Читать книгу Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs - Страница 7
2
ОглавлениеDie ersten Sonnenstrahlen warfen einen schwachen Schein auf das dunkle Gemäuer des Torhauses. Ein Mensch war mit dicken Seilen zwischen die alten Balken des Toreinganges gespannt. Der leblose Körper war mit einem weißen Tuch bekleidet und wurde durch die Seile so gestrafft, dass die Leiche die Haltung eines Hampelmannes einnahm. Der Kopf war auf die Brust gesunken. Körperbau und Größe wiesen darauf hin, dass es sich um einen Mann handelte. Nichts deutete auf eine äußerliche Verletzung.
Malin hörte jemanden stöhnen und bemerkte verwundert, dass dieses Geräusch aus ihrer eigenen Kehle drang. Die anderen Beamten starrten sie an, und sie spürte, dass sie rot wurde.
Ihr Teamkollege Frederick Bartels trat auf sie zu, ergriff ihren Ellenbogen und führte sie ein paar Schritte beiseite. »Schließ die Augen und atme tief durch. Und achte nicht auf die anderen. Bei denen war es am Anfang auch nicht anders.«
»Geht schon wieder. Danke.« Ihr Pulsschlag normalisierte sich.
Scheinwerfer waren aufgestellt worden, sie hörte das Klicken einer Kamera, und einige Beamte der Spurensicherung durchsuchten in ihren Schutzanzügen, die sie wie Astronauten aussehen ließen, das Gelände um den Torbogen. Ein Handy klingelte.
Mittendrin stand Fricke. Sein wirres Haar klebte ihm noch vom morgendlichen Duschen am Kopf und ein Zipfel seines Hemdes lugte unter seiner Jacke hervor. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Malin atmete noch einmal tief durch und trat dann entschlossen auf ihn zu.
»Schöner Schiet«, sagte Fricke nicht unfreundlich und mit einer Kopfbewegung in Richtung Leiche.
Gerade stellte ein Beamter eine Leiter unmittelbar daneben auf. Der junge Mann, kaum dem Teenager-Alter entwachsen, wurde auffallend blass. Schnell drehte er sich um und rannte zum nächstliegenden Gebüsch. Ein Würgen war zu hören.
Malin stieß der süß-säuerliche Geschmack ihres Frühstückes auf. Sie kämpfte gegen die Übelkeit. Fricke wühlte in seinen diversen Jackentaschen und reichte ihr ein abgegammelt aussehendes Zitronenbonbon. Misstrauisch beäugte sie das fleckige Papier, doch sobald sich der Zitronengeschmack in ihrem Mund ausbreitete, ging es ihr besser.
»So, Brodersen, dann machen Sie sich mal nützlich. Die Frau da drüben, Ingrid Larsen, hat die Leiche gefunden.« Fricke wies auf eine ältere Dame, die einige Meter entfernt auf einer Parkbank saß. Eine Polizistin hatte ihr eine Decke über die Schultern gelegt und schien beruhigend auf sie einzureden. »Frau Larsen arbeitet für das Alstertal-Museum, das ist im linken Flügel des Anbaus. Sie scheint noch unter Schock zu stehen, hat bisher kaum etwas Brauchbares von sich gegeben. Sehen Sie zu, dass sich das ändert.«
Die alte Frau saß zusammengekauert auf der Bank und umklammerte ihren Kaffeebecher. Ihr blasser Teint war um Augen und Nase gerötet. Sie hob ihren Blick, als Malin auf sie zutrat, und strich sich zitternd eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Frau Larsen, mein Name ist Malin Brodersen, LKA Hamburg. Lassen Sie es uns noch einmal gemeinsam durchgehen. Also, um welche Uhrzeit haben Sie die Leiche gefunden?«
»Es war so gegen zehn nach sieben, ich hatte gerade auf die Uhr gesehen, kurz bevor ich …« Sie schluckte. »Ich muss normalerweise durch das Tor gehen, um zum Eingang des Museums zu gelangen. Er liegt auf der Hinterseite. Aber ich konnte doch nicht …« Ihre Stimme versagte. Eine Träne kullerte über ihr Gesicht. Malin legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm. »Ich konnte da doch nicht einfach durchgehen, also bin ich zum Alsterdomizil gelaufen, um deren Telefon zu benutzen.«
»Alsterdomizil?«
»Die Seniorenresidenz hinter dem Westflügel vom Torhaus. Direkt neben dem Herrenhaus.«
»Das haben Sie richtig gemacht, Frau Larsen. Bitte versuchen Sie sich jetzt noch mal genau zu erinnern, ob Sie vielleicht jemanden auf Ihrem Weg begegnet sind?«
»Nein, ich bin niemandem begegnet.«
»Ist Ihnen denn in den letzten Tagen etwas aufgefallen? Vielleicht ein ungewöhnlicher Besucher, oder gab es irgendwelche sonderbaren Anfragen?«
»Nein, es war alles wie immer.« Sie klang kraftlos.
