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Ein ungewöhnlicher Fund

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Essen-Werden, Margrefshof -

7. November 2009 – 17.00 Uhr

„Wir müssen die Historie von dem alten Gutshof durcharbeiten. Es ist wichtig, Christine!“ sagte Burkhard von Weigel zu seiner Frau.

„Lies dir einmal diese Nachricht durch, die ich gestern Abend noch bekommen habe, sie aber erst eben gelesen habe.“ Er startete den PC und öffnete das Programm.

Dabei suchte er eilig eine Mail, die mit einigen Buchungsanfragen herein gekommen war. Doch diese war keine Anfrage, ob ein Zimmer zu einem bestimmten Zeitpunkt frei wäre, sondern es war ein privates Anliegen.

Sehr geehrte Eheleute von Weigel,

mein Name ist Veronika Dupont und ich lebe in Wiesbaden, gebürtig bin ich aus Duisburg.

Ich habe ein sehr wichtiges Anliegen und ich hoffe, dass Sie die Zeit finden, um mir eventuell bei meiner Recherche weiterhelfen zu können. Bewusst habe ich Ihren Hof ausgewählt, weil dieser sehr ländlich in Essen-Werden liegt. In der Beschreibung des Fremdenverkehrsamtes habe ich Sie gefunden und dort, wo Ihr Hof angesiedelt ist, habe ich die Hoffnung, dass Sie sich auch in Ihrer Umgebung ein wenig auskennen. Ich bin auf der Suche nach einem alten Gutshof, der anscheinend irgendwie nicht mehr zu existieren scheint.

Es ist eine sehr lange Geschichte und auch keine ganz einfache, denn es hat etwas mit einer alten Vergangenheit zu tun, einer Person, auf dessen Suche wir sind, die im Jahre 1916 geboren wurde und dort als Baby ausgesetzt wurde.

Der Ort, wo dieses geschah soll ein altes Gut am Baldeneysee sein, welches den Namen „Gut Markgraf“ trug. Dort wuchs das Kind auch auf. Mit sechzehn Jahren wurde dieses Mädchen namens Johanna Wegemann nach Berlin geschickt, um eine Ausbildung in einem Haushalt zu absolvieren.

Leider verloren sich im Jahre 1943 ihre Spuren. Sie hinterließ einen kleinen Sohn, Paul und dieser wiederum bekam auch einen Sohn, Stephan, der mein guter Freund ist und dem ich nun helfen möchte, seine Großmutter zu finden bzw. versuche das Leben seiner Großmutter nach zu rekonstruieren.

Wenn Sie in irgendeiner Form einen Anhaltspunkt für mich hätten und Sie vielleicht wissen, wo ich diesen alten Gutshof finde, ich wäre sehr glücklich darüber.

Auch wenn Ihnen bekannt sein sollte, dass der Hof gar nicht mehr existiert und Sie eventuell Informationen haben wo genau er in Ihrem Gebiet gelegen hat, würde uns dieses sehr weiterhelfen. Sie würden einigen Menschen, die seit Jahrzehnten nach ihren Wurzeln suchen unglaublich unterstützen. Jedes Detail könnte von großer Wichtigkeit sein.

Gerne erwarte ich Ihre Antwort und seien Sie versichert, jede vielleicht Ihnen noch so unwichtige Information könnte hilfreich sein.

Mit freundlichen Grüßen

Veronika Dupont

„Das ist ja ein Ding!“, sagte Christine von Weigel und schaute ihren Mann an. „Sie schreibt uns gerade an, obwohl hier in der Umgebung einige Höfe verteilt in den Wiesen bis zu den Ufern des Baldeneysees liegen und trifft genau ins Schwarze. Unser altes ehemaliges Gut Markgraf. Das war der Name des Gutshofes, der auch in der Historie unseres alten Bauernhofes steht, weil er mit zum Gehöft Markgraf gehörte.“

Ihr Mann sah sie an und nickte und für ihn war es selbstverständlich, dass er bereit war, hier zu helfen, egal in welcher Form.

