Читать книгу Die Frau vom Schwarzen See - Anna-Irene Spindler - Страница 10

Mai 1871

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Agnes schloss die Augen und lehnte den Kopf zur Seite. Mit einem Ruck fuhr die Kutsche los. Ihre Schläfe schlug gegen den hölzernen Rahmen des Fensters. Aber Agnes spürte es nicht. Bleierne Müdigkeit hatte sie in eine gnädige Lethargie versetzt. Sie hörte und fühlte nichts mehr. Eine halbe Ewigkeit schaukelte sie nun schon kreuz und quer durch das Land. Die entsetzliche Reise schien kein Ende nehmen zu wollen. Wenn sie morgens vollkommen gerädert auf irgendeiner Pritsche in irgendeiner Poststation aufwachte, war sie sicher, dass sie dazu verdammt war sich bis ans Ende ihrer Tage in irgendeiner Kutsche durchrütteln zu lassen. Ihr Körper war übersät mit blauen Flecken und der Staub, der durch die offenen Fenster ins Wageninnere gelangte, hatte sich in jeder Faser ihrer Kleidung und in jeder Pore ihres Körpers festgesetzt. Er war in ihren Augen, in ihren Ohren und in ihrer Nase. Und er knirschte zwischen den Zähnen.

Wie bequem war sie doch zu ihrem neuerlichen Abenteuer aufgebrochen! Leider war diese Bequemlichkeit nur von kurzer Dauer gewesen. Es hatte sich herausgestellt, dass die Gleise noch nicht fertig verlegt worden waren. Obwohl man ihr ein Billet bis Chicago verkauft hatte, endete die Fahrt in dem komfortablen Zug bereits fünfundzwanzig Meilen vor der Stadt. Sie musste in eine Kutsche umsteigen. Seither ruckelte und zuckelte sie in unterschiedlichsten Gefährten über staubige Straßen. Lediglich unterbrochen von der Überfahrt mit der Fähre von Chicago nach Milwaukee.

Zu ihrem eigenen Erstaunen, hatte sie sich sehr schnell mit den Gepflogenheiten des Reisens vertraut gemacht und alle Herausforderungen des Umsteigens und der Quartiersuche souverän gemeistert. Keine Verzögerung, kein Achsbruch, kein Umweg, keine Zwangspause wegen unpassierbarer Wege hatte sie erschüttern können. Aber jetzt, nach so vielen Tagen auf der Straße, war sie mit ihrer Kraft und ihrer Geduld am Ende.

Vor einer halben Stunde hatten sie die Grenze nach Kanada passiert. Wenn man dem Kutscher Glauben schenken durfte, würden sie den Ort Cudeca gegen Mittag erreichen. Noch vor drei Tagen, wäre Agnes bei dieser Aussage vor Aufregung völlig aus dem Häuschen gewesen. Inzwischen würde sie erst glauben, dass sie tatsächlich angekommen war, wenn sie mit ihrer Reisetasche in der Hand auf dem Marktplatz von Cudeca stand.

Wenigstens saß sie allein in der Postkutsche. Ein Luxus, der ihr zum ersten Mal zuteil wurde, seit sie unterwegs war. Kein dicker, schwitzender, Tabak kauender Mann, der an ihre Schulter gelehnt schnarchte. Keine nach aufdringlichem Parfüm stinkende Frau, mit Federn am Hut, die ihr bei jedem Ruckeln der Kutsche über das Gesicht wischten. Kein plärrendes, sabberndes Kleinkind, das mit klebrigen Fingern nach ihren Haaren grabschte. Nein! Außer ihr wollte keine Menschenseele nach Cudeca.