»Gut, Frau Larsen, das war es dann fürs Erste. Meine Kollegin wird sich jetzt um Sie kümmern. Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen: Unter dieser Nummer können Sie mich jederzeit erreichen oder mir eine Nachricht hinterlassen.« Malin reichte ihr eine Visitenkarte und drehte sich zu der uniformierten Polizistin um, die in einigem Abstand gewartet hatte. »Bitte sorgen Sie doch dafür, dass Frau Larsen nach Hause gebracht wird.«
Sie ging zu Frederick Bartels. Ihr Teamkollege war Mitte dreißig und von sportlicher Statur. Er hatte kräftiges dunkelbraunes Haar, kantige Gesichtszüge und seine dunklen, fast schwarzen Augen erweckten den Anschein, als würde ihnen nichts entgehen. Sie hatten sich einige Monate vor Malins Dienstantritt bei der Mordkommission bei einem Vortrag über Täterprofile kennengelernt. Malin war der gutaussehende Beamte sofort sympathisch gewesen, und sie hatten an jenem Abend noch lange und angeregt über den Vortrag diskutiert. Sie war überrascht und erfreut gewesen, als sie ihn unter ihren neuen Kollegen erkannte, doch in der Mordkommission hatte er sich ihr gegenüber bislang eher reserviert verhalten.
Malin sah zum Torbogen, wo die Leiche gerade von zwei Beamten abgenommen wurde. »Der Tatort wirkt, als hätte der Täter ein Bühnenbild inszeniert.« Kurz flackerte eine Erinnerung auf, doch bevor sie den Gedanken greifen konnte, war der Moment auch schon wieder vorbei.
»Das Gleiche habe ich auch gedacht«, erwiderte Bartels stirnrunzelnd.
Kriminalhauptkommissar Fricke verabschiedete sich gerade von einer attraktiven Blondine, die in ihrer linken Hand eine Arzttasche hielt. Dann wandte er sich seinen beiden Mitarbeitern zu. »Dr. Steinhofer ist gerade mit der vorläufigen Untersuchung fertig. Allerdings konnte sie noch nicht viel sagen. Außer den Hautabschürfungen an Hand- und Fußgelenken weist die Leiche anscheinend keine weiteren äußeren Verletzungen auf. Fest steht allerdings, dass der Mann schon tot war, bevor er aufgehängt wurde. Für alles Weitere müssen wir wohl oder übel die Ergebnisse der Obduktion abwarten. Verdammt, womit haben wir es hier zu tun? Fred, was meinst du?«
»Ich weiß es nicht, Hans. Aber es spricht alles dafür, dass der Tatort gezielt ausgesucht wurde. Fragt sich nur, warum.«
Malin räusperte sich. »Vielleicht will uns der Täter etwas mitteilen und hat irgendeinen Hinweis hinterlassen. Irgendetwas, das wir bisher vielleicht noch nicht gefunden oder auch übersehen haben.«
Fricke betrachtete sie abschätzig und schien seine Worte mit Bedacht zu wählen. »Frau Brodersen, ich bin sehr dankbar für Ihren Hinweis. Wie Sie sehen können, wird der Tatort bereits abgesucht.« Er wies mit weit ausholender Geste auf das Treiben um sie herum. »Mein Team und ich machen das nicht zum ersten Mal.«
»Manchmal ist es aber auch von Vorteil, wenn ein wenig frischer Wind durch einige Arbeitsabläufe weht.« Herausfordernd funkelte Malin ihren Vorgesetzten an.
Fricke wandte sich an Bartels. »Fred, du fängst an, in den umliegenden Häusern nach Zeugen zu suchen. Vielleicht hat jemand etwas mitbekommen. Und nimm unsere verehrte Frau Brodersen mit. Wir treffen uns dann später zur Besprechung im Präsidium.« Ohne Malin eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ging auf einen der Kriminaltechniker zu.