„Ich werde ihr zunächst zurückmailen, dass unser Haus ehemalig zum alten Gutshof Markgraf gehörte und wir nun alles heraussuchen, um Anhaltspunkte zu finden, die ihr weiterhelfen könnten.

Vielleicht gibt es ja wirklich Notizen oder amtliche Dokumente über eine Adoption oder eine Kindespflegeübernahme. Ich wüsste auch nicht, dass noch irgendwelche Nachfahren oder Verwandte von dem damaligen Besitzer irgendwo leben, denn das Gut wurde stillgelegt und die dazugehörigen Gehöfte verkauft, weil es keine Erben gab und niemand es mehr weiterführen konnte.

Heute noch werde ich ihr antworten und ihr sagen, dass wir uns gerne zusammensetzen können, denn einige alte Unterlagen existieren ja noch, du weißt doch die alte Truhe auf dem Dachboden. Wir wollten sie uns immer einmal vornehmen, um die Historie unseres Hofes zu dokumentieren.“

Christine streichelte ihrem Mann liebevoll über das Haar. Das war ihr Burkhard, das war etwas worin sein Herz aufging, ihr Historiker und endlich gab es gute Gründe sich an diese Arbeit zu machen. Der Winter war lang und wer weiß, welche interessanten Schätzchen sie dabei herausfinden würden, auch für sich selbst, denn was gab es Interessanteres, als das einmal alles aufzuarbeiten und zu erlesen, was hier in diesem Hause im Laufe der Jahrhunderte durchlebt worden war.

Eheleute von Weigel führten heute eine Pension und boten wunderschöne restaurierte Gästezimmer an. Der Anbau an das Haupthaus eignete sich dafür erstklassig und es kam zudem zusätzliches Leben auf ihren Hof.

Die neueste Entwicklung machte nun plötzlich eine alte Geschichte, die Geschichte ihres Hauses, wieder lebendig, angestoßen durch eine Frau, die anscheinend nicht aufgeben würde, bis sie etwas herausgefunden hatte.

Am Abend schrieb er ihr einige Zeilen und machte sich daran, den Dachboden zu besteigen, um die alte Truhe nun ans Tageslicht zu befördern.

Somit war der 7. November nicht nur der Gedenktag für Johanna, das Erwarten ihrer Person am Potsdamer Platz in Berlin, sondern ihr ganzes Leben war ins Rollen gekommen, weil sich einige Menschen nun damit intensiv beschäftigten würden.

***

Berlin-Charlottenburg am Abend

Erschöpft sanken Stephan und Veronika in die gemütliche Polstergarnitur in seinem Appartement. Ihr Koffer stand noch in einer Ecke, sie hatte keine Lust mehr irgendetwas heute noch auszupacken, außer halt das Notwendigste, was sie für die Nacht benötigen würde. Stephan schaute Veronika nachdenklich an und nahm ihre Hand.

„Was bist du für eine wunderschöne Frau geworden. Ich hatte heute kaum Zeit mich einmal mit dir zu beschäftigen und irgendwie kann ich es noch gar nicht glauben, dass wir uns wiedergefunden haben. Wo warst du in all den Jahren frage ich dich? Wo warst du Veri?“

Sie lächelte ihn an und streichelte liebevoll sein Gesicht. Auch an ihr war die Begegnung mit diesem äußerst attraktiven Mann nicht spurlos vorüber gegangen. Sie hatte sich das Gleiche eben auf dem Wege hierher gefragt, wo er denn die ganze Zeit gewesen war und warum sie sich erst jetzt wieder sehen sollten.“

„Warum haben wir damals keine Adressen ausgetauscht? Die Chance, dass wir uns jemals wieder begegnen würden, war noch weniger als null Prozent und trotzdem sind wir uns begegnet, als wären irgendwelche unglaublichen Mächte mit im Spiel. Wir beide im gleichen Forum im Netz, wir beide in der gleichen Sekunde auf online, wir beide, die etwas erkannten, nein du, du hast etwas erkannt und reagiert.

Es war diese Sekunde, die das entschieden hat, es war diese Sekunde, die mein Leben in eine andere Richtung gebracht hat. Durch dich ist nicht nur mein Boot gerettet worden, durch dich habe ich einen Teil meiner Familie heute gefunden.

