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13 - Die Namen der Gräber

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»Schatz, heute Abend werden wir gar nichts mehr ausrichten können. Außerdem, es ist sehr spät geworden. Wir waren länger bei diesem Skelett …«

»Surrender, Liebling. Er heißt Surrender.«

»Kim, ich bitte dich, wir reden von einem Skelett, das wir, aus welchen Gründen auch immer, zum Leben erweckt haben. Zumindest glaube ich das. Aber bitte, verschone mich damit, dass du für ein Skelett Sympathie entwickelst. Es ist ein Skelett, Kim, ein Skelett!«

»Aber eins, das unsere Hilfe braucht. Was ist so schlimm daran, wenn ich es auf irgendeine Art und Weise sympathisch finde?«

»Liebes, verstehst du mich nicht? Man kann doch nicht mit einem Skelett befreundet sein.«

»Man kann das mit Sicherheit nicht. Wir aber schon. Hast du immer noch nicht verstanden, dass es unsere Berufung zu sein scheint, armen verirrten Seelen zu helfen, sie zu befreien, so dass sie endlich ihren ewigen Frieden finden können.«

»Süße, ich verstehe ja, was du meinst, aber wir müssen doch auch Grenzen ziehen. Reicht es nicht schon, dass wir unser Leben mit dem Geist meiner Großtante teilen. Brauchen wir jetzt auch noch ein Skelett in unserem Leben?«

»Er wird weder in unserer Mitte noch, in unserem Leben sein. Sicherlich nicht. Dennoch müssen wir ihm helfen. Und bis es soweit ist, steht es mir frei, Surrender zu mögen. Herr im Himmel, er ist ein Skelett! Kein Grund zur Eifersucht, Quentin! Nicht auf ein jämmerliches Knochengerüst, dem wir zu helfen versuchen.«

»Ich, eifersüchtig, auf einen Knochenmann? Kleines, jetzt spinnst du völlig!«, entrüstete er sich. Aber dennoch konnte er nicht umhin, wieder Kim mit dem Skelett in einer Art Tanz vor seinem geistigen Auge zu sehen. Bin ich tatsächlich auf ein Skelett eifersüchtig? Mit einer heftigen Handbewegung vertrieb er den irrwitzigen Gedanken.

»Guten Abend, was darf ich Ihnen heute bringen? Ich könnte das Hühnchen in Burgundersauce empfehlen. Dazu einen leichten Rotwein, und, als Dessert, eine Heiße Lotte.« Dienstbeflissen legte Bertram die Speisekarten den beiden vor.

»Eine Heiße Lotte? Was ist das?« Kim sah den Kellner neugierig an.

Doch statt einer Antwort legte er seinen Finger auf die Lippen, und sagte leise: »Das, Gnädigste, sollte eine Überraschung sein. Bestellen Sie den Nachtisch und Sie werden es erfahren«, riet er ihr augenzwinkernd.

»Sehr geheimnisvoll, dieser Nachtisch, wie mir scheint. Dennoch, ich möchte keinen«, kam Quentin Kims Antwort zuvor. »Ich wüsste nämlich gerne zuvor, was ich bestelle. Notieren Sie meine Bestellung«, forderte er den Kellner auf. »Als Hauptmenü bekomme ich ein Steak, nicht zu sehr durchgebraten. Allerdings auch auf keinen Fall blutig. Innen noch leicht rosa, schmeckt es mir am besten. Als Beilage Farmerkartoffeln und Sauercreme. Als Getränk hätte ich gerne ein kaltes Bier.» Er wandte sich an seine Verlobte. »Und du, Schatz, für was hast du dich entschieden?«

Kim blickte den Kellner an. Freundlich sagte sie: »Ich denke über Ihren Vorschlag nach, Bertram. Für mich bitte das Empfohlene. Das Hühnchen. Dazu hätte ich gerne gebackene Kartoffelbällchen. Mit der Heißen Lotte jedoch, damit möchte ich noch warten. Wer weiß, ob ich überhaupt noch Hunger auf einen Nachtisch haben werde, je nachdem, wie opulent das Hauptmenü ist.«

»Sehr wohl, Madam. Und als Getränk, was darf ich Ihnen da kredenzen?«

»Bitte einen herben Rotwein.« Kim reichte Bertram die Speisekarte; er nahm beide entgegen und eilte davon.