Agnes öffnete die Augen und sah zum Fenster hinaus. Ganz allmählich hatte sich die Landschaft verändert. Das endlose Grasland war jetzt durchzogen von Büschen. Auch war es hier viel hügeliger als in der Gegend, die sie in den vergangenen Tagen durchquert hatten. Am Horizont erhob sich ein bewaldeter Bergzug, hinter dem im Dunst gezackte Berggipfel in den Himmel ragten. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Tatsächlich! Viele der Gipfel waren weiß! Aufgeregt streckte Agnes den Kopf zum Kutschenfenster hinaus. Zum ersten Mal seit vielen Tagen genoss sie den Ausblick.

Und wie aus dem Nichts war sie plötzlich da, die Vorfreude auf das was am Ende der Reise auf sie wartete. Die Bedenken und Ängste, die sie begleitet hatten, seit sie in New York in den Zug gestiegen war, verflogen. Die mittellose Magd, Wäscherin, Kellnerin Agnes Pangerl hatte sie Tausende Meilen hinter sich gelassen. Hier saß jetzt Agnes Mundl die Farmerfrau! Nie gekanntes Selbstbewusstsein durchströmte sie bei diesem Gedanken. Und ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem unbekannten Mann, der sie aus dem elenden Leben herausgeholt und zu seiner Ehefrau gemacht hatte. Sie würde ihm eine gute Frau sein. Es gab nichts, was sie nicht konnte. Auf dem Feld, im Stall, im Garten, im Haus würde sie hart arbeiten und ihn nach besten Kräften unterstützen. Wie es wohl aussehen mochte, ihr neues Zuhause? Ob es wohl Felder gab, auf denen sie Getreide anbauen würden? Oder Kartoffeln und Rüben? Vielleicht konnten sie ja sogar Flachs aussäen. Mit welchen Tieren Andreas Mundl wohl die Felder bestellte? Mit Ochsen oder mit Pferden? Wenn er Kühe oder Ziegen hielt, konnte sie Käse machen. Wuchsen Obstbäume auf der Farm, würde sie Marmelade einkochen oder die Früchte für den Winter dörren. Vielleicht gab es ja sogar einen Backofen. Dann konnte sie runde knusprige Brote backen.

Voller Begeisterung klatschte sie in die Hände. Oh nein! Andreas Mundl würde es nicht bereuen, sie geheiratet zu haben!

Mit einem Ruck kam die Kutsche zum Stehen. Agnes war eingenickt und rutschte von der Bank.

„Aua!“, schrie sie empört und rieb sich die schmerzenden Knie.

„Wir sind da Ma’am!“, rief der Kutscher fröhlich und riss die Tür auf.

„Wo sind wir?“, fragte Agnes benommen. Wurde sie abrupt aus dem Schlaf gerissen, dauerte es immer eine Weile, ehe ihr Verstand in Schwung kam.

„Na in Cudeca, wo denn sonst. Da wollten Sie doch hin, oder etwa nicht?“

Den breitkrempigen Hut in den Nacken geschoben, musterte der Kutscher die verwirrt dreinblickende Frau, die auf dem Boden seiner Kutsche hockte und keinerlei Anstalten machte aus zu steigen.

„Was machen Sie da unten?“, fragte er neugierig. „Haben Sie etwas verloren?“

Agnes rutschte auf dem Hintern zur Kutschentür, schob ihre Beine hinaus und stellte sich hin. Während sie ihren Rock zurechtrückte und glatt strich, sagte sie so würdevoll wie möglich:

„Nein ich habe nichts verloren. Aber danke der Nachfrage.“

Dann wurde ihr mit einem Schlag bewusst, dass sie tatsächlich am Ende ihrer Reise angekommen war. Dass es nicht mehr lange dauern würde, dann stünde sie ihrem Ehemann gegenüber. Während der Kutscher ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz auf der Rückseite der Kutsche holte, trat Agnes ein paar Schritte beiseite. Das also war Cudeca. Langsam drehte sie sich im Kreis. Kein Mensch war zu sehen. Der Ort schien völlig verlassen zu sein.

