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Malin saß auf dem Beifahrersitz von Frickes Dienstwagen und starrte aus dem Seitenfenster. Die dicke Wolkendecke entlud sich ihrer Schwere und das träge Tröpfeln der letzten Stunden ging in einen kräftigen Schauer über.

Abgesehen vom Quietschen der Scheibenwischer war es seltsam still im Wagen. Malin schaute zu Fricke hinüber und musterte ihn. Die tiefen Ringe unter seinen Augen ließen erkennen, dass die letzten vierundzwanzig Stunden auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen waren. Mit starrem Blick aus der Frontscheibe und beiden Händen am Steuer lenkte er den Wagen. Sie fühlte sich neben ihrem Vorgesetzten äußerst unbehaglich. Malin hatte immer an ihre gute Menschenkenntnis geglaubt, doch bei Fricke schien die zu versagen. Außerdem fragte sie sich, warum er sie nicht duzte. Schließlich war das beim LKA im Allgemeinen üblich.

Ein Lastwagen hupte.

»Kann der denn nicht aufpassen!«, wetterte Fricke und hupte ebenfalls. »Solche Idioten haben hinterm Steuer einfach nichts verloren.« Dann wandte er sich an Malin. »Am Waldrand im Rehagen wurde ein herrenloses Auto gefunden. Eine schwarze Mercedes-Limousine mit etwas ungewöhnlichem Inhalt. Weiß der Teufel, was das wieder zu bedeuten hat.«

»Was meinen Sie mit ungewöhnlichem Inhalt?«

»Der Wagen war wohl vollkommen leer, bis auf einen Stapel Herrenkleidung. Obenauf liegt eine Brieftasche. Ein Reiter hat den Wagen gestern entdeckt. Als er heute immer noch da stand, hat der Mann die Polizei gerufen. Der Wagen blockiert den Reitweg.«

»Und warum hat man uns verständigt?«

»Der Wagen ist auf einen Dr. Richard Woy zugelassen.«

»Der Vermisste, dessen Beschreibung auf unsere Torhausleiche passt«, stellte Malin verblüfft fest.

»Genau. Und so viele Menschen mit diesem Namen wird es in Hamburg wohl nicht geben. – Ah, ich glaube, da sind wir schon.«

Fricke bog in den Rehagen ein und kurze Zeit später sahen sie den Reitstall. Etwa zweihundert Meter weiter ging die geteerte Straße in einen schmaleren Waldweg über, und an diesem Punkt stand ein Streifenwagen. Fricke parkte sein Auto am Seitenrand. Noch immer regnete es Bindfäden.

Malin setzte die Kapuze ihrer Regenjacke auf und stapfte ihrem Chef durch den Matsch hinterher. Vor dem Streifenwagen parkte ein schwarzer Mercedes der S-Klasse.

Fricke streifte Einweghandschuhe über und reichte Malin auch ein Paar. »Bevor die Spusi den Wagen in die KT bringen lässt, wollen wir doch mal einen Blick hineinwerfen.« Vorsichtig öffnete er eine Fahrzeugtür.

Der besagte Stapel Kleidung lag auf der hinteren Sitzbank. Alle Teile waren akkurat zusammengelegt. Fricke griff nach der Brieftasche aus schwarzem Leder und reichte sie an Malin weiter. Nach kurzem Suchen fand sie hinter dem Kreditkarten­fach einen Personalausweis.

»Richard Woy, geboren am 17. Januar 1945. Schauen Sie sich mal das Foto an.« Sie reichte ihm den Ausweis.

Fricke runzelte die Stirn. »Das weist in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer Leiche auf.« Er wandte sich an einen der uniformierten Beamten. »Haben Sie die Daten des Halters und die Adresse überprüft?«

»Häherweg in Poppenbüttel«, kam prompt die Antwort.

»Die Adresse stimmt mit den Daten auf dem Personalausweis überein«, bestätigte Malin.