»Hast du das gehört, Kim. Dieser Kellner, er kredenzt. Ich fass es nicht. An diesem Ort ist alles recht eigentümlich. Angefangen bei dem Namen von dem Hotel, bis hin zu unserem Skelett-Freund, und jetzt noch das. Er kredenzt. Mann, was bin ich froh, wenn ich ins Bett fallen und schlafen kann. Vielleicht habe ich Glück und erwache aus diesem Traum.«

»Es ist kein Traum, wir erleben das tatsächlich. Und das Wort Kredenzen, das gefällt mir, auch wenn du es als zu versnobt empfindest.«

Nach dem Essen gingen sie ein paar Schritte vor die Tür, liefen an den Strand, der nicht weit vom Hotel entfernt lag.

Kim zog ihre Schuhe aus und watete im Wasser. Quentin tat es ihr gleich. Das Wasser umspülte ihre Füße, während sie den Strand entlang liefen. Als sie merkten, dass sie müde wurden, schlugen beide den Weg zurück, ins Hotel Zum Sensenmann, ein.

Im Bett schmiedeten sie Pläne für den nächsten Tag. Überlegten hin und her, was sie tun konnten, um das Rätsel der Scheibe zu lösen, und das Pergament zu entziffern.

Mit den Gedanken darüber schliefen sie ein.

Nach einer langen, traumlosen Nacht, erwachten sie mit dem Morgengrauen. Nach einem kurzen Strandlauf gingen sie in den Speisesaal und frühstückten, dabei bemerkten sie nicht die beiden Gestalten vor dem Fenster, die sie beobachteten …

Vor dem Hotel standen Monsignore Barea und David und sahen durch das große Fenster in den Frühstücksraum hinein.

»Siehst du die beiden dort am Tisch? Die Frau mit dem grünen T-Shirt und den Mann in dem karierten Hemd, David? Das sind Kim und Quentin. Die beiden, weshalb wir hier sind. Du, David, musst ihnen helfen, dass sie diese Insel wieder lebend verlassen werden. Du musst sie an Stätte führen, die sie sehen müssen. Musst ihnen den Weg weisen, zu dem, was sie zu finden suchen. Das, David, das ist ganz, ganz wichtig.« Monsignore Barea streichelte dem Jungen leicht über den Kopf. »Hast du alles verstanden, David?«

»Ich weiß nicht. Aber, du bist doch da, du kannst mir doch helfen, nicht wahr, Sir?«

»Sicher bin ich da, David. Aber nicht so nah, wie du ihnen sein wirst. Ich werde dir helfen, dass du ihnen die richtigen Wege zeigst, aber ich selbst kann dies nicht tun.« Mit einem väterlichen Lächeln fügte er hinzu: »Die Engelsregeln, du verstehst …«

»Ja, ich verstehe«, flüsterte auch David.

»Schön, dann lass uns gehen. Ich führe dich an den ersten Platz, den du den beiden zeigen musst.«

»Aber …, sie kennen mich doch gar nicht.«

»Sie werden auf dich aufmerksam werden, nur keine Bange.«

»Sicher?«

»Engelssicher!«, bestätigte Monsignore Barea in einem Ton, der jeden Zweifel vertrieb.

Kim lief noch einmal ins Zimmer zurück, holte sich eine dunkelgrüne Strickjacke, die in kontrastreichem Grün zu ihrer giftgrünen Jeans stand.

Zusammen mit Quentin lief sie an den Strand. Sie gingen spazieren. Der 2. Juli zeigte sich von einer sonnigen, warmen Seite, so dass Kim sich recht bald schon, ihre Strickjacke um ihre Taille band.

»Ich würde dich gerne auf einen Kaffee einladen, wenn es auf dieser Insel auch noch etwas anderes gäbe, als nur dieses Hotel.«

Kim lachte. »Macht nichts, Schatz, ich hebe mir die Einladung einfach als Guthaben auf, für den Tag, an dem wir von Shadowisland wieder weg sein werden. Und nur keine Angst, ich vergesse das ganz gewiss nicht.« Sie wurde wieder ernst. Nachdenklich sah sie ihren Verlobten schweigend an. »Meinst du nicht, dass wir nachsehen sollten, ob es hier so etwas wie eine Hotelbücherei hat. Eine Bibliothek. Vielleicht gibt es auch eine Historie über das Hotel. Weißt du was, ich gehe Bertram fragen. Der scheint uns zu mögen.«

»Bertram, der Kellner, ja er scheint in Ordnung zu sein. Aber ich mach dir einen besseren Vorschlag: Ich gehe zu Bertram, und du kannst hier noch ein bisschen am Strand entlang laufen.«

»Oder so. Ich bleibe am Strand. Ich laufe hier einfach auf und ab, oder setze mich in den Sand.« Kim breitete ihre Weste aus und nahm darauf Platz.