Agnes runzelte die Stirn. „Hier ist ja Keiner. Wo sind denn die Einwohner?“

Der Kutscher stellte die Reisetasche neben sie und holte seine Taschenuhr hervor. „Es ist Mittagszeit. Da sitzen die Leute beim Essen“, klärte er sie auf.

Agnes lachte. Natürlich. Im Böhmerwald war es genauso gewesen. Zwischen zwölf und ein Uhr hatte nie jemand gearbeitet. Sie hatte es nur beinahe schon vergessen. In Manhattan waren Tag und Nacht Menschen auf der Straße unterwegs gewesen.

Agnes bezahlte den Kutscher. Dabei fragte sie ihn noch nach der Kirche. Timothy Walsh hatte in seinem Brief an seinen Freund Father Gregory geschrieben, sie sollte sich nach ihrer Ankunft bei ihm melden. Er würde sie zu Andreas Mundl bringen. Der Kutscher deutete auf das nördliche Ende des Ortes. Dort machte die Straße eine Biegung. Hinter der Kurve würde sie die Kirche finden, erklärte er ihr. Dann stieg er auf den Bock. Zum Gruß tippte er an seinen Hut, schnalzte mit der Zunge und sein Gefährt setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Agnes wartete ein paar Augenblicke, bis sich der aufgewirbelte Staub verzogen hatte, dann nahm sie ihre Tasche und ging die Straße entlang in die beschriebene Richtung.

Einige Minuten später stand sie vor der kleinen, weiß gestrichenen Holzkirche. Während sie noch überlegte, wo sie den Pfarrer wohl finden würde, hörte sie es hinter der Kirche klappern. Als sie um die Ecke bog, sah sie einen Mann, der mit einer Hacke in der Hand eifrig Unkraut zwischen Bohnenpflanzen entfernte. Seine derbe graue Arbeitshose war dreckverschmiert, das gestreifte Hemd durchgeschwitzt. Der Strohhut war ausgefranst und sah aus, als hätte sich eine ganze Mäusefamilie daran gütlich getan.

„Guten Tag, Sir. Könnten Sie mir sagen, wo ich Father Timothy Walsh finde?“, fragte Agnes höflich.

Der Mann richtete sich auf. Neugierig musterte er die junge Frau. Er kannte jeden Einwohner von Cudeca und auch dreißig Meilen im Umkreis. Sie hatte er hier noch nie gesehen. Er lüpfte den Hut zur Begrüßung und wischte sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn. Dann stieg er vorsichtig über seine Bohnen und kam zu ihr.

„Guten Tag, Miss. Ich bin Father Timothy. Aber ich glaube nicht, dass wir uns kennen. Ein so reizendes Gesicht hätte ich bestimmt nicht vergessen.“

Agnes lächelte. Das war ja schon mal ein guter Anfang.

„Nein, wir kennen uns in der Tat noch nicht. Father Gregory O’Byrne hat mich an Sie verwiesen. Ich bin Mrs Agnes Mundl, die Ehefrau von Andreas Mundl.“

Der Schall der Posaunen, die das Jüngste Gericht ankündigten, hätte auf Father Gregory keine erschütterndere Wirkung haben können. Die Harke fiel ihm aus der Hand und seine Kinnlade nach unten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Sein sonnengebräuntes Gesicht büßte jegliche Farbe ein. Er wurde genauso weiß, wie die Wände seiner Kirche. Unsicherheit beschlich Agnes. Sie konnte sich keinen Reim auf diese Reaktion machen. Als der Priester keinerlei Anstalten machte zu reden, fragte sie:

„Stimmt etwas nicht? Geht es Ihnen nicht gut, Father?“

Timothy Walsh setzte zum Sprechen an, aber nur ein heiseres Krächzen kam aus seinem Mund. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal.