Ohne dein Ankommen heute zum richtigen Moment am Potsdamer Platz, wäre ich nie dort gewesen und hätte Wilhelm mit diesem Schild gesehen. Warum wolltest du mich genau dort treffen, wo auch Johanna 1932 ankam? Warum zur gleichen Uhrzeit nur um Jahre verspätet?

Wieso bist du in der Lage Ereignisse nach zu vollziehen, die andere lange vor deiner Zeit erlebten? Was fühlst du dabei? Es muss etwas in dir sein, was dich dahin treibt, als würdest du förmlich von einer unsichtbaren Macht geführt.

Das macht mir ein wenig Angst, doch auf der anderen Seite beglückt es mich, weil es ohne dich niemals so weit gekommen wäre. Veri sage mir, warum du genau am 17. März 1975 meinen Weg zum ersten Mal kreuzen musstest, um mir im richtigen Moment zu helfen? Das sind doch keine Zufälle mehr. Ich verstehe das alles nicht.“

Veronika rückte etwas näher an ihn heran und kuschelte sich bei ihm ein. Sie hatte das Gefühl als wäre sie endlich zu Hause angekommen. Stephan tat ihr so gut, seine Nähe hatte etwas ihr Vertrautes. Es war wirklich so, als hätte sie ein Teil ihrer selbst wiedergefunden.

Kein bisschen kam ihr fremd vor oder ungewohnt, nein es war in der Tat ein Gefühl des Bekannten in ihr, fast so, als wäre sie ewig auf der Suche danach gewesen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie ihre letzten gemeinsamen Minuten 1975 waren, bevor sie sich damals von ihm verabschiedet hatte.

„Ich weiß noch wie traurig du mich angeschaut hast, als ich gehen musste, weil mein Lehrer sonst womöglich besorgt gewesen wäre, denn ich war ja schon eine Zeit lang unterwegs gewesen.

Auch ich war betrübt, weiß nicht so recht warum, ich hätte gerne mehr von dir und deinem Paddeln erfahren. Obwohl ich ja schon ein Teenager war und du noch in den Kinderschuhen stecktest, fand ich unsere Treffen irgendwie schön, alleine schon einen richtigen Berliner kennenzulernen, war für mich ein tolles Gefühl.

Da hatte ich den anderen aus meiner Klasse einiges voraus und zudem die Unterhaltung mit Isol…, mit Johanna.

Weißt du eigentlich, dass sie mit mir noch einige Worte alleine sprach, als du wieder zu deinem Boot voraus gegangen warst? Sie sagte, ich solle immer auf dich aufpassen. Wieso sagte sie mir dieses? Hat sie dich nie gefragt, ob wir uns noch einmal treffen möchten?“

Stephan nahm Veronikas Kopf von seinen Schultern und schaute sie verwundert an.

Einmal gefragt? Sie hat mich gelöchert, wochenlang, obwohl ich ihr immer wieder erklärte, dass du aus Duisburg bist und nur mit der Schule hier zu Besuch warst.

Doch sie ließ nicht locker und schüttelte immer wieder mit dem Kopf und meinte, dass es nicht so sei und wir uns wiedersehen würden.

Ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie etwas verwirrt war, sie wollte dieses einfach nicht verstehen. Meine Erklärung dafür suchte ich bei ihrem Zustand durch ihre Kopfverletzung im Krieg. Vielleicht nahm sie deshalb Dinge nicht wahr oder sie wollte sie nicht wahrhaben.

Aber wie auch immer, sie hielt sich dran. Als ich älter war, wurde ich auch geduldiger und hatte Verständnis für ihre Lage. Ich sagte ihr immer wieder, dass ich deine Adresse leider nicht hätte.“

Veronika staunte über diesen Bericht. „Du sag einmal, warum hast du dich nicht an meine Schule gewandt und versucht mich über diesen Weg zu finden?

Oder wolltest du mich nicht mehr finden? Ok, du wusstest nicht in welche Schule ich ging und du warst sehr jung.