Fricke bückte sich und betrachtete noch mal eingehend das Wageninnere. »Was zum Teufel soll das bloß? Erst die Leiche im Torbogen und jetzt die Limousine, wie auf dem Präsentier­teller. Warum so umständlich? Das ist ja total bekloppt«, murmelte er, während der Regen weiterhin unablässig in seinen Nacken glitt. »Ach verdammt … Kann mir vielleicht jemand mal einen Schirm bringen?«

Ein Beamter eilte zum Streifenwagen und kam mit einem aufgespannten Schirm zurück. Er reichte ihn Fricke.

»Danke. Ist dieser Reiter noch vor Ort?«

»Nein, aber ich habe die Personalien überprüft und die Aussage aufgenommen.«

»Gut.« Fricke holte sein Handy aus der Jackentasche. Er drückte Malin den Schirm in die Hand und tippte eine Nummer in die Tastatur. »Ole? Fricke hier. War schon jemand bei den Angehörigen von Richard Woy? Nein? Gut, dann übernehmen wir das.« Er murmelte einen kurzen Abschiedsgruß und wendete sich an den Beamten der Schutzpolizei. »Sie rühren sich nicht vom Fleck und warten auf die Kollegen von der Spurensicherung. – Und wir, Brodersen, fahren jetzt mal zu dieser Adresse in Poppenbüttel.«

Fünfzehn Minuten später standen Malin und Fricke vor einem weißen Bungalow aus den siebziger Jahren. An der Eingangspforte warnte ein Schild vor einem bissigen Hund.

Malin drückte die Klingel. Eine elegante Frau mittleren Alters öffnete und ein Westhighlandterrier flitzte aus dem Haus. Wild mit dem Schwanz wedelnd sprang er an Malins Beinen hoch und versuchte, ihr die Hand zu lecken. Das zum Thema bissiger Hund, dachte sie und tätschelte seinen Kopf.

Fricke stellte sich und Malin vor. »Sind Sie Frau Woy?«

Der Blick der Frau wurde ängstlich. »Ja, ich bin Henriette Woy. Kommen Sie wegen meines Mannes?«

Fricke nickte.

»Dann kommen Sie bitte herein.« Sie führte sie in ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer mit cremefarbener Sitzgruppe und Sesseln aus Korbgeflecht. Mit einer einladenden Geste wies sie auf die Couch. »Bitte, was ist mit meinem Mann, haben Sie ihn gefunden?« Henriette Woy strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem diskret geschminkten Gesicht.

Fricke räusperte sich. »Frau Woy, bitte schildern Sie uns, was Sie dazu veranlasst hat, Ihren Mann als vermisst zu melden.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Mein Mann hat sich vorgestern Abend mit ein paar alten Kollegen getroffen. Alles pensionierte Ärzte. Sie treffen sich immer einmal im Monat. Jeden ersten Dienstag. Gegen halb elf hat er mich angerufen, um mir zu sagen, dass er auf dem Weg nach Hause ist. Aber er ist nicht gekommen.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Gegen Mitternacht habe ich dann angefangen, seine Freunde und die Krankenhäuser anzurufen. Niemand wusste etwas. Und bei der Polizei hat man mir dann gesagt, es gebe derzeitig keinerlei Veranlassung, eine Vermisstenanzeige aufzunehmen. Das ist erst heute früh geschehen.« Mittlerweile war Henriette Woys Gesicht tränenüberströmt, und sie musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. »Bitte sagen Sie mir endlich … Ist ihm etwas passiert?«

Fricke warf Malin einen unbehaglichen Blick zu und wandte sich dann an die zitternde Frau. »Frau Woy, der Wagen Ihres Mannes wurde verlassen an einem Waldweg im Rehagen gefunden. Können Sie sich vorstellen, was er dort vielleicht gewollt hat?«

Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Was sollte er dort gewollt haben? Er wollte doch nach Hause kommen.«

»Frau Woy, ich würde Ihnen das gerne ersparen, aber wir haben gestern Morgen eine Leiche gefunden, die auf die Beschreibung Ihres Mannes passt. Ich muss Sie leider bitten, uns zu begleiten.«

»Mein Mann soll tot sein? Das glaube ich nicht«, sagte Henriette Woy kraftlos.

