Читать книгу Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs - Страница 6

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Harry öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit.

Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Er hatte ein pelziges Gefühl auf der Zunge und griff nach der Bierdose, die er wenige Stunden zuvor unter die Parkbank gestellt hatte. Sie war leer. Mit einem Seufzen ließ er sich wieder auf sein Nachtlager zurückfallen. Er lauschte einen Augenblick in die Dunkelheit, doch alles schien still. Harry zog den dünnen Schlafsack fester um seinen zitternden Körper und versuchte, zurück in den Schlaf zu finden. Dann hörte er es wieder.

Er fuhr hoch. Sein Herz raste. Verstohlen schaute er sich um. Der Mond warf nur einen schwachen Schein durch das Laub der Bäume. Harry blinzelte. Langsam konnte er die Konturen des Parks erkennen. Die Geräusche kamen vom Torhaus.

Er streifte seinen zerschlissenen Schlafsack ab und blieb einige Minuten unentschlossen auf der Bank sitzen. Es war eine kühle Nacht Mitte September. Das genaue Datum kannte Harry nicht. Und es interessierte ihn auch nicht. Ihn interessierte nur, dass es heute ausnahmsweise mal nicht regnete, ja es nieselte noch nicht einmal. Das war für Harry ein Glücksfall. Denn auch wenn die Blätter der Bäume ihn vor dem Regen weitestgehend schützten, zog die Feuchtigkeit durch den Schlafsack direkt in seine altersmüden Knochen.

Inzwischen war er hellwach. An weiteren Schlaf war nicht mehr zu denken.

Er entschloss sich, der Ursache seiner nächtlichen Schlafstörung auf den Grund zu gehen, und streckte die Beine durch. Harry griff nach seinem alten Seesack und kramte, bis er gefunden hatte, was er suchte. Dann verließ er das schützende Dickicht und schlich zum Wanderpfad, der zum Torhaus führte. Am Rand der Grünfläche kauerte er sich hinter eine Eiche und spähte über das Parkgelände. Die Stadtvillen auf der Westseite lagen im Dunklen. Drei Straßenlaternen tauchten den Weg vom Besucherparkplatz zum Torhaus in spärliches Licht und warfen lange Schatten an das alte Gemäuer.

Ein leises Scheppern ertönte vom Ostflügel des Torhauses. Das Licht der Straßenlaternen erreichte diesen Teil nicht. Vom Torbogen waren jetzt kratzende Geräusche zu hören. Harry kannte das Geräusch, doch es dauerte einen Augenblick, bis er es einem kehrenden Besen zuordnen konnte. Wer um Himmels willen sollte denn mitten in der Nacht den Torbogen fegen?

Es war wieder still. Harry wartete noch einige Minuten, dann schlich er den Pfad entlang. Alle paar Meter blieb er stehen und lauschte in die Dunkelheit. Doch außer seinem eigenen pochenden Herzschlag konnte er keinen Laut vernehmen. Was auch immer noch vor wenigen Minuten im Torhaus vor sich gegangen war, es schien beendet.

Er nahm all seinen Mut zusammen und verließ den schützenden Pfad. Es war stockdunkel, und Harry musste aufpassen, dass er nicht stolperte. Dicke Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. Harry tastete sich an der Backsteinmauer entlang zum Torbogen. Irgendetwas war anders als sonst. Seine Hände zitterten, als er nach dem alten Feuerzeug griff und vergeblich versuchte, es anzuknipsen. Er fluchte leise, während er sich die kalten Hände rieb und ein paar Schritte in den Torbogen ging.

Etwas versperrte ihm den Weg. Noch ehe die Flamme seines Feuerzeuges die Sicht auf das Hindernis freigab, beschleunigte sich Harrys Puls. Sein Blick folgte dem tanzenden Licht. Ihm blieben nur wenige Sekunden Zeit, um das Geschehen zu erfassen, bevor die Flamme erlosch und das Feuerzeug aus seinen Händen glitt.

Er wimmerte leise und spürte eine warme Flüssigkeit sein Bein hinunterrinnen. In der Nähe schlug eine Autotür zu. Das reichte, um ihn aus seiner Starre zu befreien und zum Handeln zu treiben. Harry bückte sich und tastete im Dunkeln nach seinem Feuerzeug. Wenige Augenblicke später ließ er seinen Fund in die Jackentasche gleiten. Dann drehte er sich um und begann zu laufen. Dunkles Grollen war vom Nachthimmel zu hören und vereinzelte Regentropfen fanden ihren Weg auf die Grünflächen der Parkanlage und in Harrys Nacken. Er spürte es nicht.

Das Gebäude des Polizeipräsidiums Hamburg befand sich an der Hindenburgstraße im Stadtteil Alsterdorf. Der moderne Bau mit den zehn sternförmig um einen Ring gruppierten Riegeln erinnerte an einen Polizeistern. Zahlreiche bis vor wenigen Jahren noch über die gesamte Stadt verstreute Dienststellen waren nun in dem sechsgeschossigen Gebäude zusammen untergebracht. Im dritten Stock lagen die Räume des LKA 41, dem Fachkommissariat für Tötungsdelikte. Das Büro der Mordkommission unterschied sich in seiner Einrichtung kaum von anderen Großraumbüros. Die großen Schreibtische standen sich in Zweierblocks gegenüber, und die hellgrauen Möbel wirkten klar strukturiert und nüchtern.

