Читать книгу Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs - Страница 14
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ОглавлениеEs war ein scheußlicher Tag. Kalter Nieselregen tröpfelte schon seit Stunden aus den dicken Wolken, die schwer und bedrohlich am dunkelgrauen Himmel über der Stadt hingen.
Charlotte Leonberger stand in der fünfzehnten Etage eines modernen Gebäudekomplexes am Brooktorkai und schaute missmutig aus dem Fenster auf die Giebel der Speicherstadt. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingerspitzen gegen die Scheibe, während die Regentropfen an der Außenseite unablässig in Rinnsalen hinunterliefen. Sie wartete bereits fünfzehn Minuten.
Sie entschied sich gerade zu gehen, als die Tür zum Büro schwungvoll aufgerissen wurde.
Simon Thompson, erfolgsverwöhnter Literaturagent und Miteigentümer der renommierten Medienagentur Thompson & Leith, betrat mit einem strahlenden Lächeln sein Büro. Er war ein großer Mann, Ende vierzig, mit dunklem, glänzendem Haar und dem Aussehen eines Filmstars. Unter einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug trug er ein cremefarbenes Hemd mit passender Krawatte und die auf Hochglanz polierten Schuhe rundeten seine elegante Erscheinung perfekt ab.
»Meine liebe Charlotte, bitte entschuldige, dass du so lange warten musstest. Bitte nimm doch Platz.« Ganz Gentleman, ging er auf einen Chromstuhl zu, um ihn ein wenig abzurücken, und setzte sich dann selbst auf einen schwarzen Lederdrehstuhl hinter seinem Schreibtisch.
»Deinen Charme kannst du woanders versprühen. Sag mir lieber, warum du mich so lange warten lässt.« Charlotte machte keinerlei Anstalten, sich zu setzen.
»Du wirst sehen, es hat sich gelohnt. Schau selbst.« Er reichte Charlotte eine Mappe.
»Was soll das? Warum musste ich extra aus Kiel herkommen?«, fragte sie mit säuerlicher Miene.
»Schau rein«, forderte er sie auf.
»Sag du es mir.«
»Okay, dann mache ich es kurz. Wir haben von den Amerikanern ein Angebot für die Filmrechte deiner Krimireihe bekommen. Ein fantastisches Angebot sogar.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Eine Million Dollar. Was sagst du dazu?«
»Nein«, antwortete Charlotte knapp.
»Wie, nein?«
»Ich möchte nicht, dass meine Bücher von den Amerikanern verfilmt werden.«
« Ich bin sicher, dass der Preis noch verhandelbar ist, wenn es das sein sollte, was dich stört.« Thompson streckte seine langen Beine aus und strich nervös über seine Krawatte.
»Simon, darum geht es nicht. Mir gefällt einfach diese ganze Kommerzkiste der Amis nicht. Die werden meine ganzen Geschichten verzerren. Wenn ich überhaupt irgendwelchen Verfilmungen meiner Bücher zustimme, dann will ich ein Mitspracherecht bei den Schauspielern und den Drehorten. Glaubst du vielleicht, dass die Amis hier in Deutschland drehen würden?«
»Tja, ich weiß nicht, aber Babelsberg ist im Kommen. Auch bei den Amerikanern. Einen Versuch wäre es wert. Solange du nicht auch noch das Drehbuch absegnen willst.«
Charlotte sah ihn eindringlich an.
»Du willst Mitspracherecht bei den Drehbüchern?«, fragte er ungläubig.
»Entweder so oder gar nicht. Sieh zu, Simon, du bist mein Agent. Jetzt kannst du endlich mal zeigen, wie gut du wirklich bist.« Charlotte griff nach ihrem Trenchcoat. Sie winkte dem verblüfften Literaturagenten noch einmal kurz zu und verließ dann zufrieden lächelnd das Büro.
Sollte er doch mal was tun für sein Geld. Filmrechte an die Amis, nicht schlecht, Charlotte, lobte sie sich im Stillen. Vor sich hin summend trat sie in den Empfangsbereich. Eingesunken auf einer riesigen Ledercouch saß eine kleine, rundliche Gestalt, die sich bei ihrem Anblick sofort erhob.
»Komm, Alma, wir haben etwas zu feiern. Wir gehen jetzt shoppen und kleiden uns von oben bis unten neu ein.« Übermütig umarmte Charlotte ihre Tante und drehte sich mit ihr im Kreis.
»Was ist denn mit dir los, Kindchen? Auf einmal so gute Laune?«
»Ach, Alma, es ist doch ein herrlicher Tag heute.« Charlotte lächelte sie liebevoll an.
»Na, ich weiß nicht«, antwortete Alma mit einem skeptischen Blick durchs Fenster.
