Читать книгу Ohne Johanna - Angela Hünnemeyer - Страница 9
Die Offenbarung
ОглавлениеMathilde und Stephan wurden unterdessen schon langsam nervös. Weder Wilhelm kam zurück, geschweige denn Veronika. Doch da ging die Türe auf und Herr Behren betrat das Wohnzimmer.
Er wirkte etwas abwesend und er hatte zudem richtig Farbe im Gesicht bekommen. Still gesellte er sich wieder zu den anderen und starrte Stephan lange an, ehe er mit ruhigen Worten begann, seine Offenbarung nun hier preiszugeben.
„Stephan, du bist mein Enkelsohn. Ich bin mir nun sehr sicher, denn ich habe eben erfahren, wann dein Vater geboren ist und er kann nur mein Sohn sein, von dem ich bis zum heutigen Tage nicht ahnte, dass er überhaupt geboren wurde. Heute bin ich nicht nur Großvater geworden, sondern auch noch Vater.“ Verlegen händereibend hatte er diese Worte gesprochen.
Mathilde wurde blass wie eine Wand und fiel zurück in ihren Sessel, auf dem sie bisher nur vorne auf der Kante gesessen hatte. Stephan riss die Augen auf und schaute die beiden stumm an.
Mit dieser Offenbarung hatte er nicht gerechnet. „Sie, sie sind mein Großvater? Ich bin sprachlos.“ Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, vor allem, dass er eben nicht selbst darauf gekommen war, als Mathilde von dem Tag Ende Juli 1941 erzählte. Da war Johanna bereits schon in anderen Umständen.
Aber eigentlich konnte sie ja auch von einem anderen Mann aus ihrem Umfeld geschwängert worden sein. Doch ihm ging jetzt ein Licht auf, wenn er daran dachte, wie sehr Wilhelm litt und immer noch nach ihr suchte und auch ihr Zimmer nicht mehr betreten hatte.
Ihm wurde es irgendwie anders und immer noch verwirrt und fassungslos schaute er auf das Geschwisterpaar, welches ihm gegenüber saß. Freudig erhob er sich und ging um den Tisch herum und auch Wilhelm war aufgestanden. Sie nahmen sich still in die Arme und bei beiden flossen jetzt Tränen.
„Das müsste Vater jetzt erleben. Er hatte ja nie Wurzeln und ich hatte bislang nur einen Großvater, doch nun habe ich beide zum Glück. Für meinen alten Herren wird das eine Neuigkeit werden, die ihn sehr glücklich macht, denn wie lange hat er versucht, irgendetwas heraus zu finden.“
Mathilde hatte sich von ihrem Schock erholt.
Heiser krächzte sie: „Wilhelm, du hast Johanna geliebt? Ich meine, du hast auch mit ihr…, also du hattest mit ihr auch eine körperliche Beziehung? Dass du sehr viel für sie übrig hattest und dass sie uns fehlte, bezog ich immer nur auf ihren Auszug.
Sie ist mit uns erwachsen geworden, als wäre sie unsere Schwester gewesen, doch dass du sie als Mann geliebt hast, das hätte ich nie vermutet. Mein Gott Wilhelm, du hast einen Sohn, welch ein Geschenk für dich und auch für mich, denn dadurch bin ich ja nun eine Tante und Großtante geworden.
Ich bin sehr berührt.“ Sie faselte alles, was ihr so gerade in den Sinn kam, vermutlich hatte sie das noch gar nicht richtig verstanden. Urplötzlich sprang sie förmlich aus dem Sessel und riss Stephan nun auch besitzergreifend an sich.
„Komm her mein Junge, lass dich umarmen und herzlich willkommen in unserer, nein deiner neuen Familie.“
Stephan wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er wurde von beiden immer hin und hergezogen. So etwas Bewegendes hatte er noch nie erlebt.
Veronika hatte Wilhelm sehr nachdenklich hinterhergeschaut, als er den Raum verlassen hatte und nahm wieder im Sessel Platz. Was für ein Tag war das nur heute. Sie musste also Stephan begegnen, damals so wie heute.
