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Fahrt ins Ungewisse
ОглавлениеBerlin-Steglitz, Unter den Eichen - Sonntag, 8. November 2009
Paul Wegemann öffnete die Tür als es läutete, denn sein Sohn Stephan hatte einen plötzlichen Besuch angekündigt. Freudig begrüßte er ihn, doch war auch gleichermaßen erstaunt darüber, dass er nicht alleine war, sondern eine ihm unbekannte Dame mitbrachte. Auf den ersten Blick mochte er sie schon, denn sie strahlte etwas aus, was ihm gefiel. Veronika gab ihm scheu und verunsichert die Hand, da sie ja unangemeldet hier zu Besuch kam.
Seine Frau Luise trocknete gerade ihre Hände an einem Geschirrtuch, denn sie war noch in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt gewesen. Sie boten den beiden Platz an und das Ehepaar Wegemann schaute sie nun erwartungsvoll an.
Sie rechneten jetzt gleich damit, dass Stephan ihnen eine neue Partnerin vorstellen würde und das wiederum freute sie natürlich, fragten sich aber insgeheim, warum er nie etwas von ihr erzählt hatte, sondern sie sofort mit zu einem Antrittsbesuch brachte.
„Vater, Mutter…, ich habe für euch beide eine sehr große Neuigkeit. Ich möchte euch…!“, er stockte, denn er fand nicht so recht die richtigen Worte. „Also zunächst möchte ich euch natürlich Veronika vorstellen. Sie ist die Veronika.“
Frau Wegemann räusperte sich und rutschte ein wenig auf dem Sofa hin und her, um sich in eine bessere Sitzposition zu bringen. Sie nutze dabei die Zeit, um zu überlegen, was er denn nun damit meinte. Herr Wegemann konnte dem auch noch nicht so schnell folgen und darum nickte er Stephan auffordernd zu, mit seiner Erläuterung fortzufahren.
Dieser schmunzelte ein wenig, weil er erkannte, dass beide nicht so recht wussten, was er für ein Anliegen hatte.
Veronika presste unterdessen ihre Lippen zusammen und war in der abwartenden Position, schaute von einem zum anderen und verfolgte gespannt, wie Stephan ihnen jetzt ihre Anwesenheit hier erklären würde.
„Nun ja!“, fuhr er weiter fort. „Veronika ist, ihr erinnert euch sicherlich, ist ja erst ein paar Tage her, ist die Veronika, die junge Dame, die euch davor bewahrt hat, dass ihr 1975 tief in die Tasche greifen musstet, um mir ein neues Kanu zu kaufen.“
Herr Wegemann schaute Veronika an, als wäre sie das siebte Weltwunder. Er kannte seit fünfunddreißig Jahren nur die Tatsache, dass es eine Veronika in den Kindertagen von Stephan gab, die ihm half das Boot zu retten, aber für alle im Nachhinein eine Unbekannte war und man keine genaue Adresse hatte, um sich einmal richtig zu bedanken.
Da diese Geschichte immer mal wieder erwähnt wurde, war ihm das alles noch geläufig.“
„Sie sind Veronika aus Duisburg? Und sie haben Stephan wiedergefunden? Hat er denn wieder ein Boot versenkt?“, er grinste.
Nach diesen Worten war das Eis gebrochen und alle lachten nun herzhaft, obwohl Stephan das jetzt in diesem Moment nicht ganz so komisch fand.
„Nein!“, beschwichtigte Veronika jetzt und schaltete sich mit in diese Unterhaltung ein. „Es war Schicksal, dass wir uns begegnet sind. Im Internet war es, in einem Austauschforum. Ich sah sein Bild, klickte ihn an, ohne im Grunde genommen zu wissen, was geschehen würde. Anschließend mailte er zurück und schrieb, dass er mit mir gerne noch einmal an der Havel spazieren gehen würde.
Erst da wurde mir bewusst, wen ich angeschrieben hatte.