»Es fehlt nur noch, dass du Schaum vor dem Mund bekommst«, sagte Bartels, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Mensch, Malin, reiß dich zusammen. Denkst du, der Chef lässt sich von einer Anfängerin bloßstellen?«
»Ich habe es einfach langsam satt, die Tippmieze der Abteilung zu sein. Dafür hab ich nicht studiert!«
»Genau, und deshalb lässt du am besten mal nicht immer dein Jurastudium so raushängen. Und außerdem: Was meinst du denn, warum Fricke dich zum Tatort bestellt hat? Wenn ich dir mal einen Tipp geben darf: Beobachte ihn und hör ihm zu. Er ist der Beste in seinem Job.«
Malins Wut war schon wieder verflogen. »Da bin ich dann wohl übers Ziel hinausgeschossen«, stellte sie zerknirscht fest.
»Mach dir darüber keinen Kopf. – Weißt du etwas über das Torhaus?«
Malin nickte. »Es diente früher als Pferdestall und als Wohnstätte für die Bediensteten des Herrenhauses, des ehemaligen Gutes Wellingsbüttel. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde es um 1750 erbaut. Heute stehen die Gebäude unter Denkmalschutz.«
Bartels pfiff durch die Zähne. »Woher weißt du das alles?«
»Der Vorteil einer humanistischen Erziehung«, erwiderte Malin trocken.
»Aha.« Bartels warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Dann lass uns mal mit dem Klinkenputzen beginnen.«
Es war bereits später Nachmittag, als sich das Team zur Besprechung im Präsidium einfand.
Malins Magen knurrte. Sie fischte eine zerknitterte Papiertüte aus ihrer Tasche und zog ein Franzbrötchen heraus. Mit wenigen Bissen war das Gebäck verzehrt, und Malin schaute enttäuscht in die leere Tüte.
»Und wenn du noch so lange hineinstarrst: Es werden nicht mehr. Sag mal, isst du eigentlich auch mal etwas anderes als dieses süße Zeugs?«
Malin sah in die wasserblauen Augen ihres Kollegen Ole Tiedemann, ein schlaksiger Kerl mit sandfarbenem Haar und blasser, fast durchscheinender Haut. Mit seiner sachlichen und zurückhaltenden Art bildete er den Ruhepol der Abteilung.
Schnell beförderte sie die Tüte in den Papierkorb. »Jeder hat so seine Laster«, murmelte sie verlegen, doch der Kollege blätterte bereits wieder in seinem Notizblock.
Die Tür öffnete sich, und Hauptkommissar Fricke trat in das Großraumbüro, dicht gefolgt von Frank Glaser, dem Leiter der Spurensicherung, und einem kräftigen Mann mit rötlichem Schnäuzer und finsterem Blick. Bartels erhob sich und schlug dem Unbekannten freundschaftlich auf die Schulter.
Fricke ergriff als Erster das Wort. »Wie ihr seht, konnte ich Sven überreden, einen Tag eher aus dem Urlaub zurückzukommen. So wie die Dinge liegen, können wir jede Unterstützung gebrauchen. Also, fangen wir an. Was habt ihr rausgekriegt, Fred?«
»Wir haben die Anwohner der umliegenden Häuser, das Personal und die Bewohner der Seniorenresidenz und auch die vom Café befragt.« Bartels zuckte die Schultern. »Leider liegt die Erfolgsquote bisher bei null. Niemand konnte auch nur einen entfernt nützlichen Hinweis geben.«
»Dann erweitert den Umkreis. Wurden die Parkplätze schon überprüft? Vielleicht ist der Täter mit dem Wagen gekommen.«
»Einige Leute sind noch vor Ort und durchkämmen das Gelände.«
»Sind schon irgendwelche Spuren ausgewertet worden, Frank?« Fricke wandte sich dem hageren Kriminaltechniker zu, der neben Tiedemanns Schreibtisch lehnte und die Arme vor der Brust verschränkt hielt.
»Wir sind noch dabei«, gab der wortkarg zur Antwort.
»Gar nichts?«, hakte Fricke nach.