„Das ist nicht möglich! Wie sagten Sie, ist Ihr Name?“

Nun war Agnes wirklich beunruhigt. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

„Mein Name ist Agnes Mundl. Ich habe Andreas Mundl per Ferntrauung geheiratet. Sie selbst schickten die Papiere nach New York. Am 23. April habe ich sie unterschrieben und anschließend vor Father O’Byrne in der St. Anthony Church das Ehegelübde abgelegt.“

„Ich verstehe das nicht. Vor zehn Tagen habe ich Gregory mitgeteilt, dass sich die Angelegenheit erübrigt hat.“

„Ich habe New York zwei Tage nach der Eheschließung verlassen. Ich war drei Wochen unterwegs. Was meinen Sie mit ‚die Angelegenheit hat sich erübrigt‘? Was hat sich erübrigt?“

Agnes Stimme klang gehetzt. Mit einem Schlag war die Angst wieder da. Sie kramte die Heiratsurkunde aus der Tasche und hielt sie Father Timothy unter die Nase.

„Ich bin die rechtmäßige Ehefrau von Andreas Mundl. Hier, sehen Sie! Da ist Ihre Unterschrift. Und die von Mr Mundl ebenfalls. Und hier ist meine und die von Father O’Byrne. Das Siegel ist auch da. Nichts hat sich erübrigt. Es ist alles rechtens.“

Beschwörend sah sie ihn an. Father Timothy hatte die Hände vor dem Mund gefaltet und schüttelte ungläubig den Kopf. Panik stieg in Agnes hoch.

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir sagen würden, wo ich Mr Mundl finden kann“, sagte sie mit zittriger Stimme.

Der irische Priester atmete tief ein, dann sah er Agnes in die Augen.

„Ich bringe Sie zu ihm. Ihre Tasche können Sie solange hier lassen. Es ist nicht weit.“

Er drehte sich um und verschwand hinter der Kirche. Agnes folgte ihm. Unversehens fand sie sich auf dem kleinen Friedhof wieder.

‚Seltsame Abkürzung‘, dachte sie und stieß gegen den Rücken des Pfarrers, der unvermittelt vor ihr stehen geblieben war.

„Entschuldigung“, stammelte sie. Es war ihr peinlich ihn angerempelt zu haben. Als er keine Anstalten machte weiterzugehen, beugte sie sich zur Seite und lugte an ihm vorbei. Zu seinen Füßen befand sich ein frisch aufgeworfener Grabhügel, auf dem ein schiefes Holzkreuz steckte. Die Buchstaben und Zahlen darauf waren schwarz. Agnes Finger krallten sich in Father Timothys Arm, als sie las, was in das Holz eingebrannt war:

Andreas Mundl, geboren 1839, gestorben 1871

Während der ganzen Reise hatte sie sich ausgemalt, wie ihr Ehemann wohl aussehen und wie die erste Begegnung verlaufen würde. Und nun stand sie vor seinem Grab.

„Was ist passiert?“ Ihre Stimme war so leise, dass Father Timothy sie kaum verstehen konnte.

„Es war ein Sonnabend. Andy, so nannten wir Ihren Mann, spendierte im Saloon Freibier für Alle. Er wollte seine baldige Eheschließung feiern. Als die Männer schon ziemlich angetrunken waren, kam es zu einer Schlägerei. Andy stürzte und brach sich das Genick. Niemand hatte Schuld. Es war ein Unfall.“

Er nahm ihre Hand von seinem Arm und drückte sie tröstend.

„Das ist bestimmt ein furchtbarer Schock für Sie. Es tut mir so leid.“

„Das muss es nicht. Ich kannte doch nur seinen Namen.“

Ihren tapferen Worten zum Trotz spürte er wie sie zitterte.

„Kommen Sie mit. Ich denke eine kleine Stärkung wird Ihnen gut tun.“

Agnes war froh, dass der Priester sie bis zu der kleinen Steinbank neben der Kirche führte. Ihre Beine trugen sie kaum noch. Zu groß war der Schreck über diese unerwartete Entwicklung. Der Priester verschwand in dem kleinen Häuschen, das direkt an die Kirche angebaut war. Mit einer Flasche und einem Glas kam er kurze Zeit später wieder zurück. Er schenkte sehr großzügig ein. Agnes zitterte so sehr, dass sie mit beiden Händen zugreifen musste. Der Whiskey brannte in der Kehle und trieb ihr Tränen in die Augen. Aber das Zittern ließ nach.

