten Atmosphäre zu entkommen, verabschiedete sich Malin nach dem Dessert. Sie beschloss, zum Jungfernstieg zu gehen. Von dort aus konnte sie dann die U-Bahn nehmen. Nach wenigen Minuten hatte sie die Uferpromenade erreicht. Trotz des ungemütlichen Wetters kamen ihr zahlreiche Spaziergänger entgegen. Malin schaute zu einem Paar, das eng umschlungen auf einer der Parkbänke saß. Wehmütig wandte sie sich ab. Sie musste an Ben denken, den Mann, den sie drei Monate zuvor aus ihrem Leben geworfen hatte. Ben mit seinen strahlenden Augen und dem umwerfenden Lachen.
Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt. Malin hatte sich mit einem Cocktail durch die Menge gedrängt und war ins Stolpern geraten. Der gesamte Inhalt des Glases hatte sich über Bens hellen und, wie sie erst später erfuhr, nagelneuen Kaschmirpullover ergossen. Mit hochrotem Kopf hatte sie vor ihm gestanden und nur noch zusammenhanglose Worte gestammelt. Und dann hatte er gelacht – schallend gelacht, bis ihm die Tränen kamen. Seit dem Abend waren sie ein Paar gewesen und Malin hatte das Gefühl gehabt, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Bis er eines Tages von ihrer Freundin Suse in inniger Umarmung mit einer rassigen Schwarzhaarigen gesehen worden war.
Malin hatte ihn umgehend zur Rede gestellt. Er hatte noch nicht einmal versucht zu leugnen. Sie hatte die Beziehung noch am gleichen Abend beendet und am nächsten Morgen die Bewerbung für die ausgeschriebene Funktionsstelle bei der Mordkommission eingereicht.
Tief in Gedanken versunken erreichte Malin den Jungfernstieg am südlichen Ufer der Binnenalster.
Sie setzte sich auf eine der tribünenförmigen Treppen des Anlegers und beobachtete das An- und Ablegen der weiß-roten Alsterdampfer. Ein Mann setzte sich unterhalb ihres Platzes auf die Stufen und zog eine Zeitung aus der Tasche. Der Torhausmord dominierte noch immer die Schlagzeilen.
Augenblicklich begannen ihre Gedanken wieder um die Mordkulisse zu kreisen. Obwohl sie und ihr Opa Tag für Tag unermüdlich die Krimis in ihren Bücherregalen durchforstet hatten, hatten sie bisher keinen Treffer gelandet. An spektakulären Kulissen mangelte es nicht gerade – Opfer an Bäume gebunden, Tote an bekannten historischen Gebäuden, aber keines dieser Szenarien stimmte mit dem Torhausmord im Detail überein.
Malin schloss frustriert die Augen. Sie beschloss, nach Hause zu fahren und ihre Wohnung aufzuräumen, das würde sie auf andere Gedanken bringen.
Schon von Weitem konnte sie den sperrigen Gegenstand vor ihrer Haustür erkennen. Verdammt, sie hatte vergessen, Suse zurückzurufen! Malin griff nach der weißen Sporttasche, die ihre Freundin demonstrativ quer vor die Tür gestellt hatte, und beförderte sie über die Schwelle. Sie würde sich später darum kümmern. Jetzt war sie müde und erschöpft.
Obwohl die Mitarbeiter der Mordkommission im Allgemeinen geregelten Bürozeiten nachgingen, schienen diese seit dem Auffinden der Leiche außer Kraft zu sein. Malin hatte fast rund um die Uhr gearbeitet. Die Medien übten bereits jetzt starken Druck aus und jeder aus ihrem Team schien sich bewusst, dass dieser Mord alles andere als alltäglich war.
Als sie sich aus dem Kühlschrank einen Joghurt nahm, fiel ihr Blick auf die Küchenuhr. Es war bereits nach sieben. Sie beschloss, das Aufräumen zu verschieben und sich lieber etwas zu gönnen. Der Joghurt wanderte zurück in den Kühlschrank, stattdessen zog sie aus dem Brotkasten die letzten beiden Franzbrötchen, beschmierte sie dick mit Butter und machte es sich dann auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich. Sie zappte erst durchs Fernsehprogramm, verfolgte dann die Nachrichten und schaute anschließend beim Sonntagskrimi den Kommissaren bei der Arbeit zu. Teils amüsiert, teils verärgert über die klischeehafte Darstellung der Polizeiarbeit stellte sie den Fernseher vor Ende des Filmes ab.
