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Ein schwerer, würziger Gestank schlug ihnen entgegen. Unwillkürlich atmete Malin durch den Mund. Der Raum war von oben bis unten komplett gekachelt. An der rechten Wandseite befanden sich zwei große Waschbecken und an der Stirnseite des Raumes ragten große Eisenhaken aus der Wand.

Der Anblick in der Raummitte traf sie mit körperlicher Wucht. Sekundenlang schloss Malin die Augen. Dann blinzelte sie und starrte erschüttert auf den großen Metalltisch. Ihr Blick verharrte bei den langen dunklen Haaren. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen. Wo sich die Augen hätten befinden sollen, war rohe Fleischmasse. Die Gliedmaßen schienen vollständig, doch der Körper war mit aufgeplatzten Wunden übersät. Die restliche Haut war feuerrot und verschrumpelt. Auf der Brust glänzte etwas Metallisches.

Malin stolperte zurück in den Gang, zog den Mundschutz herunter und übergab sich. Anschließend zog sie ein Taschentuch unter ihrem Schutzanzug hervor und wischte sich den Mund ab. Der säuerliche Gestank des Erbrochenen stieg ihr in die Nase und sie entledigte sich auch noch ihres restlichen Mageninhaltes.

In diesem Moment hörte sie lautes Fußgetrappel und einige Stimmen. Als Erstes kam ihr ein kräftiger Typ mit rötlichem Schnauzbart entgegen. Andresen. Malin stöhnte.

»Was ist denn das hier für eine Sauerei?«, zischte der Ermittler, als er beinahe ins Erbrochene trat. »War ja klar, Brodersen. Da wird sich die Spusi freuen.«

Kotzbrocken, dachte Malin nicht zum ersten Mal. Hinter Andresen folgte ein schmächtiger junger Bursche, in der Hand einen Alukoffer: Thorsten Sommer vom LKA 38, zuständig für den Fachbereich Fotografie. Sommer blieb einen Moment stehen und hantierte mit seinem Koffer herum. Dann betrat er mit der Kamera in der Hand den Tatort und begann mit seiner Arbeit.

Fricke stand neben dem Türrahmen und beobachtete die Techniker. »Frank, sind alle Temperaturen gemessen?«

»Nur noch die der Leiche.«

»Das mache ich«, ertönte hinter Malin eine energische Stimme.

Selbst im Schutzoverall gab Dr. Steinhofer eine elegante Erscheinung ab. Sie schob sich an Malin vorbei, nahm ihr Equipment aus der Arztasche und trat an den Metalltisch.

»Haben Sie eine Temperatur, Dr. Steinhofer?«

»Ja«, erwiderte die Rechtsmedizinerin knapp.

»Können wir dann endlich das gottverdammte Fenster öffnen?«, fragte Andresen. Sein Gesicht war deutlich blasser geworden.

»Ich lasse frische Luft rein«, erwiderte einer der Techniker.

»Kommen Sie, Brodersen, schauen Sie sich das an.« Fricke winkte sie heran.

»Mensch, Hans, könnt ihr nicht noch ein paar Minuten warten?« Frank Glaser blickte sie missmutig an, aber Fricke griff nach Malins Ellenbogen und zog sie neben die Rechtsmedizinerin an den Tisch.

Malin kämpfte mit aller Kraft gegen erneute Übelkeit und zwang sich, die Leiche zu betrachten. Die Tote hatte lange, schmale Gliedmaße. Hände und Füße waren mit Draht an den Metalltisch befestigt und die Haut wies tiefe Einschnitte auf.

»Woher stammen diese furchtbaren Verletzungen?« Malin zeigte auf eine der aufgeplatzten Wunden, die den ganzen Körper übersäten. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

»Das sind Verbrennungen«, erwiderte Dr. Steinhofer.

»Verbrennungen?« Fricke kratzte sich nachdenklich am Kinn.