Was wusste sie von dir über mich? Nur das ich aus Duisburg kam und kannte sie auch meinen Nachnamen? Hatte ich ihn dir überhaupt gesagt?“

„Ja, du hattest ihn mir gesagt und ich habe ihn auch an sie weiter gegeben, denn sie hakte ja immer nach. Es war, als wollte sie, dass wir wieder in Kontakt traten. Ich habe dich natürlich nie vergessen, denn das, was du für mich getan hattest, war auch nicht gerade alltäglich.

Eines Tages, ich war schon vierzehn Jahre alt, da schenkte sie mir ein kleines Paket zum Geburtstag. Sie kam ins Vereinsheim, es war September. Ich war gerade dabei, mein Boot winterfest machen, um es in unserer Halle einzulagern.

Ja, da kam sie, überreichte mir das Paket mit den Worten, dass es mir eines Tages Glück bringen würde und dass ich es mir sehr gut anschauen sollte, denn es wäre etwas sehr Wertvolles.“

Jetzt war Veronika zum wiederholten Male heute munter geworden, setzte sich aufrecht hin und wollte wissen, was in diesem Päckchen gesteckt hatte.

Stephan räusperte sich, denn das war ihm jetzt oberpeinlich. Trotzdem erhob er sich, um es zu holen.

„Ich hole es, ich habe es als Andenken immer aufbewahrt. Damals war ich froh, dass ich alleine war, als ich es ausgepackt habe. Schließlich war ich vierzehn geworden, ein Mann sozusagen, nun ja, ein noch recht junger Mann, aber auf dem Wege dahin, es zu werden und da war solch ein Geschenk eigentlich nicht mehr angebracht.

Doch Isolde, nein Johanna, sah in mir wohl immer noch den kleinen Stephan, der gerade erst zehn Jahre alt war. Irgendwie bekam sie es halt nicht mehr auf die Reihe.“

Er ging in die obere Etage seiner Wohnung und kam wenige Minuten später wieder hinunter und setzte sich zu Veronika auf das Sofa. Grinsend legte er ihr ein Stofftier auf den Schoß.

„Du meinst, sie hat dir dieses Stofftier geschenkt als du vierzehn Jahre alt wurdest?“ Veronika schmunzelte ein wenig, denn irgendwie fand sie es ganz süß, zumal es auch passend zum Thema war. „Ja!“, lachte sie, „das ist ja vielleicht knuffig.“

„Das dachte ich mir, dass dich dieses amüsiert, mich damals jedenfalls nicht, doch mittlerweile habe ich mich an Hippoline gewöhnt. Sie gehört mit zum Haushalt.“

Beide prusteten los, denn dieser Name für dieses Stofftier passte, schließlich war dieses wollende Etwas ein Flusspferd, ein richtig schönes kuscheliges Hippopotamus.

„So, so! Also Hippoline war in diesem Paket und sie sei sehr wertvoll. Ok, solch ein Flusspferd hat mit deinem Boot etwas gemeinsam. Es schwimmt im Fluss und geht auch schon einmal unter, denn manchmal….!“, sie stoppte mit einer weiteren Ausführung hier, denn sie spielte auf das fast abgesoffene Kanu Stephans an.

Jetzt lachten sie beide noch mehr und Veronika hatte schon Tränen in den Augen und rief:

„Sag mal, wie oft hast du danach eigentlich noch Schiffe versenken gespielt?“

Stephan knuffte sie in die Seite und spielte den Beleidigten, doch auch er amüsierte sich. „Des Öfteren meine liebe Veri, nicht nur Schiffe, sondern auch mich selber mit versenken. Schnell habe ich aktiv die Eskimorolle gelernt. Somit tauchte ich halbwegs mit vernünftigem graziösem Erscheinen vor meinen Kameraden wieder auf der Wasseroberfläche auf und das immer noch im Boot sitzend und ohne an Land schwimmen zu müssen.