Das war also schon vor über dreißig Jahren so vorbestimmt gewesen und genau in dieser einen Sekunde, als sie Ende Mai vor ihrem PC gesessen hatte, ihn sah und in seinem Gesichtsausdruck etwas erkannt hatte, genau das hat sie auf einen Weg gebracht, der nun hier in einem fremden Haus in Berlin erst einmal für kräftige Neuigkeiten gesorgt hatte, womöglich sogar zu einer Klärung führen würde, auf die einige Menschen hier in dieser Stadt seit Jahrzehnte warteten.
Welchen Grund hatte es gehabt, dass sie ihn als vierzehnjähriges Mädchen kennenlernte? Berlin hat weit über drei Millionen Bürger und ausgerechnet sie, eine damalige Touristin, musste zu der richtigen Sekunde am richtigen Ort sein, um ihm zu helfen?
Alle Klassenkameraden waren mit den Lehrern unterwegs gewesen und zwar in den damaligen Osten, nur sie nicht.
Sie hatte sich gesträubt, hatte es vorgezogen in ihrer Jugendherberge zu bleiben, weil sie ein ungutes Gefühl gehabt hatte über den Checkpoint Charly den Osten zu betreten. Sie hatte Angst davor gehabt, ja sie hatte große Angst gehabt, warum auch immer.
Dieses beklemmende Gefühl, sie hatte nie darüber nachgedacht, warum es so gewesen war. Sie wusste nur von Kindesbeinen an zu sagen, dass sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen konnte.
Irgendetwas hatte sich für sie damals nicht gut angefühlt, also bettelte sie ihren Lehrer an, ja sie flehte fasst, dass er sie beruhigt in der Herberge zurücklassen konnte, sie würde sich gut benehmen und ein wenig spazieren gehen.
Er hatte sich darauf eingelassen, sie angesehen und mit dem Kopf genickt, vielleicht hatte er sie sogar verstanden. So war sie also zurückgeblieben und ging an der Havel spazieren, alleine im Schnee, es war der 17. März 1975.
Und dort war sie diesem kleinen Jungen begegnet, der nun hier unten als ein erwachsener Mann in einem ihr völlig unbekannten Haus im Wohnzimmer saß und darauf wartete, dass sie wieder zu ihm hinunter kommen würde. Doch sie saß hier stock steif und übermannt von all den Informationen, die sie heute erhalten hatte über Menschen, mit denen sie zuvor noch nie etwas zu tun gehabt hatte, doch war es wie ein Band, was sie einander fesselte.
Sie spürte einen Sog, als sie sein Bild im Netz sah, als er ihr seine Geschichte später gemailt hatte, als er angefangen hatte von Johanna zu berichten, von seinem Sport, von der verzweifelten Suche nach seinen Wurzeln, die noch vor der Geburt seines Vaters gewachsen waren.
Was hatte sie mit dieser Geschichte zu tun? Warum hatte Frau von Heyden ihr dieses aufgetragen, warum ihr gerade? Warum so weit weg von ihrer eigenen Heimat? In Sekunden schossen ihr diese Gedanken alle durch den Kopf, offene Fragen, auf die es keine Antwort zu geben schien.
Sie sah sich wieder mit Stephan am Eiswagen stehen und wieso stand ein Eiswagen mitten im März an der Havel? Und wieso paddelte ein Junge in der eisigen Kälte in diesem Fluss zu dieser Jahreszeit?
Es war noch tiefster Winter in Berlin gewesen, es hatte Neuschnee gegeben, obwohl der Frühling kurz vor der Türe gestanden hatte. Nein, eingebildet hatte sie sich das nicht mit dem Eiswagen. Stephan hatte es ihr eben noch einmal erzählt.
Sie kniff die Augen zusammen, denn plötzlich wusste sie, dass man sie damals schon mit dem Kanupaddeln konfrontieren wollte, darum musste sie Stephan auch kennenlernen, einen Jungen, den man nicht davon abbrachte, selbst Eispaddeln zu machen, in der Havel, die zwar nicht zugefroren war, doch eisiges Wasser gehabt hatte.