»Es ginge schneller, wenn Sie mich meine Arbeit machen ließen, Herr Hauptkommissar«, entgegnete Dr. Steinhofer sichtlich genervt.

»Was trägt sie da um den Hals?«, flüsterte Malin Fricke zu und zeigte auf den Gegenstand, der an einer Schnur befestigt am Hals der Toten lag.

»Sieht aus wie eine Münze«, brummte Fricke.

Dr. Steinhofer seufzte. »Fünf Minuten. Geben Sie mir nur fünf Minuten, dann bin ich hier fürs Erste fertig. Schaffen Sie das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie mit der Untersuchung fort.

»Brodersen, wir müssen überprüfen, was das hier für ein Fabrikgelände ist«, sagte Fricke. »Und besorgen Sie die Aufnahme von dem anonymen Anruf.«

»Was für ein Anruf?«

»Heute Mittag ist über die Notrufzentrale ein anonymer Anruf eingegangen. Der Anrufer hat uns den Fundort der Leiche durchgegeben. Wir brauchen eine Stimmenanalyse, Hintergrundgeräusche und so weiter. Wir müssen … Ach verdammt, da fällt mir gerade was ein. Brodersen, ich bin in zwei Minuten wieder da.« Fricke verließ eilig den Raum.

Auch gut, dachte Malin und inspizierte ausgiebig die Umgebung. Glaser pinselte gerade die Waschbecken mit einem Puder aus Titanpulver ein. Malins Blick wanderte über die gekachelten Wände an die Decke. Dort ragten große Eisenhaken heraus. Wozu die wohl benutzt wurden? Ihr Blick glitt wieder zum Metalltisch, der außer der obligatorischen Tischplatte einen Grundboden hatte. Darunter befand sich ein Spalt.

Malin bückte sich. »Frank, kann ich mal deine Taschenlampe haben?«

»Du siehst doch, dass ich gerade nicht kann.«

»Wo ist denn die Taschenlampe?«

Verärgert wies Glaser mit dem Kopf in Richtung seines Spurensicherungskoffers. »Bring aber nichts durcheinander.«

Malin beugte sich über den geöffneten Alukoffer. Fein säuberlich geordnet befand sich dort eine Vielzahl in Schlaufen befestigter Instrumente, daneben verschiedene Flaschen, Tuben und diverse Objektträger. Mehrere Packungen mit Einweghandschuhen und durchsichtige Beweistüten waren dazwischengequetscht. Darunter lag die Taschenlampe.

Malin zog sie heraus und ging zurück zum Metalltisch. Sie leuchtete mit der Lampe in den Spalt unterhalb des Tisches. In dem Hohlraum befand sich ein Gegenstand. »Frank, komm mal, ich glaub ich hab da was.«

»Herrgott noch mal, Malin, wie oft soll ich dir noch sagen …«

»Ich weiß, du kannst gerade nicht. Schon gut, reg dich ab.« Malin streckte die Hand in den Hohlraum und stieß mit ihrer Fingerspitze gegen etwas Weiches. Dann streckte sie ihre Hand so weit vor, dass fast ihr gesamter Arm unter der Metallplatte verschwand. Sie zog eine braune Damenhandtasche hervor. Bingo.

Im Flur hallten Schritte und Sekunden später trat ein rotgesichtiger Fricke neben Malin. »Was haben Sie da?«

»Die lag unter dem Metalltisch, könnte die Handtasche der Toten sein.«

Fricke pfiff durch die Zähne. »Prima, Brodersen. Frank, hast du dir die Tasche schon angesehen?«

»Was für eine Tasche?«, fragte Glaser knapp, während er eine Objekttüte beschriftete.

»Na, die Tasche, die Brodersen hier gerade unter dem Metalltisch sichergestellt hat.«

»Ich hab doch gesagt, nichts anfassen. Kannst du mir denn nicht Bescheid sagen?« Wütend funkelte er Malin an.

