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6. Etwas mehr als vierundzwanzig Jahre zurück

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Der schrille Klang des Telefons riss ihn aus dem Schlaf. Sein Blick suchte die Uhr, während er zum Telefon wankte. »Barutti!«

»Commissario, entschuldigen Sie die nächtliche Störung...«

»Wie spät ist es?« Salvo Baruttis Augen waren noch zu müde, er konnte die Uhr nicht ausmachen.

»Kurz vor drei.«

»Oh, mitten in der Nacht.«

»Soll ich später wieder anrufen?«

»Jetzt wollen Sie mich wieder schlafen schicken, ohne mir zu sagen, weshalb Sie mich geweckt haben. Ich bitte Sie, Schwester Pia, jetzt bin ich wach. Also sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben.« Während seiner beruflichen Laufbahn hatten sich seine Wege und die von Schwester Pia, der Heilsarmeeobersten, schon des Öfteren gekreuzt. Und wenn er eins wusste, dann, dass sie ihn niemals ohne triftigen Grund aus seinem wohlverdienten Schlaf holen würde.

»Ich brauche Ihre Hilfe, Salvo.«

»Gleich?«

»Wenn es ginge...«

»Wohin soll ich kommen?«

Schwester Pia nannte ihm den Treffpunkt.

Eine Stunde später war der Commissario am Flughafen. Die ankommende Maschine wurde ausgerufen. Salvo Barutti lief zum Terminal. Nicht lange und der sah Schwester Pia. In ihrer Begleitung war ein Mädchen, vielleicht siebzehn, aber auf gar keinen Fall älter. Noch während er auf die beiden zulief, fragte er sich, was jetzt auf ihn zukommen würde.

Schwester Pia stellte das Mädchen dem Commissario vor.

»Lassen Sie uns ins Flughafenrestaurant gehen. Die Kleine ist erschöpft von dem Flug, aber ich glaube, etwas zum Beißen kann ihr nicht schaden.« Sie drehte sich zu dem Mädchen. »Hab´ ich Recht?«

Das Mädchen sah sie nur mit großen Augen an.

Im Flughafenrestaurant zog Pia Salvo zur Seite. Mit dem Kopf zeigte sie zu dem Mädchen.

»Vergewaltigt worden. Schlimme Geschichte. Das ganze Schicksal der Kleinen.«

»Und was kann ich dabei tun? Soll ich sie etwa bei mir wohnen lassen?« Er wehrte energisch ab. »Das geht auf gar keinen Fall. Sie wissen, ich lebe alleine.«

»Nein, das will ich auch nicht von Ihnen. Ich habe schon mit Mutter Elise gesprochen. Sie kann im Kloster wohnen. Bis wir dort sind, wird alles für sie vorbereitet sein.« Schwester Pia war hinter den Stuhl des Mädchens getreten, strich ihr mit dem Finger eine Haarsträhne aus der Stirn. »Keine Angst, Kleines, es wird gut für dich gesorgt werden.«

Das Mädchen sagte kein Wort, stattdessen kaute es lustlos auf einer Pommes frites herum.

»Zum einen, Salvo, wollte ich Sie bitten, uns dorthin zu bringen. Zum anderen...« sie sah wieder zu dem Mädchen, nickte ihm zu, »es wird alles gut, glaub mir.«

Der Kleinen stiegen Tränen in die Augen.

»Nicht, nicht mehr weinen. Wir sorgen dafür, dass dir niemand mehr Leid zufügen kann.« Sie wischte ihr mit der Schürze ihrer Heilsarmeetracht die Tränen weg, dann wandte sie sich wieder an Barutti. »Sie braucht einen Freund, einen väterlichen Freund.«

Salvo Barutti schmunzelte verlegen. »Und da bin ausgerechnet ich Ihnen eingefallen.«

Schwester Pia lächelte. »Wen, Salvo, könnte das Mädchen Besseres bekommen als Sie.«

»Schwester Pia, … ich weiß nicht. Wie stellen Sie sich das eigentlich vor?« Er sah zu dem Mädchen. Er konnte von ihrem Gesicht ablesen, wie viel Leid sie ertragen haben musste. Im Laufe seiner beruflichen Laufbahn hatte er gelernt, in den Augen der Menschen zu lesen. Und in diesen blauen Augen lag alles Leid der Welt. Viel zu viel Leid für so ein junges Menschenkind. Er mochte die Kleine, jetzt schon. Doch wie sollte er es anstellen? Sein Beruf nahm eine Menge Zeit in Anspruch, und Freizeit, die war auch nicht immer vorhanden. Hätte er das gewollt, hätte er sich einen Bürojob suchen müssen, doch das war nie in seinem Denken gewesen. Er mochte seinen Beruf. Salvo säuberte die Straßen von Tagedieben und Mördern und vielerlei anderer Verbrecher. Dank ihm und seiner Kollegen waren die Straßen ein klein wenig sicherer, zumindest glaubte er daran. Wie sollte er dabei noch für eine verletzte Seele Zeit finden? Geduld und Zuspruch, Verständnis und eben Zeit. Zeit, die er nicht hatte, war das, was diese Kind am Dringendsten brauchte. Konnte er sich tatsächlich mit gutem Gewissen in eine solche Verantwortung begeben?

Pia riss ihn aus seinen Gedanken. »Mutter Elise wird sich um das Seelenheil der Kleinen kümmern. Und Sie, Salvo, Sie könnten ihr vielleicht manche Sonntage verschönern. Sie vielleicht an Weihnachten zu sich nehmen. An Heilig Abend vielleicht. Könnten ihr ein paar schöne Seiten des Lebens zeigen. Salvo, sie kann so viel von Ihnen lernen...«

Commissario Salvo Barutti sah von der Heilsarmeeschwester zu dem Mädchen. Konnte er diese Bitte überhaupt abschlagen, oder war es nicht viel mehr sogar seine Pflicht, sich um das geschundene Menschenkind zu kümmern. Er nickte langsam. Über den Tisch streckte er Schwester Pia die Hand entgegen. »Ich mache es. Ich verspreche Ihnen, mich in meiner Freizeit so viel und so gut als möglich um die Kleine zu kümmern.«

»Danke. Ich weiß, dass sie bei Ihnen in guten Händen ist.« Schwester Pia standen Tränen in den Augen, als sie sich an das Mädchen wandte: »Der Commissario ist ein guter Mensch, Kleines, er wird sich deiner annehmen. Er wird dir unser Sizilien zeigen..., du wirst sehr viel von ihm lernen, ganz bestimmt.«

Salvo nickte dem Mädchen zu. »Wie heißt du, Kleine?« Seine Stimme hatte einen warmen Klang. Er hoffte, dass sie ihm antwortete.

Als das fünfzehnjährige Vergewaltigungsopfer schwieg, sagte er leise: »Bell, ich werde dich Bell nennen.« und es kam ihm vor, als würde das Mädchen dankbar lächeln. Dankbar dafür, auch ihren Namen nicht mehr nennen und hören zu müssen. Dankbar, alles vergessen zu dürfen, was sie an ihr altes Leben erinnerte.

Salvo trank seinen Kaffee aus, anschließend fuhr er Pia und seinen, ab heute, Zögling, zu dem Kloster, das Schwester Pia für die Zukunft des Mädchens ausgesucht hatte. Sie fuhren zum Kloster der Heiligen Jungfrau, ein Kloster, das sehr abgelegen lag, und zu dem sehr wenige kamen. Ein Kloster, in welchem das gepeinigte Mädchen zur Ruhe kommen und Vergessen finden konnte...

Namenlos oder Kreuz As... und die Morde enden nie

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