Malin setzte sich neben die verstörte Frau. »Gibt es jemanden, der Sie begleiten könnte?«

»Meine Tochter, ich muss meine Tochter anrufen.« Zitternd erhob sich Henriette Woy von der Couch und verließ den Raum.

»Sie denken es auch, oder?« Malin sah ihren Chef fragend an. »Ich meine, dass er es ist.«

Fricke nickte. »Trotz all meiner Dienstjahre habe ich mich immer noch nicht an diese Augenblicke gewöhnt.« Er schien zu sich selbst zu sprechen. Resigniert starrte er auf den Boden. Malin wagte nicht, ihn länger anzuschauen, sie kam sich vor wie ein Eindringling.

Die Leiche war von Henriette Woy eindeutig als die ihres Mannes identifiziert worden. Es war schon später Nachmittag, als Malin zusammen mit ihrem Vorgesetzten erneut den weißen Bungalow verließ. Routiniert hatte Fricke in der letzten Stunde die Befragung durchgeführt. Laut Henriette Woys Aussage hatten sie und ihr Mann eine harmonische Ehe geführt. Außerdem hatte sie ihn als einen geradlinigen und integeren Menschen beschrieben. Unvorstellbar, dass jemand einen Grund gehabt haben könnte, ihn umzubringen.

Malin war froh, der bedrückenden Atmosphäre im Haus zu entkommen. »Chef, glauben Sie, dass seine Frau etwas mit dem Mord zu tun hat?«

»Bisher glaube ich überhaupt nichts.«

»Auf mich wirkte sie ehrlich erschüttert.«

»Trotzdem sind zu diesem Zeitpunkt alle verdächtig. Auch die Hinterbliebenen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass mehr als neunzig Prozent aller Tötungsdelikte Beziehungstaten sind. So leicht lass ich mich durch ein paar Tränen nicht täuschen. Und Sie sollten das auch nicht tun.«

»Wie Sie meinen, Chef.«

»Lassen Sie die Telefondaten des Anschlusses überprüfen. Und sehen Sie zu, dass wir die Liste mit den Adressen von den Angehörigen und Freunden der Familie bekommen. Außerdem müssen wir dringend in Erfahrung bringen, wo er seine alten Praxisunterlagen aufbewahrt.«

»Vermutlich wird er sie seinem Nachfolger übergeben haben«, bemerkte Malin.

»Dann überprüfen Sie das.«

Malin zuckte resigniert mit den Schultern und folgte ihrem Vorgesetzten zum Auto.

Die Tür klemmte. Charlotte Leonberger stemmte ihren Körper gegen die schwere Eingangstür ihres Reetdachhauses. Dann wuchtete sie ihren Koffer über die Schwelle in den Flur. Zufrieden sah sie sich um. Zwei Stapel Briefe lagen säuberlich nach Größe sortiert auf der alten Nussbaumkommode. Daneben stand ein frischer Strauß gelber Astern, ihre Lieblingsblumen. Die gute Tante Alma, dachte sie. Sie ließ ihren Koffer stehen, hängte ihren Mantel an die Garderobe und ging in die Küche, um sich erst einmal einen Tee aufzubrühen.

Endlich zu Hause, dachte sie und schaute aus dem Fenster. Dicke Wolken hingen am Himmel und Windböen peitschten die Ostsee zu hohen Wellen auf. Ein paar Möwen hatten sich unter einem Holzsteg ein trockenes Plätzchen gesucht. Dicht an dicht drängten sie sich zusammen.