Ein Junge, der großes Glück gehabt hatte, damals nicht zu kentern, er wäre erfroren. Womöglich haben seine Eltern von dieser Aktion überhaupt nichts gewusst. Als er ausgestiegen war, hatte sein Boot so stark geschaukelt, dass es innerhalb weniger Sekunden voll Wasser gelaufen war.
In diesem Moment war sie auf ihn getroffen, beobachtete dieses schon von weitem und lief eilig zu ihm hinüber, damit er sich nicht alleine daran machte, das Kanu zu retten.
„Was machst du hier? Zu dieser Jahreszeit auf der Havel in einem Kanu?“, hatte sie ihn zur Rede gestellt. Doch der kleine Junge hatte sie selbstsicher angeschaut und geantwortet, dass er trainieren müsse. Trainieren, um genauso gut zu werden, wie Wilhelm.
Veronika sprang aus dem Sessel und drehte sich nervös im Kreis. „Wie Wilhelm!“, hatte er gesagt. Ja sie erinnerte sich nun wieder genau an diese Worte. Wilhelm war also sein damaliges Vorbild gewesen.
Egal, wer dieser Wilhelm gewesen war, für Veronika war es nicht wichtig gewesen, doch jetzt, jetzt war Wilhelm wichtig, ganz wichtig sogar.
Doch das war immer noch keine Erklärung dafür, warum es diesen Eiswagen gegeben hatte, mitten im Winter am Ufer der Havel und sie dieses Eis geschleckt haben, obwohl ein heißer Kakao ihnen mit Sicherheit wohler getan hätte.
Das hatte sie nicht geträumt. Sie hielt ihre linke Hand vor den Mund und schaute sich im Zimmer um, als würde sie hier nach einer Antwort auf all ihre Fragen suchen. Das Ganze beschäftigte sie jetzt sehr, denn sie hatte genug erlebt in den letzten Monaten, was teilweise unerklärlich war, doch das hier musste sie jetzt geklärt wissen.
Veronika rekonstruierte noch einmal den damaligen Ablauf des Treffens und holte sich in Gedanken den Eisverkäufer in den Sinn, insofern ihr das jetzt noch möglich war. Sie starrte dabei auf Johannas Foto auf dem Nachttisch und biss sich auf die Unterlippe und fragte sich währenddessen, wie alt denn Johanna damals 1975 gewesen sein musste, sollte sie da noch gelebt haben.
Sie war 1916 geboren worden, also musste sie im Alter von neunundfünfzig Jahren gewesen sein.
Das war es, diese Johanna muss einfach noch gelebt haben und der Blick, den ihr nun diese Augen von diesem Foto hier entgegenwarfen, bestätigte dieses.
Vielleicht bildetet sie sich das alles ein, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf, nein, das bildete sie sich nicht ein, denn langsam wurden ihr die Momente immer präsenter, als sie damals mit der Eisverkäuferin über die Sorten sprachen, die sie im Angebot hatte.
Es waren nämlich komischer weise nur drei Sorten gewesen. Eissorten, die nicht unbedingt Veronikas persönlichen Geschmack trafen, sondern eigenartigerweise aber Stephans. Es war Nuss, dazu Himbeere und Johannisbeere.
Ja und weil sie damals nicht begeistert war und Stephans Augen aber leuchteten fiel ihr das jetzt wieder ein. Auch das die Verkäuferin etwas zu Stephan sagte, was ihr damals auch nicht so wichtig erschien, doch nun. „Du hast Glück gehabt mein Junge, dass dir diese junge Dame hier geholfen hat. Ich konnte nicht so schnell, weil ich eine Kriegsverletzung habe und sehr stark humpele, wie du weißt.“
Veronika hatte sie fragend angesehen und da erklärte die Eisverkäuferin den Grund. „Bei einem Bombenangriff wurde ich verletzt, geriet beim Sturz mit dem Fuß unter einen fallenden Betonstein, der meine Sehnen durchtrennten, darum ziehe ich den rechten Fuß hinterher. Zudem bekam mein Kopf einen Granatensplitter ab.“
Veronika hatte mitfühlend genickt und die ältere Frau hatte weiter gesprochen. “ Dieses Mädchen hier war die Rettung für dein Boot, denn du brauchst es noch. Seit einer Stunde beobachte ich dich beim Paddeln und du musst mir nun versprechen Stephan, dass du bei solch einem Wetter so etwas niemals mehr riskieren wirst.