Zudem gehört es zu unserem Sport auch einmal den See oder Fluss zu durchtauchen, mit Boot sozusagen.“

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, wurde Veronika nachdenklich, denn die Worte, die Johanna damals gesprochen hatte, waren ungewöhnlich. „Es sei ein wertvolles Geschenk, welches dir Glück bringen würde, hatte sie gesagt?“

„Ja wenn es ein Schweinchen gewesen wäre, so könnte ich das ja noch nachvollziehen, aber ein Flusspferd?“

Veronika schüttelte den Kopf. „Nein, das muss eine andere Bedeutung gehabt haben. Sie hat sich dabei etwas gedacht.“ Neugierig geworden, drehte und wendete sie das Stofftier und stellte fest, dass sich die Naht unter dem dicken Bauch schon etwas gelöst hatte. „Da hast du aber schon viel mit geknuddelt. Gebe es zu. Schau einmal, die Naht löst sich schon.“

„Nein eigentlich habe ich das nicht so sehr, es stand ja jahrelang im Schrank. Vor Freunden, wäre es mir peinlich gewesen. Irgendwann geriet es wohl in Vergessenheit. Als ich vor einem Jahr hierherzog, kam es mir wieder entgegen und seitdem sitzt „Hippoline“ auf meinem Bett. Heute ist es mir nicht mehr peinlich, denn sie ist eine Erinnerung an eine gute alte Freundin.“

Veronika tastete alles ab und konnte mit einem Finger sogar in das schon vorhandene Loch pulen. Sie war von Natur aus neugierig und musste alles untersuchen, zumal hier irgendetwas im Innenteil vom Schaumstoff verschoben war, das erkannte sie an den Beulen im Bauchbereich.

„Ich werde Hippoline nähen Stephan. Das Innenleben muss aber zuvor wieder richtig verteilt werden. Sieh einmal, die ganze Füllung ist verschoben.“ Sie drückte ein wenig hin und her und versuchte mit einem Zeigefinger durch das Loch greifend, die Füllung zurechtzuziehen.

„Autsch, da hat aber etwas gerade gestochen. Es ist etwas Hartes darin.“ Sie bohrte vorsichtig tiefer und ertastete etwas, was sich wie Papier anfühlte. „Hole mir einmal eine Schere bitte. Ich werde die Naht auftrennen, denn ich glaube in ihrem Bauch steckst etwas.“

Eilig holte Stephan die Schere obwohl ihm das jetzt in der Seele wehtat Hippoline einen Schnitt zu verpassen. Aber es war ja nur die Naht, diese konnte man nähen und danach würde sie wieder wie neu sein. Das beruhigte ihn etwas. Vorsichtig trennte Veronika sie soweit auf, bis ihre Hand hinein passte. Nach wenigen Sekunden zog sie einen zusammengefalteten Zettel aus dem Bauch des Stofftieres hervor. Vorsichtig legte sie Hippoline beiseite und überreichte Stephan dieses Blatt.

Er schluckte, denn es war ihm schon mulmig, dass er nach drei Jahrzehnten eine Botschaft von Johanna fand.

„Lies du es bitte, ich bin zu aufgeregt.“

Veronika war es aber auch eigenartig geworden, doch mutig faltete sie das Blatt auseinander. Es war nicht nur eines, sondern zwei ineinander liegende Blätter.

8. September 1978

Lieber Stephan,

ich glaube, dass viele Jahre vergehen werden, ehe du diesen Brief finden wirst, denn ich weiß, dass Du nun in einem Alter bist, wo Du dieses Geschenk ganz schnell beiseitelegst, weil es Dir nicht altersgemäß erscheint.

Mit Absicht schenkte ich Dir dieses, denn ich möchte, daß Du erst viel später die Wahrheit erfährst, denn jetzt bist Du noch zu jung.

Es wird der Tag kommen, da wirst Du Dich aber wieder an dieses Stofftier erinnern und ich bete zu Gott, dass Du das Flusspferd noch in irgendeiner Kiste als Erinnerung an mich aufbewahrt hast.

Ich habe nachgeforscht, es ließ mir kei ne Ruhe, ich wollte, daß Du dieses Mädchen wieder triffst, Du weißt doch, das Mädchen, was Dir damals half, Dein Boot aus dem Fluß zu ziehen.