„Was soll ich denn jetzt machen?“, murmelte sie. „Als mir Father O’Byrne von Andreas Mundl und seinem Wunsch nach einer Ehefrau aus dem Böhmerwald erzählte, dachte ich wirklich das Glück wäre diesmal tatsächlich auf meiner Seite. Aber es soll mir wohl einfach nicht vergönnt sein, auch einmal die Sonnenseite des Lebens kennen zu lernen. Was wird denn jetzt aus mir?“

Gegen ihren Willen entrang sich ihr ein Schluchzer, der aus der Tiefe ihrer unglücklichen Seele zu kommen schien. Die schiere Verzweiflung in den Augen sah sie Father Timothy an. Ein mildes Lächeln huschte über das Gesicht des Priesters.

„Zeigen Sie mir bitte noch einmal Ihre Heiratsurkunde?“

Agnes kramte das Dokument aus der Reisetasche und reichte es ihm. Father Timothy drehte es um und überflog die Rückseite. Mit dem Finger wies er auf den dritten Absatz. „Hier steht es. Sehen Sie!“

Agnes las: „Im Falle meines Todes hinterlasse ich meinen gesamten Besitz meiner Ehefrau.“

Agnes ließ das Papier sinken und sah den Priester verständnislos an.

„Andy war der Eigentümer einer ansehnlichen Farm. Er hat ihr einen seltsamen Namen gegeben. Ich kann ihn mir nicht merken. Dieses Dokument besagt, dass diese Farm jetzt Ihnen gehört. Grund und Boden, Haus, sämtliche Gerätschaften und das Vieh“, erklärte er ihr.

Stumm hielt Agnes ihm das leere Glas hin. Father Timothy lachte, als er ihr nochmal einen ordentlichen Schluck einschenkte. Sie kippte den Whiskey auf einmal hinunter. Dann hatte sie sich soweit gefangen, dass sie wieder klar denken konnte.

„Wo ist der Haken an der Geschichte? War Mr Mundl verschuldet?“

Agnes war immer noch skeptisch.

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß von keinen Schulden. Andy war ein sehr gewissenhafter und ehrenwerter Mann. Er hätte bestimmt nicht mehr Geld ausgegeben, als er besaß. Und gespielt hat er auch nicht.“

„Das heißt also, dass ich die Eigentümerin einer schuldenfreier Farm bin“, vergewisserte sich Agnes.

„Genau“, bestätigte Father Timothy. „Ich schlage vor, wir gehen jetzt zum Friedensrichter. Er hat seit Andys Tod einen Schlüssel zum Farmhaus.“

Er stand auf und streckte Agnes die Hand hin.

Der Friedensrichter war genauso konsterniert wie Father Timothy, als ihm Agnes ihren Namen nannte. Die Heiratsurkunde überzeugte ihn immerhin davon, dass er es mit keiner Betrügerin zu tun hatte. Trotzdem hatte Agnes den Eindruck, der Friedensrichter war nicht wirklich begeistert von ihrem Auftauchen. Nur widerwillig überließ er ihr den Schlüssel zum Farmhaus. Auch mit der Information, dass beim Schmied Andy Mundls Pferd und Wagen untergestellt waren, rückte er erst nach mehrmaligem Nachfragen durch Father Timothy heraus. In einem Nebensatz erwähnte er noch, dass sich ein gewisser Tiny Duroc, der Nachbar ihres Mannes, seit seinem Tod um das Vieh kümmerte und auf der Farm hin und wieder nach dem Rechten sah.