»Hab ich doch, ich …«

»Kein Grund, sich an die Gurgel zu gehen«, warf Fricke ein. »Frank, mach weiter, wir kümmern uns darum.«

Glaser machte den Mund auf, schien es sich dann aber doch anders zu überlegen und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Fricke blinzelte Malin zu. »Worauf warten Sie? Machen Sie die Tasche schon auf.«

Vorsichtig zog Malin den Reißverschluss auf. »Eine Packung Zigaretten. Ein Feuerzeug. Und hier eine Brieftasche.« Sie hielt eine braune Geldbörse hoch.

Fricke nahm sie ihr aus der Hand. »Da ist ein Ausweis drin. Das ist doch endlich mal was Gutes. Viktoria Steiner, geboren am 26. September 1969«, las er vor. »Sie hatte gestern Geburtstag. Hübsche Person. Schauen Sie sich mal das Foto an.« Er reichte Malin den Ausweis.

Es verschlug ihr den Atem. Das schöne Gesicht mit den dunklen Augen würde sie so leicht nicht mehr vergessen.

Fricke räusperte sich. »Sie wollten mir doch vorhin noch etwas erzählen.«

Malin schlug sich mit der Hand an den Kopf. Das war ihr völlig entfallen. Kurz fasste sie zusammen, was ihr Gespräch mit Frau Larsen ergeben hatte.

Fricke runzelte die Stirn. »Könnte interessant sein, muss es aber nicht. Vielleicht hat sich dieser Stadtstreicher in der fraglichen Nacht überhaupt nicht im Park aufgehalten.«

»Und der Fußabdruck?«

Fricke überlegte. »Also gut, Brodersen. Bestellen Sie die Larsen noch mal ins Präsidium. Wir werden eine Phantom­zeichnung anfertigen lassen und stellen die dann in die interne Fahndung ein. Zufrieden?«

Dr. Steinhofer trat zu ihnen. Die Rechtsmedizinerin schob die Kapuze ihres Overalls herunter und ihr stufig geschnittenes blondes Haar wurde sichtbar. Unwillkürlich strich sich Malin über ihren eigenen zerzausten Pferdeschwanz. Unter dem Overall der Rechtsmedizinerin schimmerte ein pinkfarbener Hosenanzug, der farblich auf ihren Lippenstift abgestimmt zu sein schien.

»Dr. Steinhofer, das ist übrigens Malin Brodersen. Unser neues Teammitglied«, stellte Fricke sie vor.

»Freut mich.« Dr. Steinhofer nickte Malin kurz zu. Trotz ihrer Attraktivität hatte ihr Gesicht einen harten Zug und in ihren grauen Augen lag eine gewisse Kälte.

»Und? Können Sie schon was sagen?«, fragte Fricke.

Dr. Steinhofer zog die Augenbrauen hoch. »Warten Sie das Ergebnis der Obduktion ab. Sie wissen doch, wie das läuft.«

»Wann können wir denn mit einem vorläufigen Ergebnis rechnen?«

»Frühestens morgen Nachmittag.«

»So lange können wir nicht warten«, entgegnete Fricke entrüstet.

»Werden Sie wohl müssen. Ihre Leiche ist nicht das einzige Todesopfer in dieser verdammten Stadt. Allein am Wochenende habe ich zwei Drogentote und vier Opfer einer Schießerei reingekriegt. – Wenn Ihre Spurensicherung dann so weit ist, lasse ich die Leiche abtransportieren.« Sie drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort auf einen der Kriminaltechniker zu.

Frickes Gesichtsausdruck nahm eine verräterische rote Farbe an. »Dr. Steinhofer, schauen Sie sich doch bitte noch dieses Foto an.« Er schwenkte den Personalausweis von Viktoria Steiner.

Widerwillig kam Dr. Steinhofer zurück und nahm ihm den Ausweis aus der Hand. »Könnte sein – Größe, Alter und Haarfarbe stimmen überein. Aber schauen Sie sich die Leiche doch an, keiner wird sie eindeutig identifizieren können. Wir brauchen schon die Zahnarztunterlagen oder Röntgenbilder.« Ungerührt drehte sie sich wieder um und packte ihre Tasche.