Ich habe in Duisburg alle Schulen durchforstet, bis ich die Auskunft bekam, wer sie ist und wo sie lebt. Hier ist ihre jetzige Adresse:

Veronika Dupont

Nelkenweg 8

Duisburg

Ich habe eine sehr lange und harte Geschichte hinter mir und ich möchte, dass Du diese Geschichte kennst, denn wir beide haben viel gemeinsam. Du warst mir nicht nur ein guter und treuer kleiner Freund, sondern viel mehr. Du hast mir ein Stück meiner selbst geschenkt, weil Du immer Momente Zeit für mich hattest.

Das alles wirst Du verstehen, wenn Du über mein Leben alles erfahren hast. Ich werde nicht mehr lange hierbleiben können, vielleicht noch wenige Monate, vielleicht noch ein oder zwei Jahre, dann muss ich einen Platz finden, an dem ich mich zur Ruhe setzen kann. Das wird für mich eine sehr schwere Zeit werden, denn ich werde etwas verlieren, was mir sehr wichtig war.

Du wirst mir fehlen, doch ich weiß nun, dass Du auf einem guten Wege bist und ich mir keine Sorgen machen muss. Ich weiß, dass es Deiner Familie gut geht, auch wenn es bei Dir und Deinem Vater etwas sehr Trauriges gibt. Aber ihr habt Euch, ich hatte niemanden auf der Welt, musste mich oftmals alleine durchkämpfen, doch Du hast mir viele Jahre das Gefühl gegeben, dass ich eine Heimat habe.

Ich weiß nicht, wann dieses Mädchen wieder in Dein Leben treten wird, doch Du wirst sie wiedererkennen. Sie wird eine Botschaft erhalten.

Ihr werdet etwas herausfinden, was Euch sehr beschäftigen wird, doch ihr werdet verstehen. Veronika wird nicht eher Ruhe geben, bis sie alles aufgedeckt hat, weil sie Dir helfen muss, auch ihrer selbst willen. Ich habe mein Leben in einem Buch aufgeschrieben. Dieses habe ich an einen Buchverlag geschickt und es veröffentlichen lassen. Du kannst es in jeder Buchhandlung kaufen, wenn Du magst.

Der Titel lautet:

Ankunft Berlin, Potsdamer Platz 1932

Es beschreibt meine eigene Biografie und das Erlebte, was ich hinter mir habe. Es wurde in diesem Jahr erstmalig veröffentlicht. Namen und Personen habe ich belassen, ich meine damit die Vornamen, doch die Nachnamen habe ich aus persönlichem Schutz der Menschen geändert.

Ich hoffe so sehr, wenn Du diesen Brief hier eines Tages findest, dass es auch noch mein Buch irgendwo zu kaufen gibt oder nachzubestellen ist, damit Du alles verstehen wirst, was geschah.

In Gedanken werde ich immer bei Dir sein, bei Deinem Vater, bei meinem Wilhelm und auch bei seiner Schwester Mathilde. Ebenso bei meiner alten Freundin Else Knippertz aus den Hackeschen Höfen, denn ohne ihre Hilfe, hätte Paul nie solch ein gutes zu Hause bekommen. Sollten diese Menschen alle noch leben, wenn Du das hier findest, bitte grüße sie herzlichst von mir.

Übrigens mein Wilhelm ist auch Dein Wilhelm. Dein sportliches Vorbild Wilhelm Behren.

Sei Dir eines gewiss, ich werde Dein Leben weiterverfolgen, aber aus dem Hintergrund. Somit werde ich immer wissen, wie es Dir geht, aber ich muss wirklich in der Zurückhaltung bleiben. Man würde mir niemals verzeihen, warum ich mich nicht mehr gemeldet habe, aber die Situation damals erforderte es so und später konnte ich es einfach nicht, ich meine, mich zu erkennen geben. Vermutlich hätte man mich nicht verstanden. Es war nur zu Eurem Besten. An Dir konnte ich wenigstens wieder einiges gut machen und das macht mich glücklich.

Veronika Dupont wird eine große Rolle in Deinem Leben spielen, das habe ich damals schon gespürt, so wie ich viele Dinge vorausgeahnt habe.