Die meisten Lokale an der Strandpromenade hatten bereits geschlossen und die verbliebenen Strandkörbe wirkten verwaist. Auf die meisten Menschen hätte der Strand trostlos gewirkt, doch Charlotte liebte ihn zu dieser Jahreszeit ganz besonders. Er lud zu langen Spaziergängen ein – ohne all die Touristen, die den kleinen Ort Strande im Sommer belagerten.

Der Wasserkessel pfiff. Sie bereitete ihren Tee zu, legte noch ein paar selbstgebackene Kekse von Alma dazu und balancierte alles auf einem Tablett ins Wohnzimmer. Das Kofferauspacken konnte warten. Der Dreiwochentrip durch alle größeren Städte Deutschlands hatte seine Spuren hinter­lassen. Nach einem kurzen Nippen am Tee war Charlotte auch schon auf der Couch eingeschlafen.

Das dumpfe Hämmern des Türklopfers riss sie aus ihren Träumen. Verwirrt setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Es war stockdunkel. Erneut war ein energisches Klopfen zu hören.

»Ja, ich komme ja gleich!« Schlaftrunken tastete sie nach dem Knopf der Stehlampe. Gleißendes Licht erhellte den Raum. Gähnend ging sie in den Flur und öffnete die Tür.

»Hallo, mien Deern, schön, dass du wieder da bist. Hier, ich habe dir ein gutes Süppchen gekocht. Du hast doch bestimmt heute noch nichts Warmes gegessen.«

Charlotte unterbrach mit einer abwehrenden Geste den Wortschwall der alten Frau, die – in ein dunkles Regencape gehüllt – tropfnass vor ihrer Türschwelle stand. In ihren Händen hielt sie einen riesigen Topf, dessen Inhalt gut und gerne eine achtköpfige Familie sättigen konnte. »Guten Tag, Alma, komm doch rein, wenn du schon mal da bist.« Schmunzelnd trat Charlotte beiseite, um die kleine, rundliche Gestalt einzulassen.

»Und, war die Reise ein Erfolg?«, fragte Alma neugierig. Sie hatte zielstrebig die Küche angesteuert und hantierte am Herd herum.

Charlotte winkte ab. »Lass uns morgen darüber reden, ich möchte mich jetzt einfach nur noch entspannen. Erzähl mal, wie ist es dir denn in den letzten Wochen ergangen?«

»Ach, so weit ganz gut, auch wenn meine alten Knochen nicht mehr ganz so wollen.« Alma rührte die Suppe um. »Mmh, wie das duftet!«

Charlotte lief das Wasser im Mund zusammen. »Ich decke schon mal den Tisch. Du bleibst doch zum Essen?«

»Gerne, dann können wir noch ein bisschen plauschen.« Ein Strahlen überzog Almas rosiges Gesicht und ihre haselnussbraunen Augen sahen Charlotte liebevoll an.

Es war spät geworden, als Alma sich vom Küchentisch erhob, um sich auf den kurzen Heimweg zu machen. Es behagte Charlotte gar nicht, die alte Frau alleine in die Dunkelheit zu schicken, aber wie immer lehnte Alma ihr Angebot, ein Taxi zu rufen, brüsk ab.

»Wer sollte denn eine so alte Frau wie mich überfallen? Bei mir gibt es doch nichts zu holen. Ihr jungen Dinger solltet euch schon eher Sorgen machen.« Ohne Widerspruch zu dulden, griff sie nach ihrem Regencape.

Charlotte gab sich geschlagen. »Aber ruf an, wenn du zu Hause bist«, rief sie ihr hinterher.

Keine zwei Minuten später läutete das Telefon. Komisch, dachte Charlotte, Alma konnte doch unmöglich in dieser kurzen Zeit zu Hause eingetroffen sein. Sie griff nach dem Hörer und nannte ihren Namen. Eine fremde Stimme.

Kurz lauschte sie dem Anrufer, dann legte sie verwirrt auf. Schon wieder, dachte sie. Das war bereits das zweite Mal. Sie überlegte einen Moment und wählte dann die Nummer der Kriminalpolizei Kiel.

Die fünfte Jahreszeit

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