Malin hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Freundin. Dass Suse die Tasche einfach so vor die Tür stellte, passte so gar nicht zu ihr.
Susanne Bremer, von allen stets Suse genannt, war Grundschullehrerin und Malins älteste Freundin. Sie waren gemeinsam in den Kindergarten gegangen, hatten die gleichen Schulen besucht und zusammen die schwierige Zeit der Pubertät durchlebt.
Malin fiel ein, dass sie Suses Nachricht auf dem Anrufbeantworter bisher nicht einmal komplett abgehört hatte. Sie griff nach dem Telefon, um das nachzuholen.
»Malin, ich bin es. Ich wollte dich nur erinnern, dass Tanja nächste Woche Geburtstag hat. Und du könntest bei Gelegenheit mal deine Sporttasche abholen, bevor die Sachen anfangen zu gammeln. Ach ja, ich habe die beiden Krimis, die du mir geliehen hast, mit reingepackt. Also, wenn du nicht willst, dass deine Bücher anfangen zu müffeln, hol die Tasche ab. Und ruf mich an wegen Tanjas Geschenk, ich will das morgen besorgen.«
Malin starrte auf das Telefon in ihrer Hand. Dann flog ihr Blick zur Sporttasche im Flur. In Sekundenschnelle kniete sie neben der Tasche und zerrte zwei Taschenbücher heraus. Auf beiden Buchumschlägen prangte der Name Charlotte Leonberger. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie das erste Buch durchblätterte. Es war nicht das richtige. Ungeduldig las sie die Zusammenfassung auf der Rückseite des anderen Buches. Das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein, bescherte ihr einen Adrenalinstoß nach dem anderen.
Dann fand sie es. Sie atmete tief durch und begann hochkonzentriert die entsprechenden Seiten durchzulesen. Als sie fertig war, legte sie das Buch beiseite. Sie hatte es ja gewusst!
Die Krimis der Autorin spielten in einer anderen norddeutschen Stadt, doch die Details stimmten überein. Die männliche Leiche, an allen vier Gliedmaßen gespannt in einem Torbogen, nur bekleidet mit einem weißen Stück Stoff. Der Tatort im Buch war ein Gutsanwesen, gebaut Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, und ebenfalls ein traditionsreiches Bauwerk.
Malin begann zu frösteln. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Entdeckung wirbelte ihre Gedanken durcheinander. Sie griff nach dem Telefon und hinterließ ihrem Großvater eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Anschließend wählte sie die Privatnummer von Hauptkommissar Fricke. Nach dem ersten Freizeichen überlegte sie es sich jedoch wieder anders und legte auf.
Schnell schlüpfte sie in ihre Regenjacke, klemmte sich das Buch unter den Arm und verließ das Haus. Susanne Bremer war vergessen.
Zwanzig Minuten später parkte Malin ihren Mini vor einem Reihenhaus in Niendorf. Es war weiß verputzt und hatte einen kleinen Vorgarten mit frisch gestutzter Grünfläche. Das Haus lag im Dunkeln.
Sie klingelte und es dauerte einige Minuten, bis Fricke im Bademantel die Tür öffnete. Die Haare standen wild von seinem Kopf ab, seine Augen waren klein und verquollen. »Brodersen, was wollen Sie denn hier? Ist etwas passiert?«
»Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich habe da eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht. Es geht um den Torhausmord. Hier, in diesem Buch wird der Mord beziehungsweise der Tatort exakt so beschrieben wie bei unserer Leiche.« Aufgeregt wedelte Malin mit dem Taschenbuch vor Frickes Gesicht herum.
»Und, steht auch drin, wer der Mörder ist? Dann können Sie ihn ja gleich verhaften.«
»Es geht da eher um die Zurschaustellung der Leiche. Die ist detailgetreu wie an unserem Tatort«, beteuerte Malin.
»Im Wellingsbüttler Torhaus?«
»Das nicht, aber …«
»Und deshalb wecken Sie mich mitten in der Nacht? Wegen eines Buches, in dem ein Mord geschieht, der gewisse Ähnlichkeiten mit unserem hat? Sie haben eindeutig zu viele Krimis gelesen.« Fricke hatte schon die Hand an der Tür.
»Aber vielleicht finden wir nach eingehender Analyse des Buches Hinweise auf den Täter«, beharrte Malin.
»Na, dann analysieren Sie mal und lassen mich schlafen.« Fricke schlug die Haustür zu.