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9 - Die Wolke im Weg zum Licht

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David schlug die Augen auf. Eine nasse Zunge schleckte über sein Gesicht. Gleich darauf hörte er: »Aaro, aus!«

Der Junge blickte verschlafen in das Gesicht eines schwarzen Neufundländers.

Ein älterer Mann beugte sich über David. »Müsstest du nicht schon lange zuhause sein?«

»Ich bin eingeschlafen. Hab gar keine Ahnung, wie spät es ist«, antwortete David, noch verschlafen.

»Junge, es ist schon nach einundzwanzig Uhr! Deine Mutter macht sich ganz gewiss schon große Sorgen um dich!«, mahnte eine Frauenstimme. Ihre Hand streckte sich David entgegen. Sie half ihm auf, während ihr Mann die Decke zusammenrollte. Er gab David seine Hosen und das T-Shirt. David schlüpfte hinein. Währenddessen holte der Mann Davids Rucksack und bepackte ihn. Danach klemmte er ihn ans Fahrrad des Jungen. »Jetzt aber nichts wie auf dein Rad geschwungen und ab nach Hause«, forderte er David freundlich auf.

Seine Frau hob das Mountainbike auf. »Fahr vorsichtig! Und pass auf, es ist schon gleich dunkel.« Fachmännischen Blickes beäugte sie das Rad. Gut, es hatte Nachtlichter. Das war beruhigend, zu wissen.

»Danke«, murmelte David, und stieg auf sein Rad. Ihnen noch einmal zuwinkend, radelte er davon.

David war ein aufmerksamer Fahrradfahrer, auch, wenn er noch so jung war. Allerdings war er noch nie zu so später Stunde unterwegs gewesen. Und schon gar nicht mit einem eigenen Rad.

Sein neues Mountainbike, wie stolz er war, dass seine Eltern ihm dies geschenkt hatten.

Glücklich radelte er nach Hause. Es gab einige Autos, die ihn überholten, doch David fürchtete sich nicht.

Noch die eine Straßenbiegung, dann würde auch schon das Haus seiner Eltern in Sichtweite sein.

Kurz bevor er es erreichte, sah er seine Mutter am Fenster stehen. Freudig jubelnd nahm er eine Hand vom Lenkrad, und winkte ihr zu.

David hatte die Öllache auf der Straße nicht gesehen. Vielleicht wäre es ihm gelungen, mit beiden Händen am Lenker, das Rad unter Kontrolle zu behalten, doch mit nur einer Hand …

Davids Rad strauchelte gefährlich hin und her. Gleich darauf raste es auf einen steinernen Gartenpfeiler zu. Der Junge verlor das Gleichgewicht. Das Mountainbike überschlug sich und David prallte mit dem Kopf hart gegen den Pfeiler.

Davids Mutter, die das alles mitangesehen hatte, schrie laut auf, während sie auf die Straße hinaus rannte. Immer wieder rief sie dabei laut Davids Namen.

»David, David, mein Junge, komm zu dir!« Verbogen wie eine zusammengeknautschte Spielzeugpuppe, lag ihr Sohn auf dem Boden vor ihr. Blut rann von seiner Stirn.

Hastig zog sie ihre Bluse aus und schob sie vorsichtig unter Davids Kopf.

Davids Vater, der ebenfalls das Unglück mitangesehen hatte, hatte sofort den Notarzt verständigt.

Es dauerte nicht lange und David wurde verarztet. »Wir müssen mit inneren Verletzungen rechnen«, stellte der Rettungssanitäter fest, und schlüpfte aus seiner Jacke. »Bitte, nehmen Sie meine Jacke, und ziehen Sie sich die über. Der Kleine muss auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus.« Der Sanitäter reichte Davids Mutter seine Sanitäter-Jacke. »Sicherlich wollen Sie Ihren Jungen begleiten; und Ihre Bluse«, sein Blick streifte die Bluse, die, von Davids Blut vollgesogen, unter dem Kopf des Kindes lag, »die ist dahin.«

David wurde auf einer Krankenbahre in den Krankenwagen geschoben.