Fricke zischte durch die Zähne und wandte sich dann an Malin. »Okay, Brodersen, wir machen Folgendes: Rufen Sie im Präsidium an. Die sollen den Namen von Viktoria Steiner durch den Computer jagen. Dann sehen Sie zu, dass Sie Bartels auftreiben, dem hatte ich eigentlich kurzfristig freigegeben, aber das hier hat jetzt Vorrang. Informieren Sie ihn über die Leiche und dann machen Sie sich zusammen auf den Weg zu der Adresse auf dem Personalausweis. Ach ja, und noch was, Brodersen: Ziehen Sie endlich den verdammten Overall aus.«

Malin schaute an sich herunter. Flecken von Erbrochenem zierten ihren Oberkörper. Sie wurde knallrot. »Okay, danke, Chef.«

»Brodersen, vergessen Sie eines nicht: Auch ich habe mal angefangen.« Seine blauen Augen sahen sie freundlich an.

Sie parkten vor einem mehrgeschossigen Altbau in der Mozart­straße und warteten auf den Schlüsseldienst.

Malin musterte ihren Kollegen. Frederick Bartels’ Gesicht wirkte abweisend. »Sag mal, Fred, was ist los? Hör zu, Fricke hat mich gebeten, mit dir zusammen hierherzufahren. Wenn du das lieber mit Andresen erledigt hättest, beschwer dich bei ihm.«

Bartels seufzte. »Malin, nicht alles dreht sich um dich.«

Sie zuckte zusammen.

»Es ist etwas Privates«, fügte er versöhnlich hinzu.

»Aha.«

»Meine Frau hat mich verlassen.«

»Ich wusste ja gar nicht, dass …« Malin wies auf seinen leeren Ringfinger.

»Dass ich verheiratet bin? Ich habe den Ring von Anfang an nicht getragen.«

»Und weshalb hat sie dich verlassen? Oder ist das jetzt zu indiskret?«

»Wegen so einem blöden Typen mit Makkaroni-Charme und Olivenölstimme. Das hat man nun davon, wenn man seine Frau alleine in den Urlaub schickt. Und weißt du, was das Beste an der ganzen Sache ist?«

Malin schüttelte den Kopf.

»Sie sagt, ich sei schuld. Weil ich sie immer alleine gelassen hätte. Sonst wäre sie ja auch gar nicht alleine in den Urlaub gefahren. Und weißt du was, Malin? Ich glaube, sie hat recht. Ich bin ein beschissener Ehemann.« Seine dunklen Augen glänzten verdächtig.

»Unser Beruf ist nun mal nicht besonders familienfreundlich. Lass dir nicht einreden, dass es deine Schuld ist. Dazu gehören immer noch zwei«, erwiderte sie leise.

»Danke. Du bist gar nicht so übel, weißt du das?« Der Anflug eines Lächelns überflog sein Gesicht.

Malin sah verlegen aus dem Fenster. »Du, ich glaube, da kommt der Schlüsseldienst. Lass uns gehen.«

Wenige Minuten später betraten sie die Wohnung von Viktoria Steiner.

»Hallo, ist hier jemand? Polizei!«, rief Malin in die Stille.

Keine Antwort.

Vom Flur gingen vier Türen ab. Die erste führte in ein weiß gekacheltes Badezimmer. Über dem Waschbecken befand sich ein großer Spiegelschrank, daneben zierte ein Regal mit diversen Flakons die Wand. Am Handtuchhalter hingen violette Handtücher. Die nächste Tür führte in die Küche. Auf dem Fensterbrett standen kleine Zinktöpfe mit verschiedenen Kräutern, und zu beiden Seiten des Fensters hingen duftige Gardinen. Die Küche wirkte sauber und aufgeräumt. Der nächste Raum ging von der anderen Flurseite ab. Es war ein großzügig geschnittenes Wohnzimmer, gemütlich eingerichtet. Das Dunkelrot der Sitzmöbel harmonierte mit den gebeizten Holzregalen und dem schmiedeeisernen Couchtisch. Unterhalb des Fensters stand ein großer Zeichentisch.