Es war für mich unglaublich, ich erkannte etwas in seinem Gesicht und es war irgendwie wie Magie, so dass ich ihn anschreiben musste. Allerdings hatte ich Tage zuvor eine Information erhalten, dass ich ihn wiedertreffen würde und so dachte ich, dass es nicht mit rechten Dingen zuging, denn solch ein Zufall ist schon fast nicht nachvollziehbar. Es war wie eine Bestimmung, genauso wie 1975, als ich im richtigen Moment auf ihn treffen musste, um ihm zu helfen.“
„Eine durchaus glückliche Fügung und fast wirklich unglaublich, denn ihr seid nun beide erwachsen geworden, dass ihr euch da auch noch wiedererkannt habt, nach so vielen Jahrzehnten.
Folglich sind sie also jetzt nach Berlin gereist und Stephan wird ihnen die Stadt zeigen oder waren sie zwischenzeitlich nochmals hier Veronika?“, fragte Herr Wegemann.
„Nein, ich bin danach niemals mehr hier gewesen. Es ist erstaunlich, was sich alles nach dem Mauerfall getan hat.“
Stephan schloss sich der Unterhaltung wieder an und Frau Wegemann servierte ihren Gästen noch Getränke.
„Vater, Veronika ist noch aus anderen Gründen hier, aber dazu kommen wir später einmal, denn zunächst möchte ich euch beide einladen mitzukommen, weil wir eine große Überraschung für euch haben. Wir machen mit euch beiden einen Ausflug.“
Die Eheleute Wegemann schauten sich erstaunt an und wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Aber sie fragten auch nicht lange nach, nur wie lange sie denn unterwegs sein würden, da es ja schon Mittag wäre und ob es denn in die Abendstunden noch gehen würde.
Stephan antwortete, dass sie durchaus mit einigen Stunden rechnen könnten. Also machten sich die beiden startklar und zogen auch warme Bekleidung an, denn für sie war eigentlich klar, dass es in die Stadt ging und man sich sehr viel draußen aufhalten würde. Sie freuten sich sehr, dass Stephan sie mit eingeplant hatte, wenn er seinem Gast einiges von Berlin zeigen würde.
Sie waren schon wenige Minuten gefahren als Herr Wegemann nun aber doch einmal nachfragte, wohin es denn gehen würde, denn Stephan hatte genau die Gegenrichtung eingeschlagen, als angenommen, nämlich die, die in Richtung Charlottenburg führte und nicht in die Innenstadt, wo doch für Touristen eigentlich die interessanten Punkte zu finden waren, die man einfach gesehen haben sollte, wenn man diese Stadt besucht.
„Wir fahren Richtung Grunewald Vater, um genauer zu sein zur Koenigsallee, denn dort werden wir zum Kaffee erwartet. In wenigen Minuten sind wir da!“
„Koenigsallee, zum Kaffee? Da staune ich aber. Dort sind doch diese wunderschönen herrschaftlichen Häuser und dort sind wir eingeladen? Wir vier? Wen kennen wir denn dort? Oder du Stephan, wohnt dein Chef vielleicht in dieser Straße oder haben sie dort vielleicht Bekannte Veronika? Aber warum sind denn deine Mutter und ich mit dazu eingeladen?“
Die beiden jungen Leute schmunzelten, denn sie wollten und konnten auch noch nichts verraten.
Bei all dem Schönen, was es heute noch geben würde, musste man auch sehr einfühlsam an die Sache herangehen.
„Das sind viele Fragen Vater, doch es ist eine Überraschung. Ein Vorweihnachtsgeschenk sozusagen.“
Stephans Mutter schwieg dazu lieber, denn sie hatte ein eigenartiges Gefühl. Sie konnte Geheimnissen nicht viel abgewinnen, denn meistens waren diese für sie mit einem bitteren Beigeschmack behaftet.
Nach wenigen weiteren Fahrminuten parkte Stephan sein Fahrzeug ein und half seinen Eltern beim Ausstieg. Nun durchquerten sie einen bereits sehr herbstlich gewordenen Vorgarten, stiegen die steinerne Treppe einer alten Stadtvilla hinauf und Stephan betätigte die Türklingel.
„Mein lieber Mann!“, brachte Herr Wegemann noch heraus, denn er fand das Haus sehr interessant, diesen Baustil, dieses Alter, dieses Gepflegte. Die Türe wurde von dem Hausmädchen geöffnet, welches gestern den Tee serviert hatte und da Familie Wegemann bereits erwartet wurde, bat sie die Gäste auch direkt hinein und nahm ihnen die dicken Mäntel ab.
