Читать книгу Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs - Страница 8

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Als Malin ihren Wagen an der Elbchausee in Övelgönne abstellte, brach gerade der Morgen an. Dicke Wolken hingen am Himmel und kräftiger Wind zerzauste ihr die Haare. Rasch lief sie die Treppen des Schulbergs hinunter, um zu dem schmalen Fußweg zu gelangen, der zwischen den ehemaligen Lotsenhäusern und ihren kleinen Gärten hindurchführte. Sie ging auf eines der aus Backstein gebauten Fachwerkhäuser zu und klopfte an die Tür.

Kurze Zeit später wurde sie geöffnet. Frisch geduscht, die grauen Haare sorgfältig aus dem Gesicht gekämmt und bereits komplett angezogen, stand ihr Großvater Erich Brodersen vor ihr. Trotz seiner fünfundsiebzig Jahre wirkte der ehemalige Fährkapitän kräftig und energiegeladen. Sein Blick war klar und intelligent, und um seine blauen Augen hatten sich viele kleine Lachfältchen gebildet.

»Himmel, Malin, was treibt dich denn um diese Zeit hierher? Jetzt komm erst mal rein, mein Schatz.« Malin wurde von ihm in den Flur gezogen und seine kräftigen Arme drückten sie liebevoll.

»Hallo, Opa, ich bin völlig durch den Wind. Ich brauche unbedingt deine Hilfe. Ich bin da einer total verrückten Sache auf der Spur«, sprudelte sie heraus.

Ihr Großvater sah sie fragend an. »Komm, setzen wir uns erst mal, dann kannst du mir in Ruhe alles erzählen.«

Malin folgte ihm in die Küche. Blau-weiße Kacheln, massive Küchenschränke mit rustikaler Arbeitsplatte, freigelegte Deckenbalken und ein alter Gesindetisch sorgten für Gemütlichkeit.

Sie setzte sich auf eine der Holzbänke und erzählte vom Fund der Leiche am vergangenen Tag. Ihr Großvater strich sich hin und wieder bedächtig übers Kinn. Als Malin ihren Bericht beendet hatte, folgte langes Schweigen.

»So sieht sie jetzt also aus, deine Welt«, sagte er schließlich. »Ist es das, was du wolltest?«

Malin schluckte. »Es war mir klar, dass ich mit so etwas konfrontiert werde. Deshalb wollte ich zur Mordkommission. Auch wenn die Realität anders ist als Krimis.«

»Also gut. Wie kann ich dir helfen?«

Malin holte tief Luft. »Beim Anblick der Leiche war mein erster Gedanke: Das habe ich schon mal gesehen. Das Ganze hatte so etwas Surreales, es war fast wie in einem Film. Und jetzt bin ich mir sicher: Ich habe es gelesen. Genau so habe ich es in irgendeinem Buch gelesen. Dummerweise fällt mir der Name des Autors nicht ein.«

Erich runzelte die Stirn. »Könntest du es vielleicht auch woanders gelesen haben? Vielleicht in einem Zeitungsartikel oder in einer dieser Fachzeitschriften?«

»Du hältst mich also nicht für völlig verrückt?«

Erich schmunzelte. »Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, würde ich sagen, du hast eindeutig zu viele Krimis gelesen. Aber nein, ich halte dich nicht für verrückt.«

Dankbar griff Malin nach seiner Hand. »Opa, ich weiß, es ist ziemlich viel verlangt, aber ich denke, wir müssen beide unsere kompletten Bücher durchforsten. Alleine schaffe ich das nicht.«

Erich schmunzelte erneut. »Das habe ich mir fast gedacht.«

Sie gingen ins Wohnzimmer. Drei der vier Wände waren bis unter die Decke mit Bücherregalen versehen. Erich hatte seine Lektüren sorgfältig nach Autoren und Genres geordnet und sein Sortiment konnte es mit jeder Buchhandlung aufnehmen.

»Da haben wir uns ja ganz schön was vorgenommen. Ich hoffe nur, ich habe mich nicht getäuscht.« Malin war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob ihr Erinnerungsvermögen ihr nicht doch einen Streich spielte.