Sie schlenderten den Neuen Wall entlang und sahen sich die aktuelle Winterkollektion in den Geschäften der internationalen Designer an. Der Nieselregen war in einen kräftigen Schauer übergegangen, was Charlotte als Veranlassung sah, bei einem französischen Nobelausstatter einen pinkfarbenen Regenschirm für einen astronomisch hohen Preis zu erstehen. Die passende Handtasche für den Gegenwert eines ausländischen Kleinwagens kaufte sie gleich dazu.
Untergehakt, mit einem halben Dutzend Tüten bepackt, gingen sie vergnügt unter dem neuen Schirm Richtung Rathausmarkt. Bei den Alsterarkaden blieben sie kurz stehen, lauschten einem Geigenspieler und beobachteten die Schwäne. Dem Wetter zum Trotz suchten sich rund um das Areal des Rathauses eine Heerschar von Touristen, Geschäftsleuten und zahlreichen Einkaufswütigen, ebenfalls gut beschirmt, ihren Weg.
Charlotte und Alma überquerten den großen Platz und bewunderten die prächtige Fassade des Rathauses. Wie immer, wenn Charlotte vor dem Regierungsgebäude stand, wanderten ihre Gedanken zu ihrem Vater. Viktor Leonberger war Mitte der achtziger Jahre Senatsmitglied der Hamburger Landesregierung gewesen.
Charlotte schaute Alma an. Ihre Tante schien ebenfalls an ihren verstorbenen Bruder zu denken.
»Café Paris?«, fragte Charlotte aufmunternd, um keine Schwermut aufkommen zu lassen.
Alma sah sie mit ihren dunklen Knopfaugen traurig an. Dann überzog ein verschmitztes Lächeln das runzelige Gesicht. »Café Paris«, bestätigte sie.
Sie schlenderten zur Rathausstraße, und sobald sie das Café betraten, tauchten sie in eine Welt längst vergessener Zeiten. Die gekachelten Wände und Decken des 1882 gebauten Hauses waren ein Jugendstiltraum mit Ornamenten und Gemälden.
Charlotte und Alma steuerten einen der wenigen freien Tische an. Alma ließ sich erschöpft auf die dunkelgrüne Lederbank fallen, und griff nach der Karte. Obwohl es fast mittags war, bestellten beide das französische Frühstück. Charlotte organisierte sich eine Ausgabe der Hamburger Tageszeitung, die kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, und blätterte rasch die Seiten durch. Währenddessen bewunderte Alma das bunte Seidentuch, dass Charlotte ihr spendiert hatte.
»Leg es um«, forderte Charlotte ihre Tante auf, nachdem sie die Zeitung beiseite gelegt hatte.
»Hier?«
»Wo denn sonst, wenn nicht hier? Kannst du nicht das Pariser Flair spüren, das uns hier umgibt?« Sie lächelte Alma aufmunternd zu.
Die legte das Seidentuch andächtig um ihren Hals. »Es ist wunderschön. Vielen Dank, Charlotte.«
Sie lächelten sich an.
Eine Kellnerin brachte das Frühstück und stellte die vielen Teller auf den kleinen Tisch. »Darf ich die mitnehmen?«, fragte sie höflich und wies dabei auf die Zeitung.
»Gerne«, erwiderte Charlotte und tunkte ein Croissant in ihren Kaffee.
»Moment, warten Sie!« Alma Leonberger langte nach der Zeitung und starrte auf einen Artikel. Die Kellnerin entfernte sich diskret. »Das ist Richard Woy!« Alma zeigte auf ein Foto.
»Das Opfer vom Torhausmord? Die Polizei scheint noch keine Erfolge erzielt zu haben, die Artikel werden immer spärlicher.« Charlotte fixierte die blasse Miene ihrer Tante und fragte dann überrascht: »Du kennst seinen Nachnamen? Alma, kennst du diesen Mann?« Sie legte das restliche Croissant zurück auf den Teller.
»Du kennst ihn auch. Das ist Dr. Richard Woy. Charlotte, er war dein Kinderarzt.«
Charlottes Puls beschleunigte sich. Die Anrufe, der nachgestellte Tatort und ihr Kinderarzt – das waren eindeutig zu viele Zufälle.
Die Tote vom Fabrikgelände war anhand des Zahnschemas als Viktoria Steiner identifiziert worden.
Von den Eltern der Toten hatten sie eine Liste mit Namen von Verwandten und Freunden ihrer Tochter erhalten. Es würde Tage dauern, alle zu überprüfen. Malin entfuhr ein Stöhnen.
»Fricke meint, wir sollen bei Elisabeth Völkers anfangen«, sagte Bartels. »Die beiden haben am Mordabend zusammen Geburtstag gefeiert.« Der Ermittler hatte tiefe Schatten unter den Augen und einen Dreitagebart am Kinn.