Wie gesagt, ich werde noch oft in Deiner Nähe sein, doch Du wirst mich nicht sehen. Was kannst Du auch mit der Gesellschaft einer alten Eisfrau anfangen?

Ich habe nun noch ein Geschenk für Dich. Ich schreibe Dir hier das Rezept für das beste Johannisbeereneis der Welt auf. Bitte doch Veronika, es Dir einmal zuzubereiten, sie wird es sicherlich sehr gerne für Dich herstellen.

350 g Johannisbeeren

150 ml süße Sahne

50 ml Milch

120 g Zucker

Zubereitungsanleitung:

Beeren waschen, mit Milch und Zucker verrühren und pürieren. Sahne steif schlagen und unter die Johannisbeerenmasse heben. Alles für 30 Minuten in einer Eismaschine verarbeiten.

Nun wünsche ich Dir und auch Dir Veronika alles Gute für Euren Lebensweg, ich gehe doch recht in der Annahme, dass sie dieses hier gerade mitliest oder?

Herzliche Grüße und Umarmung

Johanna Wegemann oder Isolde, so wie Du mich kennst

Veronika legte still den Brief beiseite und schaute Stephan mit großen Augen an. „Das ist unglaublich Stephan! Das träume ich hier jetzt gerade alles oder?“

Der junge Mann war wie im Trance und nahm das Stofftier zur Hand. „Hippoline, warum hast du mir in all den Jahren kein Zeichen gegeben? Nun können wir versuchen, dieses Buch noch irgendwo aufzutreiben und das vermutlich in irgendeinem Antiquariat. Darin werden wir erfahren, was in der Zeit zwischen 1932 bis 1978 geschehen ist.

Doch was danach geschah, das steht wieder in den Sternen, denn niemand weiß, wohin sie gegangen ist. Vermutlich war sie oft bei irgendwelchen Sportevents zugegen und ich habe sie nicht wahrgenommen.

Wie auch, bei all den vielen Zuschauern, zumal ich meistens ja auch sehr beschäftigt war zu meinem aktiven Zeiten als Sportler und danach bis zum heutigen Tag als Schiedsrichter bei den Wettkämpfen. Ich frage mich nur, was Du mit dieser ganzen Geschichte zu tun hast, was sie mit dir vorhatte und warum sie dich unbedingt auch mit involvieren wollte.“

Veronika atmete tief durch und meinte, dass sie sehr müde sei, doch trotz allem noch einmal kurz ins Netz müsse, um den Titel des Buches zu googeln. Schnell hatte sie das Programm gestartet und gab den Titel ein. Nach einiger Zeit wurde sie fündig. Es gab diese Ausgabe tatsächlich noch in einem Antiquariat. Dieses befand sich sogar in Berlin. Sie mailten den Verkäufer an, dass er es für sie reservieren solle, sie würden es am übernächsten Tag abholen, da heute leider Samstag sei.

Der Autor des Buches musste ein Pseudonym tragen, denn mit dem Namen konnten sie nicht wirklich etwas anfangen, außer dass der Vorname identisch war mit dem von Johanna. Nun waren sie also wieder ein Stück weiter in ihrer Recherche gekommen. In diesem Zuge, wo das Internet einmal gestartet war bat Veronika, ob sie einmal kurz in ihr Mailprogramm schauen durfte.

Da entdeckte sie eine Antwort von Herrn von Weigel aus dem Ruhrgebiet und öffnete sie hastig.


Sehr geehrte Frau Dupont,

Ihre Mail habe ich mit Erstaunen gelesen und selbstverständlich halte ich es für meine Pflicht, Ihnen mit den nötigen Informationen weiter zu helfen.

Sie scheinen ein Gespür dafür zu haben, sich direkt an die richtigen Menschen zu wenden, denn Sie haben durch das Anschreiben an den Margrefshof nicht nur eine Ferienpension am Baldeneysee im besagten Gebiet angetroffen, sondern einen Hof, der in den früheren Jahrhunderten bis vor vielen Jahrzehnten mit zum Gut Markgraf gehörte.

Im Laufe der Zeit wurde der Name umgewandelt in Margrefshof. Aber das erkläre ich Ihnen später einmal. Ich glaube das erscheint auch jetzt nicht so wichtig.