Malin streifte Latexhandschuhe über. Schnell und geschickt durchsuchte sie die Schubladen und Schränke. Auf einer Anrichte stand ein Hochzeitsbild in einem Silberrahmen. Sie nahm das Bild in die Hand und erkannte die Frau sofort wieder. »Frederick, schau doch mal.«

Bartels, der mittlerweile in den angrenzenden Raum gegangen war, streckte seinen Kopf durch die Tür. »Hast du was? Ich sehe mir gerade das Schlafzimmer etwas genauer an.«

»Ein Hochzeitsfoto. Ob die getrennt leben? Oder hast du irgendeinen Hinweis dafür gefunden, dass hier auch ein Mann wohnt?«

»Nein, aber vielleicht sind sie auch geschieden«, kommentierte Bartels trocken, bevor er wieder im Nebenraum verschwand.

In einem Fach der Anrichte entdeckte Malin ein Notizbuch. Lauter Telefonnummern und Adressen. Einige von Ärzten. Ein Eintrag war mit kleinen Blümchen versehen. »Frederick, ich habe ein Adressbuch gefunden!«

Bartels kam wieder aus dem Nachbarzimmer und nahm ihr das Buch aus der Hand. »Prima, dann können wir ja hier erst mal Schluss machen. Solange wir nicht wissen, ob die Tote hundertprozentig Viktoria Steiner ist, haben wir hier sowieso keine Handhabe. Fricke hat das erst mal auf seine Kappe genommen.«

Während Bartels das Wohnzimmer bereits verlassen hatte, sah Malin sich noch einmal um. An einem Bücherregal blieb ihr Blick hängen.

»Malin, komm endlich. Wenn die Tote wirklich Viktoria Steiner ist, wird hier noch jeder Zentimeter unter die Lupe genommen«, rief Bartels vom Flur aus.

Widerwillig riss Malin sich los.

Es wurde bereits dunkel, als Malin ihren Mini auf dem gesicherten Parkplatz des Polizeipräsidiums abstellte. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt. In der Damentoilette spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr blondes Haar war wie immer zum Pferdeschwanz gebunden. Sollte sie es mal anders schneiden lassen? Ihr Gesicht war ganz in Ordnung. Etwas blass vielleicht, aber das machten ihre großen grünen Augen wieder wett.

Unwillkürlich musste sie an die dunklen Augen von Viktoria Steiner denken. Ihre Gedanken wanderten weiter zu der entstellten Leiche. Malin schloss die Augen und spritzte sich eine weitere Ladung Wasser ins Gesicht. Sie bräuchte eine Pause.

Seufzend trocknete sie sich ab und ordnete mit ein paar geübten Handgriffen ihren Pferdeschwanz. Dann verließ sie den Waschraum.

Die Luft im Großraumbüro war abgestanden und stickig. Jemand hatte ein zweites Whiteboard aufgestellt und die Tatortfotos vom Fabrikgelände daran befestigt. Bei Malins Eintreffen war bereits das ganze Ermittlungsteam versammelt.

Fricke hatte sich zwischen den Whiteboards postiert. »Ich weiß, ihr seid alle müde und kaputt, trotzdem brauche ich eure volle Aufmerksamkeit. Nachdem wir jetzt noch einen weiteren Mordfall zu bearbeiten haben, müssen wir uns neu formieren. Wir holen uns noch ein paar Leute dazu, aber bis es so weit ist, müssen wir uns aufteilen. Ole, du und Sven, ihr kümmert euch bis auf Weiteres um den Torhausmord. Knöpft euch die Witwe noch mal vor. Geht auch die Befragungsprotokolle der ehemaligen Patienten und die Telefonlisten noch mal durch. Vielleicht wurde etwas übersehen. Und macht Druck beim Labor. Wir brauchen den toxikologischen Befund.«

»Alles klar, Hans.«

»Was ist mit dem Phantombild des Stadtstreichers?«, warf Malin ein.