Davids Mutter beeilte sich, mit einzusteigen. Sie setzte sich neben ihren Sohn. Weinend strich sie ihm über die Hand, während sie mit der anderen Hand versuchte, die blutverschmierten Haarsträhnen von seiner Stirn zu streifen. Dabei schluchzte sie unter Tränen: »David, Schätzchen, dir darf nichts passieren, hörst du. Wir lieben dich, David. Wir brauchen dich so sehr.« Sie wischte die Tränen ab. »Papa kommt auch gleich.«

Der Rettungswagen raste mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht auf das nächstgelegene Krankenhaus zu.

Außer dem Krankenhauspersonal, das Nachtschicht hatte, war niemand zu sehen.

»Tom, warum dauert das nur so lange?« Davids Mutter rannen die Tränen übers Gesicht. Sie sah ihren Mann mit geschwollenen Augen ängstlich an.

»Marie, die Ärzte tun alles, um David zu retten. Ach, Marie, ich hab doch auch Angst um ihn!« Er nahm sie in den Arm. Sie weinten beide bitterlich.

Die Tür zur Intensivstation ging auf. Ein Mann im weißen Kittel kam auf sie zu. »Sind Sie die Eltern des kleinen Jungen?«

»Ja. Wie geht es ihm?«

»Können wir zu ihm?« Davids Mutter blickte ängstlich zur Tür der Intensivstation.

»Ich bin Doktor Pfeiffer. Ich habe ihn operiert. Wir haben alles in unserer Macht Stehende …«

»Doktor, er ist doch nicht …«

»Nein, ich kann sie beruhigen. Ihr Junge lebt!«

»Gott sei Dank!« Marie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

»Nur, er ist nicht bei Bewusstsein. Er ist ins Koma gefallen.«

»Ins Koma? Wird er wieder zu sich kommen?« Davids Mutter war kurz vor einem Zusammenbruch.

»Das kann leider niemand vorhersagen. Es gibt Komata, in die verfallen manche Menschen mitunter auch zum Schutz. Manche erwachen nach einer gewissen Zeit wieder daraus. Wieder andere …« Doktor Pfeiffer schwieg, sah die Eltern traurig und hilflos an. Er nahm Davids Mutter bei der Hand. »Kommen Sie, ich bringe Sie jetzt zu Ihrem Sohn.« Er führte sie zu David.

David lag da, als würde er schlafen. Nur die Schläuche, die an seinen dünnen Ärmchen angebracht waren, als auch die Apparate, die seine Körperfunktionen überwachten, zeigten, dass er nicht nur schlief …

»Mama, warum gibst du denn keine Antwort?« David stand vor seiner Mutter. Immer wieder rief er sie an. Doch sie reagierte nicht. Noch nicht einmal den Kopf hob sie zu ihm auf.

Warum antwortete sie ihm nur nicht?

Er blickte auf das Bett, vor dem sie saß. Staunend stand er da. Überrascht schaute er drein. Er kannte den Menschen, der darin lag. »Aber …, das bin ja ich …«

Plötzlich lag das Krankenbett in sanftes Licht eingebettet. Ein leuchtender Lichtstrahl erhellte den Raum. Doch nur David konnte das Licht sehen.

Davids Mutter bekam von alledem, was direkt vor ihr geschah, nichts mit … Nichts von davon konnte sie sehen noch wahrnehmen.

Gramgebeugt saß sie da, während sie mit zitternden Händen die Hand ihres Jungen tätschelte. Das Wundersame, das um sie herum mit David geschah, war sie nicht in der Lage, zu bemerken. Noch, dass sie das fremdartige Licht sah.

David ging auf das Licht zu. »Wie schön es doch ist. Wie ein wunderschöner Kreis.«

Gerade, als er in das Licht hineinschreiten wollte, zwängte sich eine dicke Wolke zwischen ihn und das Licht, und versperrte ihm den Weg.

David versuchte, sie mit den Händen beiseite zu schieben. Er fühlte sich von dem Licht magisch angezogen.