Primär ist vielmehr, dass wir Ihnen behilflich sein könnten, wenn wir die alten Unterlagen studiert haben und dabei etwas an Informationen über das damalige Leben hier um 1900 herum herausfinden.

Ich werde die alte Truhe morgen vom Dachboden herunterholen und mich daran setzen, alle Akten der vergangenen Zeit zu sortieren. Dieses hatte ich sowieso irgendwann einmal geplant, aber Sie wissen ja, wie das oft so ist. Man nimmt sich etwas vor und meist kommen immer andere Dinge dazwischen.

Doch auch für uns als Besitzer eines doch geschichtsträchtigen Hofes, ist es nicht uninteressant, die Historie einmal aufzugreifen.

Daraus könnten wir gut eine Broschüre erstellen, die auch für unsere Feriengäste oder für die Stadt Essen-Werden, die ebenfalls eine alte eigene Geschichte aufweist, interessant sein.

Also wir, meine Frau Christine und ich, mein Vorname ist Burkhard, wir sind dabei und wir würden Sie und Ihren Freund Stephan gerne persönlich begrüßen, damit wir etwas aus dem Leben seiner Großmutter in Erfahrung bringen.

Wer weiß, sie wurde damals, so wie Sie berichtet haben, hier als Findelkind ausgesetzt und vielleicht erfahren wir sogar noch etwas mehr, was wiederum die Eltern dieser Johanna Wegemann anbelangt.

In diesem Sinne beende ich nun meine Mail an Sie und freue mich, wenn Sie mich eventuell anrufen und wir einen Termin vereinbaren, wann wir die Sache angehen. Ich werde derweil schon einmal in Vorarbeit gehen.

Wir freuen uns darauf, Sie baldigst hier begrüßen zu dürfen und wünschen Ihnen schon einmal viel Erfolg vorab.

Mit freundlichen Grüßen

Burkhard von Weigel


Stephan nahm Veronika in die Arme. Er hatte zeitgleich die Mail mitgelesen.

„Ich suche wie ein Maikäfer seit etlichen Jahren diesen Gutshof, finde keine Information diesbezüglich und ich schreibe dir in einer Mail darüber und du gehst hin und hast in Nullkommanichts die Idee einfach irgendwelche fremden Höfe dort anzuschreiben und triffst auch noch direkt den Richtigen. Ich muss sagen Veronika, ich bin sprachlos. Wie machst du das? Was geht in dir vor, wenn du vor Rätseln gestellt wirst, worüber andere sich etliche Jahre den Kopf zermartern? Hast du da sofort Ideen?“

Veronika schaute ihn lange an und meinte: „Ich bin ein Logiker und versuche mich einfach darauf zu konzentrieren wo ich etwas erfahren könnte. Bei Behörden in deren Archiven zum Beispiel, in Kirchenämtern, bei Hobbyhistorikern, es gibt da etliche Möglichkeiten. Ich bin hartnäckig. Zudem habe ich ein Feingespür und lasse vieles auf mich wirken. Zusammenhänge kristallisieren sich dadurch förmlich heraus, aber hinzu kommt noch, dass ich mich auch sehr gut in eine andere Person hineinversetzen kann.“

Bewundernd schaute Stephan sie an und nickte: „Es ist spät Veronika. Ich richte dir ein Bett und morgen werden wir Kontakt mit Herrn von Weigel aufnehmen und einen Termin vereinbaren. Wir können sicherlich in ihrem Haus Unterkunft beziehen, wenn es eine Ferienpension ist.

Es wird für mich ein ganz neues Gefühl sein im Herbst beziehungsweise Winter, wenn ich mir das Wetter da draußen anschaue, an den Baldeneysee zu fahren.“

Der junge Mann spürte plötzlich, dass er in Veronika mehr als nur eine Frau sah, die ihm wieder helfen wollte. Er war sich unsicher, was es war, doch er fühlte etwas Warmes in seinem Herzen, wenn er sie ansah. Somit beendeten sie diesen sehr anstrengenden Tag und legten sich bald zu Bett.


Ohne Johanna

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