»Das ist in Arbeit. Sie, Brodersen, bilden mit Bartels ein Team und kümmern sich ausschließlich – und das gilt vor allem für Sie, Brodersen – um die Tote vom Fabrikgelände. Ich will alles über das Gelände wissen. Und überprüfen Sie die Telefonnummern aus dem Notizbuch von Viktoria Steiner. Sehen Sie zu, dass Sie den Zahnarzt ausfindig machen. Wir brauchen eine Identifizierung. Ich muss euch wohl nicht erst sagen, dass wir der Presse vorerst keine Auskünfte erteilen. Wenn die Medien erst mal Wind von der Sache kriegen, werden sie wie Hyänen über uns herfallen. Ich muss später noch zur Pressestelle, da entscheiden wir, welche Informationen wir herausgeben. Gibt es sonst noch irgendwelche Fragen oder Vorschläge?«

Schweigen machte sich breit.

»Die Haken wurden vor Kurzem noch genutzt«, sagte Glaser in die Stille.

»Von welchen Haken redest du, Frank?«, fragte Fricke verwirrt.

»Natürlich von den Deckenhaken in der Fabrikhalle. Sie wurden vor Kurzem noch genutzt.« Der Kriminaltechniker erhob sich von seinem Platz und befestigte ein leeres Papier am Whiteboard. Dann malte er einen großen Haken darauf. »Ihr müsst euch das so vorstellen: Die Deckenhaken waren größtenteils dreckig und teilweise auch schon verrostet. Aber bei einigen war hier …« Er zeigte mit dem Finger auf den unteren Teil des Hakens. »… blankes Metall zu sehen. Das ist ein Indiz dafür, dass an dieser Stelle vor Kurzem noch etwas gehangen hat.«

»Kannst du dir vorstellen, was das gewesen sein könnte?«, fragte Fricke.

Der Kriminaltechniker zuckte nur mit den Achseln.

»Kennen wir schon die Todesursache?«, fragte Bartels. »Sven hat gesagt, dass die Tote wie ein Brathähnchen ausgesehen hat.«

Die anderen lachten.

Fricke schaute seine Mitarbeiter streng an. »Ich wüsste nicht, was es da zu lachen gibt. – Nein, Fred, bisher nicht. Dr. Steinhofer ist nicht gerade sehr kooperativ.«

»Was ist mit dem Amulett, das die Tote um den Hals getragen hat? Könnte es nicht zur Identifizierung der Toten beitragen?«, fragte Malin.

»Guter Einwand. Frank?« Fricke wandte sich an den Kriminaltechniker.

»Ist noch bei der Spurenauswertung. Ich kümmere mich gleich darum. Im Übrigen haben wir am Kellerfenster Spuren von Kleberesten gefunden. Sie scheinen jüngeren Datums zu sein. Vermutlich hat der Täter die Fenster abgeklebt, damit kein Licht nach draußen dringt. Die Partikel werden ebenfalls noch ausgewertet.«

»Gut. Sonst noch was?«

Andresen räusperte sich. »Eine Sache wäre da noch, Hans. Was ist mit der Team-Zusammenstellung? Ich hatte angenommen, dass Fred und ich …« Sven Andresen ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.

»Zu gegebener Zeit lasse ich euch meine Entscheidung wissen. Bis dahin bleibt alles so wie besprochen.« Frickes Stimme duldete keinen Widerspruch.

Andresen fuhr sich mit der Hand über seinen roten Schnäuzer, dann nickte er.