Sie waren ein wenig verschneit, denn so langsam hatte sich das Wetter gänzlich auf Winter umgestellt. Das Mädchen geleitete den Besuch ins Wohnzimmer und hier empfing sie eine wohlige Wärme. Der Kamin war angezündet worden und knisterte still vor sich her. Neben diesem Kamin stand ein älterer Herr und eine vom Alter her passende Dame saß auf einem Sessel.
Stephan und Veronika betraten als erste den Raum, gefolgt von Paul und Luise. Bei ihrem Eintritt erhob sich die ältere Dame aus ihrem Sessel und ging ihnen entgegen.
„Guten Tag Stephan, da bist du ja. Guten Tag Veronika!“, sagte sie freundlich und wandte sie sich anschließend an die anderen Gäste.
„Gestatten, ich bin Mathilde Behren. Sie müssen Luise und Paul sein!“
Stephans Eltern waren etwas überrascht, nickten kurz, gaben der Dame die Hand und stellten sich mit ihrem Namen vor. Sie waren sehr verwundert darüber, dass man sie hier so familiär empfing, auch dass sie Stephan duzten. Sie konnten sich das alles nicht erklären, denn er hatte ihnen nie irgendetwas über die Bekanntschaft der beiden älteren Herrschaften hier erzählt.
Verlegen schauten sie alle in die Runde und Mathilde zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und trocknete einige Tränen, denn sie war übermannt nun ihrem Neffen gegenüber zu stehen. Wilhelm war mit Absicht im Hintergrund geblieben und schaute gebannt auf dieses Schauspiel.
Er hielt sich mit einer Hand am Kaminsims fest und sah seinem Sohn, der bisher noch keine Zeit gehabt hatte sich um den nächsten Gastgeber zu kümmern, ins Angesicht. Ihm stockte der Atem, als er die Ähnlichkeit dieses Mannes mit Johanna sah. Er hatte das gleiche markante Kinn wie sie, genauso wie es Stephan auch hatte, die gleichen stahlblauen Augen wie sie und sein Enkelsohn.
Veronika bemerkte eine aufkommende Schwäche Wilhelms und ging zu ihm hinüber und hakte sich bei ihm ein, um ihm eine zusätzliche Standfestigkeit zu bieten. Mathilde trat nun in den Hintergrund und bat die Gäste doch bitte weiter einzutreten, um ihren Bruder zu begrüßen.
Stillschweigend folgten diese der Aufforderung und Stephan hakte sich nun bei seinem Vater unter und begleitete ihn zum Kamin. Als sie vor Wilhelm standen herrschte zunächst einmal ein betretenes Schweigen. Herr und Frau Wegemann erkannten nun auch hier, dass der Mann ihnen gegenüber ebenfalls Tränen in den Augen hatte.
Verlegen drehte Paul sich noch einmal herum und schaute Mathilde an, denn er fand keine Erklärung, warum diese Menschen hier anfingen zu weinen, nur weil er und Luise in dieses Haus als Gäste kamen.
Er konnte sich absolut keinen Reim darauf machen und auch nicht verstehen, weshalb sein Sohn ihn hierher geführt hatte.
„Vater, du musst nun sehr stark sein!“, begann Stephan leise.
Luise spitze die Lippen und streckte ihren Kopf in die Höhe, als sie dieses hörte. Sie hatte also recht gehabt, eben im Auto mit ihrer Vermutung, dass Überraschungen meistens nichts Gutes bedeuten, denn das, was sich hier gerade abspielte war sehr bedrückend, auch wenn sie noch nicht einmal ahnte, warum ihr Paul nun sehr stark sein musste.
Sie schaute Veronika an, um irgendetwas in ihrem Gesicht zu ergründen, doch diese lächelte ihr nur aufmunternd zu und nickte.
Paul sah seinen Sohn an und anschließend wieder Herrn Behren. „Vater, ich möchte dir hier Herrn Behren vorstellen, Behren Textil in Charlottenburg, vielleicht sagt dir das etwas?“
„Ja, Behren Textil sagt mir etwas. Während des Krieges war die Firma unter der Leitung der Wehrmacht gefallen, doch nach dem Krieg wurde diese wieder umgerüstet und erwarb sich einen sehr bekannten Namen in der Textilbranche und das bis zur heutigen Zeit.