Ich war bereits auf dem Wege zum Ufer, um dich zu rufen und dich zurückzuholen, doch da sah ich, dass du bereits auf das Ufer zu paddeltest und ich drehte mich herum und ging wieder zurück. Plötzlich hörte ich dich schreien und sah diese junge Dame auf dich zulaufen, die dein Boot, welches gekentert war, mit dir gemeinsam herauszog.“
Veronika starrte weiter dieses Bild an, nahm es in die Hände und sprach nun mit dem Bild.
„Ja, so oder so ähnlich klangen damals ihre Worte. Weißt du Johanna, diese Eisverkäuferin, sie sagte weiterhin zu deinem Enkel, dass er genauso gut im Wettkampf werden würde wie ihr Wilhelm. Bei diesen Worten schaute sie ihn auch lange an und sie wurde nervös dabei.“
Veronika atmete tief durch.
„Wie mein Wilhelm! Ja, das sagte sie, also kannte und hatte sie auch einen Wilhelm, der irgendetwas mit dem Kanusport zu tun gehabt hatte. Viele Zufälle, findest du nicht auch?“
Die junge Frau sprach weiter mit dem Foto hier, als erwarte sie nun darauf eine Antwort von diesem. Nachdenklich nickte sie mit dem Kopf und stellte es zurück auf den Nachttisch.
Irgendetwas hatte sie übersehen oder eventuell überhört in den damaligen Worten der Eisverkäuferin. Sie war ziemlich warm angezogen, hatte einen dicken Schal um den Hals gewickelt, eine Wollmütze auf dem Kopf, Fingerlinge über die Hände gestülpt. Man sah nicht viel von ihrem Äußeren, außer ein wenig von ihrem Gesicht. Es war das Gesicht, das Gesicht mit diesem markanten Grübchen im Kinn.
Schnell riss Veronika das Bild wieder an sich. „Es war das gleiche Kinn, wie du es hast Johanna. Ja Johanna, du musst diese Eisverkäuferin gewesen sein, du hast diese Eissorten selbst hergestellt, auch das hast du damals erzählt. Du hast erzählt, dass du es im Haushalt gelernt hast, wie man kocht und wie man Johannisbeereneis herstellt, weil die Kinder in dem Haus, in dem du arbeitetest, dieses besonders mochten. Johannisbeereneis, wer isst denn so etwas?
Johanna und das Johannisbeereneis. Wenn das wahr ist, so bist du im Krieg nicht verschollen oder doch?
Du wolltest doch zurückkommen am 7. November, eintreffen am Potsdamer Platz, doch du hast Berlin nie verlassen, deine Zieheltern haben das telegrafiert. Du warst verschollen.
Verschollen, weil du dich der Schande mit einem noch ungeborenen Kind nicht aussetzen wolltest. Mensch Johanna!“ Veronika schüttelte das Bild verzweifelt, weil sie keine Antworten bekam.
„Wo bist du hingegangen als du dieses Haus hier verlassen musstest?“
Eilig stellte sie die Fotografie wieder zurück und ging zur Türe, schaltete das Licht aus und ging hinunter. Für heute reichte dieses erst einmal, doch sie spürte, dass hier ganz schön etwas ins Rollen kam.
Sie selbst fühlte irgendwie mit, als wäre sie eine der Betroffenen. Hastig eilte sie die Stufen hinunter und betrat still das Wohnzimmer. Sie konnte sich rege vorstellen, was sich hier nun unten getan haben musste. Der Anblick, der sich ihr hier bot, bestätigte ihre Vormutung.
Stephan wurde hin und her gerückt, gezogen, geknuddelt und betätschelt. Verwirrt, aber auch hilfesuchend schaute er Veronika an. Doch diese lächelte verschmitzt, denn sie konnte die Freude der alten Herrschaften hier absolut nachempfinden. Das war ein Geschenk, welches man ihnen mit dieser heutigen Offenbarung gemacht hatte.