Der köstliche Duft von Bratkartoffeln mit Rührei zog durch die Küche des Lotsenhauses. Erich Brodersen hatte sich eine Küchenschürze umgebunden und schwenkte die Eisenpfanne ein letztes Mal. Dann füllte er zwei Teller, legte jeweils eine dicke Scheibe Katenschinken dazu und schnitt noch ein paar Gewürzgurken auf. Die größere Portion stellte er vor seine Enkelin auf den Tisch. »So, mein Mädchen, lass es dir schmecken.«

Malin strahlte ihn an und begann, das Essen in sich hineinzuschlingen. »Himmlisch, Opa, du machst wirklich das beste Bauernfrühstück der Welt«, schwärmte sie, nachdem sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte.

»Hast du was von deiner Mutter gehört?«

Malin verdrehte die Augen. »Ich war letzten Sonntag zum Essen da.«

»Die gute Constanze. Traditionen müssen gepflegt werden, egal was kommt.«

Beide grinsten sich an.

Dann wurde Erich Brodersen ernst. »Dein Vater hat mich angerufen.«

Malins versteifte sich. »Opa, bitte, ich habe damit abgeschlossen, mach es mir bitte nicht noch schwerer.«

»Wie du meinst. Ich mache mir Sorgen, Malin. Du bist so blass und dünn geworden. Und du kapselst dich ab. Ist es wegen Ben?« Er legte seine Hand auf ihren Arm.

»Mir geht es gut. Es sind nur diese beiden Morde.« Sie schob ihren Teller beiseite und erzählte, was sich in den letzten Tagen ereignet hatte.

Erich Brodersen legte sein Besteck auf den Teller und wischte sorgfältig seinen Mund mit der Serviette ab. »Was ist aus deiner Spur zu dieser Krimiautorin geworden? Hat sich da etwas ergeben?«

»Du meinst abgesehen von der Übereinstimmung der Tatortkulisse? Ich habe eine Verbindung zwischen dem Opfer und Charlotte Leonberger gefunden. Woys Witwe hat mir bestätigt, dass ihr Mann Ende der Siebziger der Kinderarzt von Charlotte Leonberger gewesen ist.«

»Was sagt dein Chef dazu? Wie hieß er doch gleich, Hauptkommissar Fricke?«

»Nichts«, erwiderte Malin knapp.

Erich Brodersen fixierte seine Enkeltochter. »Du hast es ihm gar nicht gesagt.«

Malin nickte. »Und das werde ich auch nicht tun, bevor ich nicht noch mehr Beweise vorlegen kann. Die Verbindung ist noch ein wenig dürftig. Charlotte Leonberger ist in Hamburg aufgewachsen. Woy war zu der Zeit ein anerkannter Kinderarzt. Es könnte Zufall sein. Außerdem halten die mich im Präsidium sowieso schon für durchgeknallt.«

»Gibt es eine Verbindung zu dem zweiten Mord?«

»Du meinst davon abgesehen, dass wir es innerhalb von einer knappen Woche mit zwei bestialischen Morden zu tun haben, die nicht ins übliche Raster passen? Nein. Es gibt keine Verbindung, zumindest keine offensichtliche.« Nachdenklich biss Malin auf ihrer Unterlippe herum. »Warum fragst du?«

»Sag mal, Malin, hast du eigentlich alle Krimis von Charlotte Leonberger gelesen?«

Verwundert schüttelte Malin den Kopf. »Nein, nur zwei. Und die habe ich geschenkt bekommen. Sie haben mir nicht sonderlich gefallen. Zu trivial. Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Vielleicht ist es nur ein Zufall, aber im zweiten Band wird auch eine Tote in einer Fabrik gefunden.«

Malin erstarrte. »Was sagst du da? Oh mein Gott, dass wäre ja … Hast du das Buch?«

»Warte, ich hole es dir.« Erich Brodersen erhob sich und verließ die Küche, kam mit einem Taschenbuch in der Hand zurück und blätterte darin herum.

Unter der gebräunten Haut wurde er blass. Wortlos hielt er seiner Enkelin das Buch hin und deutete auf eine Stelle des Textes.

Die fünfte Jahreszeit

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