Soweit ich informiert bin wurde sie später an einen großen Modemacher verkauft, der aber den ursprünglichen Namen, das Markenzeichen der Firma sozusagen, übernommen hat. Ich war bis vor wenigen Jahren auf dem Finanzamt in Charlottenburg tätig Herr Behren, daher ist mir ihr Firmensitz bekannt. Verzeihung, die Steuergelder, aber…!“
Er erkannte mit einmal, dass dieses hier wohl nicht das Thema war und schwieg betroffen, denn er spürte, dass hier etwas Ernsthafteres in der Luft lag.
„Vater, ich möchte dich mit deinem Vater bekannt machen. Wilhelm Behren hier ist dein leiblicher Vater!“ So nun war es endlich heraus.
Wilhelm schluckte, Paul starrte diesen verwirrt an und danach seinen Sohn. „Was sagst du da Stephan? Behren ist mein Vater?“ Seine Knie wurden weich und Luise hatte sofort die Situation unter Kontrolle und klammerte sich an ihren Mann von der anderen Seite, um ihm beizustehen.
„Sie sind mein Vater? Seit wann? Ich, ich… meine, woher wollen sie das wissen? Seit wann wissen sie es und du Stephan, seit wann?“ Er war etwas lauter geworden.
Nun sprach Wilhelm ruhig und sehr bedacht. „Seit gestern Paul, seit gestern weiß ich es erst. Ich habe bis gestern nicht gewusst, dass ich überhaupt einen Sohn habe.“
Mathilde hielt sich die Hand vor dem Mund, um sich zum Stillhalten zu zwingen. Stephan griff nun mit ins Geschehen ein und bat alle Platz zu nehmen. Etwas durcheinander folgten sie seiner Aufforderung. Es schien, als stünden sie alle unter einem Schock.
„Ich hatte nie einen Vater, nur einen Adoptivvater, aber auch hatte ich nie eine Mutter, nur Else Knippertz, meine Ziehmutter. Sie erzählte mir, dass meine leibliche Mutter im Krieg umgekommen ist. Ist das wahr?“
Ein schwieriger Moment war gekommen, ein kritischer Moment. „Herr Wegemann, ihre Mutter ist seit 1943 verschollen, das stimmt, da verlor sich ihre Spur, zeitweise aber auch zwischen dem Juli 1941 und dem Februar1943 kann man ihre Zeit nur vage rekonstruieren.
Was danach geschah steht alles offen im Raume, doch Herr Behren wird alles daran setzen, die Sache aufzuklären. Bitte Herr Wegemann hören sie mir zu. Bis gestern ahnte weder Stephan noch Herr und Frau Behren hier, noch ich, dass wir jemals etwas erfahren würden.
Durch meine schicksalhaftes Wiederbegegnung mit ihrem Sohn Stephan, kamen wir auf die Spur ihrer Mutter, auf Johannas Spur.“ Veronika hatte leise die ersten entscheidenden Worte gesprochen.
Paul Wegemann stand auf und ging um den Tisch und beugte sich in die Hocke vor seinem Vater. Veronikas Worte hatten ihn angesprochen. Dadurch war ihm klar geworden, dass alle Menschen hier in diesem Raum mit einer völlig neuen Situation in ihrem Leben konfrontiert worden waren.
„Vater, bitte verzeih, dass ich eben so geschockt war. Wenn man nach siebenundsechzig Jahren plötzlich einen Vater bekommt, endlich seine Wurzeln entdeckt, das ist wie ein Wunder. Ich fühlte mich als halber Mensch, weil ich nicht wusste woher ich kam.
Der Namen meiner Mutter Johanna ist mir ein Begriff, denn Else Knippertz hatte mir ja das wenige, was sie von ihr wusste, erzählt. Das ist aber auch nicht viel, denn Johanna hat ihr gegenüber auch nie den Namen meines Vaters erwähnt. Sie wollte ihn, dich Vater, vermutlich schützen.“
Wilhelm Behren schaute seinen Sohn traurig an und streichelte ihm über den Kopf. „Ich verstehe das auch nicht und glaube mir, hätte ich dieses geahnt, ich hätte alles daran gesetzt, dich zu finden. Ich habe sie geliebt, ich liebe sie heute noch. Diese Ungewissheit macht mich schier wahnsinnig.