»Nicht doch! Du bist noch viel zu jung, um in das Licht hineinzugehen. Was sollten denn deine Eltern ohne dich machen? Sieh dir nur deine Mutter an, wie verzweifelt sie ist.«

»Aber …, sie redet doch gar nicht mehr mit mir. Bestimmt ist sie böse auf mich, weil ich so lange weg war. Ich muss doch vorm Dunkelwerden wieder daheim sein. Und das war ich heute nicht.«

»Nein, sie ist nicht böse mit dir, David. Kein bisschen. Sie ist unendlich besorgt. Hat Angst, dass du sterben könntest.«

»Sterben? Was ist das? Ist es das, wenn Menschen auf einmal nicht mehr da sind, so wie meine Oma? Die war auch auf einmal weg, und ist nie mehr wieder zurückgekommen. Ich durfte sie auch nicht mehr besuchen. Mama hat gesagt, dass sie auf eine Wolke gezogen ist, und von dort aus, auf mich aufpasst, und ich sie deswegen nicht mehr sehen kann. Stimmt das?«

»Beinahe.«

»Und ich? Bin ich jetzt auch auf solch einer Wolke? Kann Mama mich deswegen nicht hören? Sieht sie mich deshalb nicht?«

»Nicht wirklich. Du bist auf keiner Wolke. Und damit das auch nicht passiert, deswegen bin ich hier. Das Licht, es bringt dich für immer von deinen Eltern fort, wenn du da hinein läufst. Aber das wollen wir doch nicht. Nicht wahr, David?«

»Nein, ich will nicht von meinen Eltern weg.«

»Na siehst du. Dann werden wir einmal sehen, was wir tun können, um dir zu helfen. Aber zuerst musst du mir helfen. Willst du das tun?«

»Weiß nicht. Wer bist du überhaupt?«

Die Stimme, die aus der Wolke kam, lachte freundlich. »Wie konnte ich das nur vergessen. Du kannst mich bisher ja gar nicht sehen. Warte einmal. So, ist es nun besser?« Die Wolke löste sich auf, verformte sich. Vor David stand ein Mann. Ein alter Mann.

»Du siehst ein bisschen aus wie mein Uropa.«

»David, ich bin nicht dein Uropa. Aber schön, dass ich dich an ihn erinnere. Mein Name ist Monsignore Barea.« Der Monsignore stand vor David. Nicht mehr gebrechlich und vom Alter gezeichnet. Nein, er stand da, im Körper des alten Monsignores, allerdings mit der strahlenden Kraft seiner besten Jahre.

»Mon…, wie?«

»Du musst mich nicht beim Namen nennen. Aber, wenn du willst, dann reicht es auch, wenn du einfach nur Barea zu mir sagst. Ich glaube, das lässt sich für dich leichter aussprechen, als Monsignore

»Ja, Sir Barea, das ist tatsächlich leichter«, antwortete der Junge erleichtert. Mit gekräuselten Lippen, fragte er: »Ich soll dir helfen? Wie? Wobei?«

»Es gibt da zwei junge Leute, Quentin und Kim heißen sie. Die beiden sind in Gefahr. Und nur du bist in der Lage, sie zu warnen.«

»Ich? Wie das?«

»Ich werde dir dabei helfen. Werde dir zeigen, was du ihnen mitteilen, vielleicht auch zeigen musst. Du musst die beiden führen.«

»Aber warum brauchst du mich dazu? Wenn du doch alles weißt, dann kannst du es ihnen doch zeigen.«

»Ja, könnte ich, … aber auch wieder nicht. Es gibt so etwas wie Engelsgesetze, und von daher darf ich das nicht.«

»Du bist ein Engel? Wow!«

»So etwas in dieser Art. Aber du, du bist noch kein Engel, du darfst noch eingreifen. Darfst vorbestimmte Dinge, das Schicksal, noch verändern.«

»Und dabei darfst du mir aber helfen?« David war verblüfft. Ein Engel. Er sprach mit einem Engel. Dem Engel Sir Barea.

»Ja, das darf ich.«

»Dann möchte ich dir auch helfen. Darf ich danach wieder nach Hause zu Mama und Papa?«

»Wir werden sehen, David. Aber ich verspreche dir, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, dass du noch nicht durch das Licht gehen brauchst. Es ist schön im Licht, alles leicht, sorgenfrei. Aber du, David, du bist noch viele, viele Jahre zu jung, um durch das Licht gehen zu müssen.« Monsignore Barea nahm Davids Hand. Gemeinsam verließen sie unbesehen das Zimmer.

Davids Mutter saß über ihren komatösen Sohn gebeugt, und hatte auch davon nichts mitbekommen.

Still weinte die Frau vor sich hin. Hatte Angst, David für immer zu verlieren. Nur das Piepsen der Maschinen, an die der Junge angeschlossen war, ließ sie hoffen. Hoffen darauf, dass ihr Sohn wieder aus dem Koma erwachen, und sein würde, wie er vor seinem Unfall gewesen war.

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