An einem dieser Schreibtische saß Kriminalkommissarin Malin Brodersen und starrte auf den großen Stapel Akten, der sich vor ihr auftürmte. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hatte erst vor drei Wochen den Dienst im LKA 411 angetreten, doch ihr kam es vor wie mehrere Monate. Ihre Euphorie hatte sich schnell gelegt. Bisher hatte sie erst in einem Fall ermittelt, einem Tötungsdelikt zwischen zwei Eheleuten, der noch am gleichen Tag aufgeklärt worden war. Seitdem bestand ihr Alltag größtenteils aus Schreibtisch­arbeit.

Malins Tage waren davon geprägt, Berichte in den Computer einzugeben, Formulare in Fallakten zu sortieren und Kaffee zu kochen. Dabei hatte sie einen jahrelangen Ausbildungsmarathon hinter sich. Nach dem Abitur hatte sie vier Jahre Jura studiert und war nach dem ersten Staatsexamen für ein weiteres dreijähriges Studium zur Polizeihochschule gewechselt. In ihrer knappen Freizeit hatte sie Kurse in Kriminalistik und Verbrechensanalyse belegt und zusätzlich jedes Fachbuch und jeden Artikel verschlungen, der sie ihrem Ziel näher bringen konnte, Ermittlerin bei der Mordkommission zu werden. Doch die Bürokratie zwang sie zu Umwegen. Nach Abschluss ihrer Ausbildung an der Fachhochschule als Diplom-Verwaltungswirtin der Polizei hatte sie erst eine Zeit bei einem Kommissariat und danach ein weiteres Jahr beim Kriminaldauerdienst absolvieren müssen.

Jetzt habe ich jahrelang die Tretmühlen durchlaufen, bin endlich am Ziel – und was ist? Der Papierkram geht von vorne los, dachte sie frustriert. Anstatt Mordfälle aufzuklären, befinde ich mich auf dem Abstellgleis, zusammen mit einem Berg von Akten.

Malin griff nach einem weiteren Dokument und ließ ihren Blick dabei durchs Büro schweifen. Wo steckten die bloß alle? Ihre Abteilung bestand aus drei weiteren Ermittlern und dem Ersten Kriminalhauptkommissar Fricke, der das Team leitete. Der Schreibtisch ihres vorläufigen Team­partners Frederick Bartels, der ihr normalerweise gegenübersaß, war verwaist. Auch Ole Tiedemann, ein weiteres Teammitglied, glänzte durch Abwesenheit. Der dritte Kollege, Kriminaloberkommissar Sven Andresen, befand sich noch im Urlaub.

Malin hatte gerade nach einem Franzbrötchen gegriffen, als ihr Telefon klingelte. Seufzend legte sie das Brötchen beiseite und nahm den Hörer.

»Brodersen? Fricke hier. Am Wellingsbüttler Torhaus wurde heute früh eine Leiche gefunden«, brummte ihr die Stimme des Vorgesetzten ins Ohr. »Wir brauchen Sie hier am Tatort.«

Endlich. Malin schluckte ihre Aufregung hinunter. »Ich bin schon unterwegs.«

Sie nahm den Fahrstuhl und ging mit schnellen Schritten in die Tiefgarage des Präsidiums zu ihrem Auto, einem grünen Mini Baujahr 1979 mit durchgesessenen schwarzen Ledersitzen und Holzlenkrad. Der Mini war bereits zum Zankapfel zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten geworden. Es war üblich, die Dienstwagen zu nehmen. Da ihr jedoch keine Dienstvorschrift die Nutzung des Privatfahrzeugs während der Arbeitszeit ausdrücklich verweigerte, hatte Malin sich durchgesetzt.

»Bitte, bitte spring an«, murmelte Malin, als sie sich hinters Lenkrad setzte. Gleichmäßig brummend kam der Motor in Gang.

Zwanzig Minuten später bog Malin vom Wellingsbüttler Weg in den Waldweg zum Torhaus ein. Schon von Weitem sah sie die für diese Uhrzeit ungewöhnlich vielen Autos auf dem Parkplatz, darunter auch einen Übertragungswagen des Lokalsenders. Schaulustige drängelten sich dicht an dicht. Malin kurbelte das Fenster herunter und zeigte dem uniformierten Beamten ihren Dienstausweis. Mit einem kurzen Nicken winkte er sie durch die Absperrung.

Mehrere Einsatzfahrzeuge standen dahinter, eins erkannte sie als Frickes Dienstwagen. Sie parkte daneben und ging die restlichen Meter zu Fuß. Vom Regen und Sturm der letzten Nacht war nichts mehr spürbar. Die Luft war kühl und klar, und durch den Frühnebel drängten sich schon vereinzelte Sonnenstrahlen.

Vor ihr lag das Wellingsbütteler Torhaus, ein historisches Fachwerkgebäude aus rotem Backstein. Die beiden Torhausflügel hatten weiße Sprossenfenster und kleine schmale Giebel. Es war ein beeindruckendes Gebäude.

Schon von Weitem konnte Malin Hauptkommissar Fricke­ und einige andere Kollegen erkennen. Sie folgte dem von der Polizei angelegten Trampelpfad. Keiner nahm ihre Anwesenheit zur Kenntnis. Malin entschied, jetzt sei der falsche Zeitpunkt für persönliche Eitelkeiten. Sie stellte sich unmittelbar neben ihren Chef, folgte seinem Blick und zuckte zusammen. Kurz schloss sie die Augen und kämpfte gegen das Würgen in ihrem Hals. Sie zwang sich, wieder hinzuschauen.

Die fünfte Jahreszeit

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