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Berlin, Koenigsallee – Die alte Zeit

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Veronika fror, denn es war mittlerweile sehr kalt geworden. Zudem war sie ziemlich erschöpft und müde von der langen Reise. Als sie die alte Steintreppe zur Haustüre bestiegen, kamen ihr wieder Erinnerungen an Bad Neuenahr wo sie vor kurzem noch in solch einem ebenso alten Haus unglaubliche Dinge erlebt hatte. Für kurze Momente wurde sie noch einmal von einem Schmerz überfallen, als sie an Ruppert dachte, doch sie schüttelte es ab, denn das war nicht mehr ihre Geschichte.

Eine ältere Dame öffnete die Türe. Sie wirkte fast genauso steinalt wie Herr Behren. Freundlich, aber auch erstaunt, begrüßte sie die ankommenden Gäste.

„Darf ich ihnen meine Schwester Mathilde Behren vorstellen?“, sagte Wilhelm Behren, während Veronika und Stephan ihr die Hand zur Begrüßung reichten. „Meine Schwester ist hier die rechte Hand, sie sorgt und kümmert sich immer noch vorbildlich um unseren gemeinsamen Haushalt. Übrigens, dieses Haus hier erbauten unsere Eltern im Jahre 1902. Seitdem ist es im Familienbesitz und es ist groß genug, dass wir beide, also meine Schwester und ich, die wir nie geheiratet haben, genügend Platz finden.“

Auf Veronika wirkte das irgendwie traurig, denn sie konnte sich sofort das Leben der älteren Herrschaften hier vorstellen, wie sie all die letzten Jahrzehnte hier auf sich gegenseitig aufgepasst und sich versorgt hatten, in stiller Zufriedenheit, denn so wirkten sie auf sie. Irgendwie zufrieden, doch hatten sie beide auch einen traurigen Blick. Nachdem sie sich der Mäntel und Mützen entledigt hatten, schwieg Mathilde Behren zunächst und musterte erschreckt Veronika, deren Gesicht nun deutlich zu erkennen war.

Verwirrt bat sie die Gäste in das angrenzende Wohnzimmer, von wo aus man einen wunderschönen Blick in einen großen verglasten Wintergarten hatte.

Das Feuer im Kamin brachte wohlige Wärme und Stephan und Veronika fühlten sich dort direkt wohl. Das Zimmer war mit sehr alten Möbeln bestückt, wirkte aber trotzdem nicht unmodern, sondern eher zeitlos und sehr einladend, besonders die dick gepolsterten Sitzmöbel luden zum Verweilen ein.

Frau Behren betätigte ein goldenes Glöckchen, welches auf einem Servierwagen lag und wenige Sekunden später erschien ein Mädchen in einem schwarzen wadenlangen Kleid und einer kleinen weißen Spitzenschürze, die sie umgebunden hatte. Leise erkundigte sie sich nach dem Wunsch der Herrschaften.

Sie erhielt den Auftrag Tee und Gebäck zu servieren, während alle Anwesenden erst einmal Platz nahmen.

Dass es so etwas Vornehmes noch gibt, das ist hier ganz so, als wäre die Zeit in der Frühepoche des letzten Jahrhunderts stehen geblieben, dachte Veronika im Stillen.

„Sicherlich sind sie sehr müde!“, wandte Herr Behren das Wort nun an die für ihn noch junge Frau. „Ihnen muss es so ergehen wie Johanna damals, denn ihre Reise war ja heute eigentlich noch etwas weiter, wenn sie aus Wiesbaden kommen.“

„Ja ein wenig bin ich schon geschafft!“, seufzte sie ehrlich, doch ihre Neugierde auf das Ganze hier weckte in ihr wieder die müden Geister.

Mathilde starrte sie immer noch entgeistert an und ihr Bruder bemerkte es sofort.

Auch kannte er den Grund dafür, denn ihm war es eben im Bahnhofsgebäude nichts anders ergangen, als er Veronika zum ersten Mal sah.

„Ist sie wieder nicht angekommen?“ Den Blick nicht von Veronika abwendend, stellte sie ihrem Bruder diese Frage, aber irgendwie wirkte sie auch geistesabwesend.

„Nein Mathilde, sie kam wieder nicht!“, meinte er traurig. „Doch dafür bringe ich dir ihren Enkel mit, Stephan Wegemann, der junge Mann, den du hier siehst. Er war zufällig am Potsdamer Platz um dort Veronika Dupont, seine Begleiterin hier, abzuholen. Sie haben mich gesehen, als ich mit dem Empfangsschild für Johanna an ihnen vorüberzog und sprachen mich verwundert an.“

Mathilda Behren war blass geworden.

„Ich habe es gewusst, ich wusste es einfach, dass Johanna ein Kind bekommen haben musste. Als ich sie das letzte Mal sah, Ende Juli 1941, da ging es ihr nicht besonders gut, sie wirkte blass und müde. Aber auf meine Frage hin, wie es denn um sie gestellt war, gab sie keine Antwort.