»Wir haben Fußabdrücke am Eingang zum Torbogen gefunden. Unbrauchbar wegen des strukturierten Bodens. Trotzdem interessant.« Glasers verkniffener Gesichtsausdruck verzog sich zu einem grimmigen Lächeln.
»Inwiefern? Meinst du, sie stammen vom Täter?«
»Eben nicht. Der Mörder hat die ganze Bodenfläche des Torbogens vermutlich mit einem Besen gesäubert. Ich glaube kaum, dass er hinterher zurückgekommen ist, um seine Fußabdrücke zu hinterlassen.«
»Könnten die von einem unserer Leute stammen?«, fragte Bartels.
Glaser schüttelte den Kopf und rückte dabei seine kleine, runde Brille zurecht. »Die Kollegen von der Streife haben umgehend gesichert.«
»Weitere Abdrücke?«, hakte Fricke nach.
»Wenn welche da waren, hat der Regen der letzten Nacht sie weggespült«, erwiderte Glaser.
»Wenn die Spuren also nicht vom Mörder stammen, dann haben wir vielleicht einen Zeugen. Und derjenige hat nicht die Polizei benachrichtigt.« Fricke strich sich nachdenklich übers Kinn.
»Wissen wir schon, um wen es sich bei dem Toten handelt?«, fragte Tiedeman.
Fricke schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, aber die Identifizierung der Leiche steht für uns an erster Stelle. Ole, darum kümmerst du dich. Sprich mal mit den Kollegen von 4.17, die sollen alle Vermisstenanzeigen der letzten Zeit durchgehen.« Er runzelte die Stirn. »Bisher sind unsere Fakten mehr als dürftig. Morgen früh bekomme ich die vorläufigen Berichte der Rechtsmedizin und aus dem Labor. Bis dahin erledigt ihr die zugeteilten Aufgaben. Irgendwelche Fragen?«
Malin räusperte sich. »Ich bin ja noch nicht lange dabei, trotzdem scheint es mir, als hätten wir es nicht gerade mit einem alltäglichen Mord zu tun. Wir haben bisher noch nicht über das mögliche Motiv des Täters gesprochen.«
Fricke fuhr sich bedächtigt übers Kinn. »Sie haben recht, Brodersen, das bereitet auch mir Kopfschmerzen. Trotzdem, vorrangig ist jetzt die Identifizierung des Toten, sie ist unser Ausgangspunkt. Wenn wir erste Ergebnisse der Rechtsmedizin vorliegen haben, die uns über Zeitpunkt und Todesursache aufklären, und das Labor die Spuren ausgewertet hat, können wir daraus vielleicht erste Rückschlüsse ziehen.« Frickes ernster Blick wanderte über die Anwesenden. »Weitere Fragen? Nein? Dann an die Arbeit.«
Malin verließ als eine der Letzten den Raum. Sie eilte Frederick Bartels hinterher, der sich angeregt mit dem rothaarigen Ermittler unterhielt. Das ist also Andresen, dachte Malin und musterte die bullige Statur des Polizisten. Das Gespräch verstummte sofort, als sie auf die beiden zutrat.
»Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Ich bin Malin Brodersen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich weiß, wer du bist«, erwiderte Andresen, ohne auf die dargebotene Hand zu reagieren. »Fred, ich warte im Wagen auf dich.« Er drehte sich um und ging auf den Fahrstuhl zu.
Verblüfft sah Malin ihm hinterher. »Was für eine Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?«
»Dein Ruf ist dir wohl schon vorausgeeilt. Ich habe dich ja gewarnt.«
»Fred, was soll das denn jetzt? Und vor allem, was meint er damit, dass er im Wagen auf dich wartet? Ich dachte, wir beide sollten weiter Klinken putzen?«
»Komm schon, Malin, es war keine Rede davon, dass du die ganze Zeit an meiner Seite klebst. Ich führe die restlichen Befragungen mit Sven durch. Bei der Gelegenheit kann er sich gleich ein Bild vom Tatort machen.«
Malin hatte Mühe, ihren Zorn zu unterdrücken. »Wie du meinst. Und was soll ich stattdessen tun?«
»Informiere dich über den Hintergrund des Wellingsbüttler Torhauses. Und sieh zu, dass du die Berichte von der Schutzpolizei bekommst.«
Malin holte tief Luft. »Ich kümmere mich um die Recherche, aber glaubt nicht, dass ich weiterhin sämtliche Büroarbeiten übernehme.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und marschierte davon.