Meine Eltern sind wohl dahinter gekommen, dass wir ein Paar waren und da haben sie mit fadenscheinigen Ausreden Johanna praktisch hinauskomplementiert, ohne mit uns darüber zu sprechen. Doch Johanna und ich, wir hatten uns einen Treffpunkt ausgemacht, es war der Potsdamer Platz am 7. November, nachmittags gegen 15.00 Uhr.
Man schickte sie zurück in ihre Heimat an den Baldeneysee, doch wir wollten es nicht zulassen, dass man uns nicht trennte und deshalb vereinbarten wir dieses Treffen für wenige Monate später. Seit vielen Jahrzehnten fahre ich jährlich zum erwähnten Zeitpunkt an den Potsdamer Platz, doch erfolglos.
Sie ist nie zurückgekommen. Aber auch im Ruhrgebiet kam sie 1941 nie an. Es verlor sich für uns jegliche Spur. Wir waren der Meinung bis dato, dass sie dem Krieg zum Opfer gefallen war, doch jegliche Suchaktionen scheiterten.
Erst gestern ging ich wieder mit dem Begrüßungsschild von 1932 zum Potsdamer Platz. Doch auch da kam sie nicht an. Stattdessen wurden die beiden jungen Leute hier auf mich aufmerksam und sprachen mich an. Es war für mich, als wäre Johanna durch diese Begegnung neu geboren worden. Ich habe sie nie vergessen können und zudem habe ich nie wieder eine andere Frau geliebt.“
Die beiden Männer erhoben sich und umarmten sich. Luise Wegemann und Mathilde Behren weinten still. Stephan und Veronika rückten auf dem Sofa ganz eng beieinander und hielten sich an den Händen. Die Szene, die sich hier abspielte, war wie in einem Film. Wie am Tag zuvor abgesprochen, ersparte man aber Paul Wegemann die Geschichte von Johanna und dem Eiswagen.
Er musste dieses hier erst einmal verarbeiten. Es wurde ein sehr langer Nachmittag im Hause der Behren und zum Schluss führte man die Gäste hinauf in Johannas Zimmer.
Als sie die Treppenstufen hintereinander bestiegen, glich das Ganze einem Trauerzug. Alle schwiegen und waren in ihren eigenen Gedanken versunken. Oben angekommen, standen sie betroffen weiterhin still. Im Halbkreis versammelt, ließen sie alles auf sich wirken.
Mathilde nahm Johannas Foto in die Hand und reichte es an Paul Wegemann. Dieser nahm es zögernd in die Hand und schaute es an. Nun kamen ihm die Tränen, denn er sah zum ersten Male in seinem Leben das Bild seiner Mutter. Luise hakte sich wieder bei ihm unter, um ihm Halt zu geben. Immer wieder fiel sein Blick auf seinen Sohn Stephan, der seiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten war.
„Johanna lebt noch!“
Diese Worte vernahmen plötzlich alle Anwesenden aus dem Munde von Veronika. Stephan starrte sie an. Wie konnte sie so etwas felsenfest behaupten? Wie konnte sie eine vage Vermutung in den Raum werfen, wo doch dieses Hoffnung schüren würde?
Über sich selber erschrocken errötete sie und blickte alle ängstlich an.
„Es tut mir leid, ich weiß gar nicht, warum ich das jetzt gerade so sagen konnte. Ich spüre es instinktiv. Sie ist hier mit ihrer Energie, in diesem Raum für mich präsent, ganz so als wäre sie unter uns. Ich fühle, dass sie noch lebt. Bitte verzeihen sie mir, doch ich werde nicht aufgeben, bis ich dafür Beweise habe.“
Unsicher schaute man sie an, berührt von dieser Aussage und Hoffnung keimte plötzlich auf. Veronika nahm Paul Wegemann vorsichtig das Foto aus der Hand und schaute es an. Sachte setzte sie noch eine Behauptung oben drauf, die sie leise und bedächtig aussprach.
„Ich habe sie gesehen.“
Stephan erwachte aus seiner Erstarrung und ging zu ihr hinüber und rüttelte sie leicht an den Schultern.