Schließlich war alles geklärt. Der Friedensrichter und der irische Priester begleiteten Agnes zum Mietstall um sicherzustellen, dass der Schmied Wagen und Pferd an die junge Frau übergab. Freddy Tumbler, dem Schmied, blieb der Mund offen stehen, als Agnes sich weigerte, sich von irgendeinem der Männer begleiten zu lassen. Als er sah, wie souverän Agnes das riesige Shire Horse vor den vierrädrigen offenen Transportwagen spannte, verkniff er sich jedoch jegliche Kritik. Ebenso erging es den beiden anderen Männern. Das Einzige was Agnes an Hilfe akzeptierte, war der Kompass, den Father Timothy noch schnell holte.

„Sie können ihn mir ja wieder zurück bringen, wenn Sie mit der Strecke vertraut sind“, sagte er und drückte ihr den Kompass in die Hand. „Bis zu Ihrer Farm sind es sieben Meilen. Es führt keine richtige Straße dorthin. Aber Fahrspuren sind schon zu erkennen. Wenn Sie sich immer genau in Richtung Norden halten, können Sie sie nicht verfehlen.“

Er war ihr beim Aufsteigen behilflich.

„Soll ich Sie nicht doch lieber begleiten?“ Agnes schüttelte den Kopf.

„Danke für das Angebot. Aber Sie haben schon mehr als genug für mich getan. Ich finde den Weg auch alleine. Außerdem habe ich ja Ihren Kompass.“

Sie schüttelte ihm die Hand, grüßte den Friedensrichter und den Schmied noch freundlich. Dann schnalzte sie mit der Zunge und das kräftige dunkelbraune Kaltblut setzte sich in Bewegung. Die drei Männer standen auf der Straße und schauten ihr nach, bis sie hinter dem letzten Haus des Ortes verschwand.

„Wer hätte das gedacht“, brummte der Friedensrichter vor sich hin, als er langsam zu seinem Büro zurück trottete.

Als Agnes sicher war, dass man sie vom Ort aus nicht mehr sehen konnte, zog sie die Zügel an und das Pferd blieb stehen. Sie wickelte die Zügel um den Bremshebel. Dann stieg sie ab. Sie schwankte leicht. Der Whiskey, den sie auf leeren Magen hinunter gestürzt hatte, tat seine Wirkung. Aber das war es nicht allein. Von dem Augenblick an, als ihr Father Timothy das Grab ihres Ehemannes gezeigt hatte, hatte sie unaufhörlich darum gekämpft, nicht die Fassung zu verlieren. Die unfassbaren Dinge, die in den letzten zwei Stunden auf sie eingeprasselt waren, hatten sie an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht. Aber um nichts in der Welt, hätte sie vor den Männern eine Schwäche eingestanden. Sonst hätten die drei sie niemals alleine zu ihrer Farm fahren lassen. Und das wollte sie nicht. Nun da zum ersten Mal in ihrem Leben die Unabhängigkeit zum Greifen nahe war, wollte sie nicht gleich von fremden Menschen abhängig sein. Sie trat neben den Kopf des schweren Zugpferdes. Der Hengst blähte die Nüstern und roch an ihren Haaren. Dann schnaubte er leise. Liebevoll streichelte sie das Tier zwischen den Augen. In diesem Moment löste sich ihre Anspannung. Den Kopf an den Hals des Pferdes gelehnt, weinte sie Tränen der Erleichterung und der Freude. Erleichterung und Freude darüber, dass sich endlich einmal alles zum Guten gewendet hatte. Als die Tränen versiegten, trocknete sie sich das Gesicht mit ihrem Rock ab. Sie streichelte dem geduldigen Hengst noch einmal über den Hals, dann kletterte sie wieder auf den Bock des Wagens.

„Na gut, mein Junge! Dann lass uns nach Hause fahren“, rief sie vergnügt.

Sie ließ die Zügel leicht auf den Rücken des Pferdes fallen und es verfiel in einen flotten Trab.