»Gut. Weiß man schon etwas von ihrem Mann?«
»Der ist vor acht Monaten ums Leben gekommen«, entgegnete Bartels. »Verkehrsunfall.«
»Furchtbar.« Malin hielt für einen Moment inne. »Sollten wir nicht noch mal in die Wohnung fahren?«
Bartels schüttelte den Kopf. »Da ist gerade die Spusi drin. Kannst du dich schon mal um die Adresse der Völkers kümmern? Ich muss noch mal kurz telefonieren.« Er griff nach dem Hörer.
Die Kontaktdaten von Elisabeth Völkers standen gleich auf der ersten Seite der Liste. Malin notierte sich die Anschrift und beobachtete, wie die Gesichtsfarbe ihres Kollegen von blass ins Rötliche wechselte. Seine Hand umkrampfte den Telefonhörer. Plötzlich legte er auf und blieb einige Sekunden regungslos sitzen.
»Fred, alles klar?«
»Malin, ich muss weg.«
»Und was wird dann aus der Völkers?«
»Frag Andresen, ob der Zeit hat. Ich muss los.« Er schnappte sich Jacke und Autoschlüssel.
»Aber Andresen ist doch für den Torhausmord eingeteilt!«, rief sie ihm hinterher. Doch Bartels war bereits verschwunden.
Und nun? Andresen kommt schon mal gar nicht in Frage, dachte Malin. Halbherzig wählte sie die Handynummer von Ole Tiedemann. Nach dem zweiten Klingeln legte Malin wieder auf. Anschließend wählte sie die Nummer von Elisabeth Völkers. Niemand nahm ab. Dann eben nicht, dachte sie und verließ den Raum.
Vor Frickes geschlossener Bürotür blieb sie einen Moment stehen. Sie hätte ihren Vorgesetzten schon längst darüber informieren müssen, dass auch der zweite Tatort Ähnlichkeiten mit einem Leonberger-Krimi aufwies. Doch würden die Übereinstimmungen ausreichen, um Fricke davon zu überzeugen, dass zwischen den beiden Morden ein Zusammenhang bestand?
Ihr nächtlicher Besuch bei ihm kam ihr in den Sinn. Damit war die Entscheidung gefallen.
Dieses Mal würde sie die Sache richtig angehen.
Zwanzig Minuten später betrat Malin den Altbau in der Mozartstraße. Die Haustür zu Viktoria Steiners Wohnung war nur angelehnt. Sie streifte sich Füßlinge und Handschuhe über.
Ein Mitarbeiter der Spurensicherung kam ihr im Flur entgegen und lächelte ihr unter der Kapuze seines Overalls freundlich zu. »Der Chef ist im Wohnzimmer.«
Dort standen Schranktüren offen, Sofakissen lagen auf dem Boden und Schubladen waren aufgerissen. Der Leiter der Spurensicherung hob gerade mit einer Pinzette etwas vom Boden auf. Er hielt es ins Licht und steckte es anschließend in eine durchsichtige Spurensicherungstüte. »Was willst du denn hier?«, fragte er mürrisch.
»Ich will mir ein persönliches Bild von der Toten machen. Hast du irgendein Problem damit?«
»Schon gut, man wird ja noch mal fragen dürfen.«
»Kannst du mir vielleicht schon irgendetwas sagen?«, fragte Malin eine Spur versöhnlicher.
Glaser legte die Pinzette beiseite. »Wir müssen die Spuren natürlich noch auswerten, aber ich glaube nicht, dass der Mörder sein Opfer hier in der Wohnung überwältigt hat. Es deutet nichts auf einen Kampf.«
»Ist es in Ordnung, wenn ich mich ein wenig umschaue?«
Der Kriminaltechniker hob die Augenbrauen und sie befürchtete schon eine seiner Ermahnungen, als sein zusammengekniffener Mund sich zu einem Grinsen verzog. »Ich hab gehört, du hast mit Andresen nicht gerade einen neuen Freund gefunden?«
Malin nickte überrascht.
»Gut. Wird Zeit, dass unserem aufgeblasenen Kollegen mal jemand die Stirn bietet.«
»Also, hab ich dein Okay?«
»Tu, was du nicht lassen kannst.«
Unverzüglich ging sie zum Bücherregal. Mit ihrer behandschuhten Hand fuhr sie langsam die Bücherreihen entlang.
Dort standen sie – alle vier Bände von Charlotte Leonberger. Sie zog einen aus dem Regal und schlug die erste Seite auf. Malin überlief ein eiskalter Schauer. Sie legte das Buch beiseite und nahm das nächste zur Hand. Mit zittrigen Händen schlug sie auch dort die erste Seite auf. Wieder.
Sie sah einen Band nach dem nächsten durch, dann benötigte sie einige Minuten, um die Entdeckung zu verdauen.