„Veronika, was redest du denn da?“ Angst kam in ihm hoch, dass sie in ihrer Verfassung jetzt anfing über Johannas Eiswagen zu erzählen, doch als er in ihre Augen schaute, sah er etwas, was ihn schweigen ließ. Sie hatte ihre Augenlider zusammengekniffen und schien ganz weit weg zu sein, als würde sie etwas erkennen, es aber noch nicht deutlich beschreiben können.
„Johannas Gourmet-Eis! Potsdamer Platz.“
„Du meinst das Eiscafé am Potsdamer Platz hat etwas mit Johanna zu tun?“ Stephan wiederholte erstaunt diese Aussage.
„Nicht nur das. Hast du sie nicht gesehen?“
„Wann und wo?“
„Im Bahnhofsgebäude, die alte Dame im langen Regenmantel, die gestützt auf einem Spazierstock an uns vorüberzog, als wir mit Wilhelm sprachen.
Sie blieb kurz stehen, schaute mich eine Zeit lang an, doch ich war so abgelenkt wegen des Schildes, welches Wilhelm in seiner Hand trug. Sie schaute mir direkt in die Augen und nickte und sie… !“
Veronika überlegte und versuchte diese Szene vor ihrem geistigen Auge noch einmal ablaufen zu lassen.
„Sie nickte mir aufmunternd und leicht lächelnd zu, ja sie nickte,“, wiederholte sie, „ und humpelte langsam weiter. Du kannst sie eigentlich nicht gesehen haben, denn du und Wilhelm, ihr hattet ihr den Rücken zugekehrt. Sie verschwand kurze Zeit später in der Menschenmenge.
Ich habe es im Unterbewusstsein registriert.
Als wir mit Wilhelm das Gebäude verließen, drehte ich mich noch einmal flüchtig um und entdeckte sie wieder. Sie stand ganz weit von uns entfernt, hatte uns beobachtet und sie lächelte mich wieder an.“
Wilhelm schwächelte und taumelte.
„Lasst uns zum Potsdamer Platz fahren bitte. Ich muss in dieses Eiscafé. Es ist 17.00 Uhr, vielleicht haben wir Glück und es hat noch geöffnet!“, wisperte er.
Stephan und Paul nickten. Auch sie waren von Veronikas Worten in einen regelrechten Bann gezogen. Es klang sehr plausibel und einleuchtend, vielleicht war es eine Chance.
So verließen sie das Zimmer und gingen die Stiegen hinunter. Luise Wegemann und Mathilde Behren blieben zurück und die vier anderen machten sich auf den Weg.
Eine Stunde später standen sie winterlich angezogen im Schneegestöber an der Ampeluhr am Potsdamer Platz und schauten sich um. Die Menschen hasteten an ihnen vorüber und sie gingen langsam auf dieses Café, welches sich in einem der Geschäftsgebäude am Potsdamer Platz befand, zu.
Sie hatten Glück denn es hatte trotz der Witterung geöffnet. Die freundliche junge Bedienung fragte nach den Wünschen der gerade hineingekommenen Kunden.
„Wir möchten Johanna sprechen!“. Selbstsicher hatte Veronika diese Worte ausgesprochen.
Verwundert schaute die junge Frau sie an. „Sie möchten wen sprechen?“
„Johanna. Frau Johanna Wegemann.
Ihr gehört doch dieses Café oder ist das ein Irrtum unsererseits?“
„Einen Augenblick bitte, ich hole in der Küche meine Chefin.“ Mit diesen Worten huschte sie eiligst durch eine Schwenktüre in einen der hinteren Räume. Wenige Minuten später erschien eine etwas korpulente, aber sehr freundlich wirkende Dame mittleren Alters.
Diese trocknete noch gerade ihre Hände ab und trat vor die Eistheke.
„Sie möchten Johanna Wegemann sprechen meine Herrschaften? Es tut mir leid, diese Dame gibt es leider nicht. Meine Vorgängerin hieß Johanna, aber nicht Wegemann, sondern Wiegemann. Zudem, wenn sie diese Johanna meinen, sie würde das in ihrem Alter auch nicht mehr schaffen, hier zu arbeiten.