Quentin hauchte ihr einen Kuss aufs Haar, anschließend lief er zum Hotel zurück.

Kims Finger malten Bilder in den Sand. Sie dachte über Surrender nach. Fragte sich, ob es ihnen gelingen würde, das Skelett von seinem Fluch zu befreien.

Während Quentin Ausschau nach Bertram hielt, suchte ein kleiner Junge die Nähe Kims. Ein Junge, dessen Aufgabe es war, die beiden jungen Leute vor Schlimmem zu bewahren.

David kam näher und näher.

Die Sonne blendete Kim. Sie schloss die Augen, legte sich in den Sand. Das Meerwasser roch frisch und klar, die leichte Windbrise streichelte Kims Gesicht. Zufrieden stöhnte sie auf. Dieser Tag war ein schöner Tag. Und sie hoffte, dass er es auch bleiben würde.

Der Wind kitzelte Kim, wehte winzige Sandkörner in ihr Gesicht. Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Dabei spürte sie eine Hand an ihrer Wange. Erschrocken schlug sie die Augen auf.

Über ihr stand ein kleiner Junge. Hastig schnellte sie hoch; doch der Junge rannte davon. In einiger Entfernung blieb er stehen, machte eine Handbewegung in Richtung Kim, ihm zu folgen.

Völlig überrascht stand Kim auf und eilte dem Jungen hinterher.

David lief, so schnell er nur konnte, an den Platz, den Monsignore Barea ihm gezeigt hatte. An die Stelle, von deren Existenz Quentin und Kim unbedingt, und als Erste, erfahren mussten.

Immer wieder verschwand der Junge aus Kims Blickfeld. Urplötzlich war leichter Nebel aufgekommen, der den Jungen einhüllte. Kim rannte, immer schneller und schneller, David hinterher.

Da war er wieder. Völlig klar. Kim konnte Davids Gesicht ganz deutlich sehen.

Der Nebel war verschwunden, so schnell und plötzlich, wie er gekommen war.

Verwundert blickte sie sich um. Hier war sie am ersten Abend bereits gewesen. Sie erkannte die hohe Steinmauer. Dahinter lagen die Gräber. Der Junge hatte sie zum Friedhof geführt. Suchend sah sich Kim nach dem Kleinen um. Doch David war wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Dann sah sie ihn erneut. Er stand vor Grabsteinen im Inneren des Friedhofes. Kim beschleunigte ihren Schritt, sie wollte den Jungen einholen, wollte wissen, wer er war und was er von ihr wollte. Oder ob sein Erscheinen einfach nur Zufall war.

David sah zu ihr hin. Seine kleine Hand winkte ihr zu.

Kim war sich sicher, dass er ihr etwas zeigen wollte. Sie lief los, wurde schneller und schneller. Erst als sie vor dem Friedhofstor ankam, verlangsamte sie ihren Schritt. Verwundert stellte sie fest, dass es geschlossen war. Fragend sah sie zu dem Jungen hin. Dieser stand immer noch, ihr weiterhin zuwinkend, vor einem Grabstein. Richtig genommen stand er zwischen zwei Gräbern, in der Mitte von zwei Grabsteinen, die etwas von ihm entfernt standen.

Kim öffnete die schwere Eisentür. Quietschend gab sie nach, und sie wunderte sich, dass sie das ohrenbetäubende Quietschen nicht gehört hatte, als der Junge hier durchgegangen war.

Der Kies knirschte unter ihren Turnschuhen. Nicht lange und sie hatte die Stelle, an der David gestanden hatte, erreicht. Doch der Junge selbst, er war wieder verschwunden. Erneut war Nebel aufgekommen, hatte den Jungen umschlossen. Und mit dem raschen Verschwinden des Nebels, war auch David verschwunden.

Erneut schaute sich Kim suchend um, doch sie konnte den Jungen nirgendwo sehen. Neugierig lief sie auf die Stelle zu, an der er zuvor noch gestanden hatte. Sie erblickte zwei ausgehobene Gräber. Daneben standen, an Bäume gelehnt, zwei Grabsteine. Beim Lesen der Inschrift erschrak Kim. Sie begann zu zittern. »Um Gottes Willen, das kann doch nicht sein!«, kam es blass über ihre Lippen. Sie wandte sich abrupt ab, und rannte zum Hotel zurück.

Sowie sie Quentin gefunden hatte, der sich gerade angeregt mit Bertram unterhielt, zog sie ihn, völlig aufgelöst, mit sich fort. Ohne einen weiteren Kommentar lief sie mit ihm zu den Gräbern. Auf Quentins Fragen antwortete sie nicht.