Ich bezog es darauf, dass sie mitten in ihrem Umzug steckte und es ihr deshalb so schlecht ging. Doch nun wird mir einiges klar.“ Tränen standen in ihren Augen, denn sie sah vor ihrem geistigen Auge die dramatische Situation von damals wieder vor sich.

Stephan starrte sie an. Er wurde sehr nervös und rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her, denn nun wusste er, was er hier gleich zu hören bekam. Es war die Geschichte bis Juli 1941, die Geschichte seiner Großmutter, die Zeit vom 7. November 1932, die am Potsdamer Platz hier in Berlin begann und nun bis Juli 1941 präsent war. Das erste wirkliche Zeitfenster aus dem Leben von Johanna ohne Spekulationen, ohne dass irgendetwas unklar sein würde, das würde er nun erfahren. Vielleicht konnte man damit schon etwas anfangen.

„Erzähle du es ihnen Mathilde, mich wühlt es zu stark auf!“, schluckte Herr Behren schwer und schwieg.

Nachdem der Tee serviert worden war, schauten alle nun gespannt Mathilde an. Stephan rückte etwas näher an Veronika, er hatte Angst und ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. Er war froh, dass Veronika spürte, wie er sich fühlte und so legte sie ihre Hand auf seine, um ihm das Gefühl zu geben, dass er nicht alleine war und sie ihm beistand.

Nun begann Mathilde leise und mit Bedacht ihre Geschichte zu erzählen.

„Es war der 30. Juli 1941 als Johanna unser Haus verlassen musste. Auf Wunsch unserer Eltern, die dieses bestimmt hatten, wurde sie aus dem Dienst in unserem Haushalt entlassen. Ich erfuhr nur noch von ihr, dass sie wieder zurückgehen würde ins Ruhrgebiet, denn hier in Berlin hätte sie keine Chance.

Es war Krieg und sie wollte heimkehren zu dem Gutshof, von dem sie 1932 gekommen war. Unsere Tuchfabrik war enteignet worden, wir konnten uns keine Haushaltshilfe mehr leisten. Mit Müh und Not hatte man noch ein Eisenbahnbillett bekommen, damit sie bis nach Essen reisen konnte. Per Telegramm wurden ihre Zieheltern informiert.

Wenige Tage später bekamen wir ein Telegramm von ihnen zurück, dass Johanna nie dort angekommen sei. Sämtliche Suchaktionen scheiterten, sie war nicht auffindbar, weder hier in Berlin noch im Ruhrgebiet.

Zudem herrschte ja wie gesagt Krieg und niemand hatte bei den Behörden auch wirklich Zeit, sich intensiv um eine Suche zu kümmern, dafür gab es schon zu viele Vermisste mittlerweile.“

Mathilde Behren legte eine Pause ein und ließ das alles zunächst einmal auf ihre Gäste wirken.

Stephan schaute Veronika an und schluckte. Ihm war nun eines klar und er meinte: „Johanna muss noch mindestens ein dreiviertel Jahr in Berlin verbracht haben, ehe sie endgültig verschwand, denn ihre Spur verlor sich um genau zu sein in der Nacht zum 2. März 1943.

Das haben wir von Else Knippertz erfahren, einer damaligen Freundin und Nachbarin in den Hackeschen Höfen, in der wohl auch meine Großmutter eine Zeit lang gelebt hatte. Else adoptierte später meinen Vater, damit er nicht in einem Waisenhaus untergebracht werden musste.“

Still saß man nun im Wohnraum der Geschwister Behren und jeder hing seinen Gedanken nach. Da meinte Herr Behren: „Lassen sie uns doch morgen noch einmal hier zusammenkommen und wir erzählen ihnen über das Leben von Johanna, als sie ihre Zeit in unserem Haus hatte.

Das war heute schon so viel an neuen Informationen, auch für uns, dass wir es erst einmal ruhen lassen sollten, um vielleicht gemeinsam einen Weg zu finden, die Sache endlich aufzuklären.“

Stephan nickte zustimmend, denn auch er fand diesen Vorschlag angebracht und er schaute Veronika an, was sie dazu sagen würde. Diese aber kniff ein wenig die Augen zusammen, als überlegte sie gerade stark etwas. Sie fragte folgendes, eigentlich zum Erstaunen der anderen, denn sie war schon ein Stück weiter, vermutlich weil sie nicht nur mit Worten etwas anfangen konnte.

Sie benötigte ein Feeling und ein Umfeld, wo Menschen gelebt haben, sie wollte die Energien noch spüren, die ja in der Materie hinterlassen werden, auch wenn ein Mensch längst nicht mehr physisch anwesend war: „Gibt es noch das Zimmer hier in diesem Haus, in dem Johanna damals gelebt hat?“

Mathilde Behren glühte förmlich und nickte: „Ja, es befindet sich im oberen Geschoss, das ist die 2. Etage, ein Mansardenzimmer. Wir haben nach ihrem Auszug nie den Mut gehabt, es auszuräumen oder umzugestalten. Später, nach dem Krieg, haben wir beschlossen, es so in dem Zustand zu belassen, wie sie es damals verlassen hatte, ihr zum Angedenken.“

Das war mehr als Veronika sich in diesem Moment erhofft hatte, denn genau das war super wichtig für sie, so konnte sie dieses Zimmer auf sich wirken lassen als hätte Johanna es gerade erst verlassen. Sie biss sich auf die Unterlippe und schaute die Geschwister Behren fragend an, mit der Bitte in ihren Augen, ob sie vielleicht nun zum Abschluss des Gespräches bereit waren, ihnen das Zimmer zu zeigen.