Da kommen sie leider achtzehn Jahre zu spät. Ich habe dieses Café 1991 übernommen, aber ihren Namen als Aushängeschild behalten, denn Frau Johanna war für ihr Eis berühmt geworden, besonders für das bekannte Johannisbeereis, welches nicht viele Cafés in ihrem Sortiment anbieten.“
Paul verstand gar nichts. Seine Mutter lebte also unter einem etwas abgewandelte Namen und hatte sich auch nie bei ihm gemeldet?
Es war für ihn erneut ein Schock. Was hatte diese Frau zu verheimlichen?
Wilhelm, Stephan und Veronika hatten nun wieder Jahre der Existenz nach 1978 von Johanna dazu bekommen. Sie sahen Paul förmlich an, was in ihm nun vorging.
Wilhelm wandte sich wieder an die Besitzerin des Cafés.
„Sagen sie, wo finden wir Johanna Wegemann?“
Hoffnungsvoll erwartete er nun eine Antwort.
Doch diese zuckte nur mit der Schulter und antwortete: „Es tut mir leid, dass ich ihnen da nicht weiterhelfen kann. Sie ist damals aus Berlin fortgegangen. Sie sagte mir, dass sie nun dieser Stadt den Rücken kehren müsse und wegziehen würde.
Zu viele Erinnerungen würden sie prägen und sie habe viel zu lange in einem starken Schmerz gelebt. Jeder Schritt, den sie hier gehen würde, täte ihr in ihrer Seele weh.
Sie habe keine Heimat. Weder wüsste sie, woher sie eigentlich kam, noch wohin sie ihr weiterer Weg führen würde. Sie hätte niemanden, dem sie sich anvertrauen könne und fühle sich hier sehr einsam unter all den vielen Menschen in der großen Stadt.
Zudem empfahl sie mir das Rezept des Johannisbeereis niemanden zu verraten, es wäre mein Kapital. Die Kunden würden es so sehr mögen, dass sie extra dafür hier in dieses Café kämen. Und Vorsicht, die Konkurrenz wäre auf der Hut.
Nach der damaligen Geschäftsübergabe habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.“
Paul setzte sich auf einen der Caféhausstühle. Er wirkte müde und blass. Das war alles zu viel für ihn heute gewesen. Die Chefin rief nach der Bedienung, sie solle Cognac für die Gäste bringen, denn sie erkannte sofort, dass die beiden älteren Herren hier in einem ziemlich desolaten Zustand waren.
Dankbar nahmen die beiden das angebotene Getränk zur Stärkung an. Veronika nahm auch Platz und nickte still vor sich hin. Sie war nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, dass sie gestern Johanna im Bahnhofsgebäude hier am Potsdamer Platz gesehen hatte.
Doch wo fing nun die Suche an? Sollte sie zunächst das Buch lesen, welches sie morgen im Antiquariat abholten oder sollte sie in sich gehen und logisch nachdenken, vielleicht über Ämter nachforschen wohin Johanna damals 1991 gegangen war?
Eigentlich erschien ihr beides wichtig. Fest stand, dass Johanna mit einem zusätzlichen Buchstaben ihren Nachnamen verändert hatte. Denn schließlich musste sie sich ja ausweisen, wenn sie ein Gewerbe oder eine Wohnung angemeldet hatte.
Doch heute nach einer Johanna Wiegemann zu forschen, das war nicht so leicht, denn diese gab es ja gar nicht, zumindest war dieser Name nicht ihrer Person zugehörig.
Nach dem Krieg, wo viele Papiere vernichtet waren, muss es wohl ein leichtes gewesen sein, seine wahre Identität zu verändern.
Sie hatte diese Maßnahme gewählt, um nicht entdeckt zu werden, warum auch immer. Somit hat sie später vielleicht wieder einen anderen Namen gewählt, damit niemand sie auffinden konnte.
Es war ein schwieriges Unterfangen. Eindeutig war allerdings, dass es sich bei Johanna Wiegemann um Johanna Wegemann gehandelt haben musste, denn das Johannisbeereis oder anderen Beschreibungsdetails, die aus dem Gespräch mit der neuen Cafébesitzerin herauszuhören waren, wie zum Bespiel den nachziehenden Fuß, das konnte nicht zufällig alles identisch mit der Person der gesuchten Johanna sein.
Nach einer halben Stunde verließen sie nachdenklich und schweigend die Lokalität und fuhren wieder Richtung Koenigsallee.