Vor den Gräbern blieb sie stehen. Mit zitternder Hand zeigte sie auf die beiden Grabsteine, die an Bäumen lehnten. Leise flüsterte sie: »Kannst du sie lesen, die Namen auf den beiden Grabsteinen? Liest du, was ich lese? Die Namen, die dort in die Steine eingemeißelt sind?«

Quentin war blass geworden. Er schluckte. Er konnte kaum reden. Langsam lief er auf die Grabsteine zu. Seine Finger fuhren die Namen nach. Nein, es gab keine Zweifel. Die Namen auf den Grabsteinen waren echt.

Auf dem kleineren Stein stand Kim König, der größere trug die Inschrift Quentin Sommerwein.

»Das sind unsere Namen. Diese Gräber, die sind für uns ausgehoben.« Kim hielt sich mit beiden Händen an Quentins Arm fest.

»Wie, wie hast du sie gefunden? Ich dachte, du wolltest nicht auf den Friedhof.« Quentin rang um Fassung.

»Wollte ich auch nicht. Ein kleiner Junge hat mich hierher geführt.«

»Ein Junge? Welcher Junge? Wo ist er?« Quentin drehte sich nach allen Seiten, seine Augen versuchten, den Jungen auszumachen.

»Ich weiß nicht, wer der Junge war. Auch nicht, wohin er verschwunden ist. Plötzlich kam Nebel auf, aber nur an der Stelle, an der er stand. Und als sich der Nebel aufgelöst hatte, war auch der Junge verschwunden.« Sie sah ihn mit tränenfeuchten Augen an. »Glaubst du, dass der Junge ein Geist war? Dass er uns warnen wollte.«

Quentin atmete tief durch. Sorgfältig, jedes Wort für sich, abwägend, antwortete er: »Ich weiß es nicht, Kim. Aber nach allem, was wir bisher erlebt haben, und ich weiß, dass das aus meinem Mund sehr eigenartig klingen wird …« Er schluckte. »Wenn ich ehrlich sein soll … Ich halte es nicht für unmöglich.« Immerhin, meine Großtante ist auch ein Geist. »Vielleicht ist er tatsächlich da, um uns zu warnen. Wer immer diese Gräber ausgehoben, die Steine beschriftet hat, hat unseren Tod geplant.« Er zog sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. »Es tut gut, zu glauben, dass der Geist eines kleinen Jungen, uns warnen will. Kim, wir müssen auf der Hut sein.« Wieder schaute er sich nach allen Seiten um. »Wir können noch nicht einmal diese Insel verlassen. Der Fährmann, seit unserem ersten Abend habe ich ihn nicht mehr gesehen. Bertram hat mir erzählt, dass der Fährmann nicht immer auf der Insel ist. Sondern nur dann, wenn er jemanden bringt, oder wieder abholen soll. Wobei, ich hatte den Eindruck, dass hier bisher noch niemals jemand wieder von der Insel abgeholt wurde. Ich kann dir nicht sagen, weshalb. Es ist so ein Gefühl. Dieser Kellner, er hat dermaßen herumgedruckst, und sich dabei immer wieder verstohlen umgesehen, geradeso, als hätte er Angst, mit mir zusammen, entdeckt oder gesehen zu werden.«

»Mein Gott, Quentin, weiß du, was das heißt!« Die Angst kribbelte, bis tief unter ihre Haarwurzeln, und Gänsehaut übersäte den Körper der jungen Frau.

»Schatz, wir dürfen uns jetzt auf gar keinen Fall verrückt machen lassen. Wir müssen einen klaren Kopf behalten. Unbedingt! Denn nach einem Scherz sieht dies hier nicht aus.«

»Ach, wenn doch wenigstens Professor Gräulich hier wäre. Der hätte bestimmt eine Idee.«

»Ich weiß, Kim, ich weiß. Vielleicht haben wir Glück und der kleine Junge kommt wieder zurück. Womöglich weiß er einen Weg, wie wir die Insel wieder verlassen können.«

»Und was, wenn nicht?«

»An so etwas sollten wir erst gar nicht denken, hörst du!«

Sie standen noch eine Weile, mit ausdrucklosen Augen, vor den ausgehobenen Gräbern und den Grabsteinen, die ihrer beider Namen trugen.

Über ihnen zogen sich Wolken zusammen, der Himmel verdunkelte sich. Plötzlich regnete es, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet.

Eilig rannten sie zurück ins Hotel.

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