Es war bereits später Abend und die Luft merklich abgekühlt, als Malin die Tür zu ihrem kleinen Stadthaus aufschloss. Sie hatte das hundertfünfzig Jahre alte Bleicherhaus mitten im angesagten Stadtteil Winterhude vor fünf Jahren von ihrer Tante geerbt. Es stand unter Denkmalschutz, hatte einen handtuchgroßen Garten und achtzig Quadratmeter Wohnfläche, verteilt auf vier Räume mit niedrigen Decken. Vom Erdgeschoss mit dem Wohnzimmer und der Küche führte eine kleine Wendeltreppe in die obere Etage. Dort hatte Malin ihr Schlafzimmer und ein Gästezimmer, das ihr allerdings eher als Abstellkammer diente.
Malin war erschöpft und schlecht gelaunt. Sie nahm sich eine halbe Pizza vom Vortag aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Milch dazu ein. Dann ging sie in den ans Wohnzimmer angrenzenden Wintergarten. Es war ihr Lieblingsort, eingerichtet mit einer gemütlichen gelb-weiß karierten Couch, zwei Korbsesseln und einem hellen Sisalteppich.
Nachdenklich kaute sie auf ihrer Pizza herum. Sie hatte die vergangenen Stunden mit dem Sammeln von Informationen über das Torhaus und das Herrenhaus verbracht, aber wenig Neues erfahren. Außerdem konnte sie sich nicht richtig konzentrieren. Der inszenierte Fundort der Leiche stand ihr ständig vor Augen. Etwas daran ließ sie nicht los, doch sie konnte diesen Gedanken nicht greifen. Hinter ihren Schläfen begann es zu pochen.
Und sie war noch immer verärgert über ihre Kollegen. Lag es wirklich an ihr oder gab es vielleicht noch andere Gründe für Andresens feindseliges Verhalten? Noch bevor sie zur Mordkommission stieß, hatte sie die Geschichte von Martin Sablowoski gehört. Der Ermittler vom LKA 411 war nach Dienstschluss bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Malin hatte die Lücke, die er in seinem Team hinterlassen hatte, bei ihrem Dienstantritt nahezu körperlich spüren können. Soweit sie wusste, hatte er mit Sven Andresen ein Team gebildet. Das erklärte vielleicht teilweise die Abneigung des rothaarigen Ermittlers gegen sie. Trotzdem ist das keine Entschuldigung, dachte Malin.
Sie stellte fest, dass der Anrufbeantworter blinkte. Die erste Nachricht war von ihrer Freundin Suse, die sie an den Geburtstag einer gemeinsamen Freundin erinnerte und sie bat, bei Gelegenheit mal ihre Sporttasche abzuholen. Malin unterbrach das fröhliche Geschnatter der Freundin und spulte vor zum nächsten Anruf. Die nörgelnde Stimme ihrer Mutter ertönte. Augenblicklich sträubten sich ihre Nackenhaare und sie löschte den Anruf. Seufzend hörte sie die letzte Nachricht ab. Die tiefe Stimme ihres Großvaters informierte sie darüber, dass er ein paar neue Krimis für sie parat liegen hatte.
Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchströmte Malin. Erich Brodersen war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Beide verband unter anderem die große Leidenschaft zum Krimilesen. Sie hatten schon so manche Nacht damit verbracht, über Plots zu diskutieren. Ihr Großvater hatte sie als Kind in die Welt von Agatha Christie geführt und damit den Grundstein für ihren späteren Berufswunsch gelegt. Leider war er auch der Einzige in ihrer Familie, der sie bei ihrem Vorhaben unterstützt hatte, Polizistin zu werden.
Für einen Rückruf war es heute schon zu spät. Sie beschloss, ins Bett zu gehen.
Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte.
Schlaftrunken setzte sie sich auf. Hinter dem Fenster war es noch dunkel. Malin schaute auf ihren Wecker. Es war vier Uhr zwanzig. Sie hatte gerade mal vier Stunden geschlafen. Stöhnend ließ sie sich zurück in die Kissen sinken und versuchte wieder einzuschlafen. Erneut schob sich der Anblick des Toten vor ihre Augen.
Sie setzte sich auf und starrte in die Dunkelheit. Jetzt wusste sie, woran die Inszenierung der Leiche sie erinnert hatte.