Mathilde erkannte sofort ihren Wunsch und sie stand auf, um ihre Gäste hochzuführen. Wilhelm Behren hingegen atmete tief durch, denn er würde diesen Weg nicht mitgehen. Nach dem Johanna damals das Haus verlassen hatte, betrat er niemals mehr diesen Raum. Veronika überlegte kurz und sprach nun eine weitere Bitte aus: „Bitte Frau Behren und Stephan, ich möchte sehr gerne Momente allein in diesem Raum verbringen. Ich würde dich später rufen Stephan, wenn es dir recht ist.

Es gibt etwas, was mich hier in diesem Haus stark bewegt. Frau Behren, wenn sie mir vertrauen, mir den Weg erklären bis zu diesem Zimmer, wäre es mir wirklich ein Bedürfnis, dieses zunächst in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Sie sollten eines von mir wissen, nämlich dass ich erst kürzlich eine eigene Geschichte erlebt habe, die ich im Grunde noch nicht ganz verstehe, weil es teilweise unerklärlich war.

Es hatte auch mit einem Feingespür zu tun und mit dem Leben von Menschen aus einer anderen Zeit. Ich trug ein Gefühl in mir, was mich erkennen ließ, das damals etwas im Argen lag.

Zum Ende dieser sehr anstrengenden Geschehnisse, bekam ich eine Information von einer sehr alten Dame, die mich darauf aufmerksam machte, dass ich an Berlin Potsdamer Platz 1932 denken solle, er würde dort auf dich warten, ein gewisser Stephan, ich hätte etwas zu regeln oder zu helfen und herauszufinden.

Somit geschah es also, dass diese Verbindung zu Stephan hier nach vierunddreißig Jahren wieder durch einen Zufall oder ich nenne es einfach Fügung, zustande kam. In der Tat, nun sitze ich hier und rutsche mitten in diese Geschichte hinein, von der ich mir noch nicht einmal erklären kann, warum ich mit involviert bin.

All das Ganze bewegt mich jetzt, denn ich vermute stark, dass es einen Grund hat, dass selbst ich hier nun mit eingebunden bin. Somit muss ich also nicht nur Stephan und ihnen Hilfe leisten, sondern sogar mir selbst. Die Tatsache, dass Sie mich heute entsetzt angeschaut hatten, als würden Sie mich kennen, gibt mir zusätzlich zu denken.“

Die Angesprochenen schauten Veronika an, als würden sie diese vielen Informationen hier auf die Schnelle gar nicht verstehen können. Ihnen war klar, man musste Veronika diesen wichtigen Vorsprung lassen, das Gespür, welches sie in sich trug, um alles auf sich wirken zu lassen. Zumindest war es die erste Chance, auch wenn Stephan am liebsten direkt in das ehemalige Zimmer seiner Großmutter gestürzt wäre.

Ihm wurde bewusst, dass sich durch das Zusammentreffen mit Veronika nun einiges in seinem Leben verändern würde.

Er, der jahrzehntelang auf der Suche nach Hinweisen seiner Vorfahrin gewesen war, erhielt innerhalb von zwei Stunden ihrer Anwesenheit hier in Berlin so viele Informationen, wie nie zuvor. Der Moment ihrer Ankunft am Potsdamer Platz heute Nachmittag brachte ihm im Grunde genommen gleichzeitig das wirkliche Eintreffen seiner Großmutter nahe, denn eine ähnliche Szene spielte sich heute dort ab, als Wilhelm Behren diese damalige Ankunft von Johanna in seiner Hoffnung nacherlebte und mit dem Empfangsschild über den Potsdamer Platz ging.

Er glaubte fest daran, dass Johanna endlich wieder zurückkäme. Auch wenn ihm selbst klar war, dass sie gar nicht mehr leben würde, dieser Mann lebte in seiner Welt von damals und gab nicht auf, vermutlich nicht bis zu seinem Lebensende.

Seine Veronika hier, die ihm bereits schon einmal im Leben geholfen hat, damals an der Havel, sie würde ihm wieder helfen und den ersten Schritt hatte sie unbewusst schon getan, denn sie kam am gleichen Tag, am gleichen Ort und zur gleichen Uhrzeit nur um Jahre verspätet hier an.

Mathilde Behren erklärte nun Veronika den Weg zum ehemaligen Zimmer Johannas, denn das Haus war sehr groß und es gab sehr viele Räumlichkeiten in den verschiedenen Etagen.

Ohne Johanna

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