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Ein seltsamer Brief

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Wir haben heute den neunten Mai. Fünf Monate ist John nun schon hier, davor sieben Monate Stadelheim und nicht abzusehen, wie lange er hier noch ausharren muss. John geht zwar von einer Zwei-Drittel-Strafe aus, aber verlassen kann er sich darauf natürlich nicht.

Jeden Tag der gleiche Spaß: Fünf Uhr morgens aufstehen, mit kaltem Wasser in der Zelle waschen, duschen darf man nur nachmittags im Bad auf dem Gang, Aufgusskaffee trinken und um viertel vor sieben geht John in die Arbeit. Danach bekommt er heute zur Abwechslung mal wieder einen Brief. Für John ist es jedes Mal aufs Neue ein schönes Gefühl, wenn da draußen noch jemand an ihn denkt. Meist ist es zwar nur ein Brief von seinem Anwalt, aber dieser Brief kommt von keiner ihm bekannten Person und Werbung ist es auch nicht. Er ist von einer Katarina Brunner. Diesen Namen hat John noch nie gehört. Trotzdem scheint sie ihn zu kennen. In dem Briefumschlag findet John jedoch nicht mehr als einen Seite aus der Süddeutschen Zeitung mit einer markierten Annonce unter SIE SUCHT IHN.

Zunächst denkt John: »Was will die denn, hat die 'nen Knall? Wer ist das überhaupt und warum meint die, dass ich mir eine Freundin aus der Zeitung suchen soll?«

Jedenfalls liegt vor ihm dieser Zeitungsausschnitt, der offensichtlich auch noch uralt ist, vom dreißigsten März. Doch von der markierten Anzeige fühlt John sich in der Tat angesprochen. Schon immer wollte er eine große Familie haben.

»Aber warum schickt mir eine unbekannte Person eine Anzeige von vor fast sechs Wochen?«, wundert sich John. Sei's drum, noch am selben Abend setzt er sich hin und antwortet auf diese Annonce.

Hallo liebe Unbekannte!

Zunächst wünsche ich dir einen wundervollen Wochenbeginn. Es ist bereits sechs Wochen her, dass du diese bezaubernde Anzeige in die Zeitung gesetzt hast und sicherlich wurdest du daraufhin mit Antworten nur so überhäuft. Vielleicht hast du deinen Traumprinz ja bereits gefunden? Vielleicht gibst du uns aber auch die Möglichkeit, dass wir unser gemeinsames Glück in Zukunft teilen dürfen.

Dafür sollst du aber zunächst etwas mehr über mich erfahren und ich hoffe, dass dir gefällt, was es zu berichten gibt. Mein Name ist John, ich bin genau wie du sechsunddreißig Jahre alt, ein Meter vierundachtzig groß und ich wiege fünfundachtzig Kilogramm. Meine Augenfarbe ist blau, ich habe dunkelblonde kurze Haare. So viel zu meinem Äußeren. Was gibt es sonst noch über mich zu sagen? Ich bin treu, kinderlieb, einfühlsam, spontan, sportlich, eigentlich auch romantisch, optimistisch, aber auch sehr realistisch.

Geboren bin ich in Berlin, habe einige Zeit in den Staaten gelebt und seit circa dreizehn Jahren, nenne ich München meine Heimat. Momentan bewohne ich zeitlich begrenzt ein Domizil in Kaisheim. Beruflich bin ich erfolgreich in der Medienbranche tätig und bereits seit Jahren selbständig. Somit kann ich mir meine Zeit frei einteilen.

Ich liebe es zu kochen und die Frau an meiner Seite zu verwöhnen…

Mehrere Stunden sitzt John an diesem Brief. Nur eine Sache lässt John nicht los: Wer ist diese Katarina und woher weiß sie überhaupt, dass er sich momentan hier befindet? John schreibt ihr ebenfalls einen Brief zurück, bedankt sich für ihren Tipp und fragt sie, woher sie seinen derzeitigen Aufenthaltsort kennt. Er hört allerdings so schnell nichts mehr von ihr. Auch von der Unbekannten kommt erst einmal NICHTS.

Aber das war ihm eigentlich von vornherein schon klar. Welcher normale Mensch antwortet schon einem Knacki? Das hat die Unbekannte bestimmt sofort herausgefunden, nicht zuletzt von dieser Katarina. Trotzdem geht John täglich in freudiger Erwartung zum Briefkasten, um leider doch nichts vorzufinden.



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