Zwei Stunden später hatten sie etwa fünf Dutzend Bücher durchforstet. Malin hätte nie für möglich gehalten, dass es so langsam vorangehen würde. Mittlerweile wurde es allerhöchste Zeit, zum Präsidium aufzubrechen. Ihr Großvater blätterte ganz vertieft in einem amerikanischen Psycho­thriller. Auf seiner Stirn hatte sich eine Furche gebildet und seine Lesebrille war ein wenig von der Nase gerutscht. Er schien ihren Blick zu spüren und legte das Buch beiseite. »Und, hast du schon was gefunden?«

Malin schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige. Aber jetzt muss ich leider erst einmal ins Präsidium.«

»Tja, ich habe heute sowieso nichts Besseres vor – also wühle ich mich noch ein bisschen hier durch.«

»Danke, Opa, du bist ein Schatz.« Malin drückte ihm zum Abschied rasch einen Kuss auf die raue Wange.

Sie war spät dran, als sie eine dreiviertel Stunde danach die Büroräume der Mordkommission betrat. Jemand hatte ein Whiteboard aufgestellt und Tatortfotos daran geheftet. Sie fuhr gerade ihren Computer hoch, als Hauptkommissar Fricke eintraf, dicht gefolgt von Glaser, dem Kriminaltechniker. Fricke trug immer noch das Hemd vom Vortag. Er hatte tiefe Augenringe, war unrasiert, und sein Haaransatz schimmerte fettig.

Malin unterdrückte ein Gähnen. Der Schlafmangel machte sich bemerkbar.

Fricke zog ein paar Unterlagen aus seiner Tasche und schaute in die Runde. »Moin, moin. Wenn denn jetzt alle wach und aufnahmebereit sind, beginnen wir mit dem jetzigen Ermittlungsstand. Die Rechtsmedizin hat uns heute früh den vorläufigen Bericht durchgefaxt. Demnach ist der Tod zwischen null und zwei Uhr dreißig eingetreten. Todes­ursache Herzversagen. Über dem linken Brustkorb des Opfers befindet sich ein kleiner Einstich. Vermutlich wurde dort eine Substanz injiziert, die zum Herzversagen geführt hat. Um welche Substanz es sich dabei handelt, wird uns erst das toxikologische Gutachten verraten.« Fricke räusperte sich. »Aufgrund der bisher vorliegenden Ergebnisse der Spurensicherung müssen wir davon ausgehen, dass Tatort und Fundort nicht identisch sind. Leider bringt uns das nicht weiter. Wir brauchen die Identifizierung des Toten. Ole, wie weit bist du mit den Vermisstenmeldungen?«

Ole Tiedemann, der an diesem Morgen noch blasser wirkte als sonst, blätterte in seinem Notizheft. »Heute früh wurde ein gewisser Richard Woy von seiner Frau als vermisst gemeldet, die Meldung ist gerade hereingekommen. Die Beschreibung passt auf den Toten. Soll ich jemanden hinschicken?«

Fricke überlegte kurz. »Mir ist es lieber, wenn das jemand aus dem Team übernimmt. Frank, was haben die Spurenauswertungen ergeben?«

»Das Seil, mit dem das Opfer aufgehängt wurde, weist an diversen Stellen Gewebespuren auf, allerdings stammen die allesamt vom Opfer.«

»Konntet ihr die Herkunft des Seiles feststellen?«

»Massenware, in jedem Baumarkt zu erstehen. Ähnliches bei dem Tuch: ein stinknormales Bettlaken, hundert Prozent Baumwolle, kein Etikett. In jedem Kaufhaus zu kriegen.«

Es klopfte und eine Beamtin streckte den Kopf durch die Tür. Fricke winkte sie heran, und die Polizistin reichte ihm einen Zettel. Nach einem kurzen Blick auf die Notiz wandte er sich wieder seinem Team zu. »Wir müssen hier jetzt abbrechen. Frank, ich brauche ein Team von der Spurensicherung, am besten kommst du auch gleich mit.« Er nickte dem Kriminaltechniker zu und ging ohne weitere Erklärungen zur Tür.

Dann drehte er sich noch einmal um. »Worauf warten Sie, Brodersen? Kommen Sie, fürs Herumstehen werden Sie nicht bezahlt!«

Malins Müdigkeit war schlagartig verflogen.

Die fünfte Jahreszeit

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