Die warme Nachmittagssonne schien ihr ins Gesicht. Der bewaldete Höhenzug, den sie vor ihrer Ankunft in Cudeca in der Ferne gesehen hatte, lag nun vor ihr. Es sah tatsächlich aus wie daheim im Böhmerwald. Zwischen den dunklen Nadelbäumen schimmerten jetzt Mitte Mai hellgrüne Laubbäume. Die schneebedeckten Gipfel des Hochgebirges traten klar vor dem tief dunkelblauen Himmel hervor. Agnes ging das Herz auf, als sie diese unbeschreiblich schöne Gegend vor sich liegen sah. Wenn die Fahrspuren nicht gewesen wären, die durch ein Meer von wogendem Gras führten, hätte man glauben können, keine Menschenseele hätte dieses paradiesische Land jemals zuvor betreten.

Bereits von Weitem sah sie, dass sie am Ziel ihrer langen, langen Reise angelangt war. Die Fahrspuren teilten sich. Die eine führte durch das Grasmeer weiter gen Norden, die andere unter einem grob zusammen gezimmerten Torbogen hindurch nach Westen. Zwei fast drei Meter hohe Pfosten waren links und rechts in die Erde gerammt worden. Verbunden waren sie durch eine geschwungene Holzplanke. SCHWARZER SEE stand darauf. Die Buchstaben waren in das Holz eingekerbt und die Kerben mit schwarzer Farbe ausgefüllt worden. So konnte man den Namen schon von Weitem lesen.

„Schwarzer See“, murmelte Agnes vor sich hin.

Das also war der Name, den sich Father Timothy nicht merken konnte. Der Name ihrer Farm! Die Fahrspuren verbreiterten sich zu einem richtigen Weg, dem man ansah, dass er regelmäßig ausgebessert worden war. Hoch aufragende Tannen und Lärchen, unterbrochen von Birken und Eschen lösten das Grasmeer ab und bildeten einen lichten Wald. Als sich Agnes schon zu fragen begann, wo sich denn wohl zwischen all den Bäumen eine Farm verstecken sollte, blieb der Wald zurück. Mitten in einer weiten Senke lag ein großer See. An seinem westlichen und nördlichen Ufer reichten die dicht bewaldeten Hügel bis direkt an das Wasser. Im Süden erstreckten sich saftige Weiden am Ufer entlang, umgeben von stabilen Holzzäunen. Und direkt vor ihr, an der Ostseite des Sees lag die Farm. Ein großes, aus dicken Baumstämmen errichtetes Wohnhaus mit einem hohen Giebel wurde links und rechts flankiert von zwei Wirtschaftsgebäuden. Beiderseits des Weges, der den Hang hinunter zur Farm führte, lagen kleine bestellte Felder. Agnes war überwältigt von dem Anblick. Alles wirkte ordentlich und gepflegt. Nirgends war auch nur eine Spur von Vernachlässigung zu sehen. Der Hengst schien sich ebenfalls zu freuen, wieder zuhause zu sein, denn ohne Agnes‘ Zutun verfiel er in einen fröhlichen Trab und strebte weit ausgreifend dem heimatlichen Stall entgegen. Schwungvoll fuhr sie in den Hof ein und brachte den Wagen direkt vor dem Farmhaus zum Stehen. Sie streckte die Arme in den Himmel und mit einem laut jauchzenden „Juhu!“ sprang sie vom Bock herunter. Sie hob ihren Rock und tanzte jubelnd und lachend um den Wagen herum. Das gewaltige Zugpferd warf erschrocken den Kopf in die Höhe und fing an nervös mit den mächtigen Hufen zu stampfen.

„Schschsch! Alles gut“, flüsterte sie, während sie nach dem Zaumzeug griff und beruhigend seinen Hals tätschelte. „Es tut mir leid, mein Freund! Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich bin einfach so unvorstellbar glücklich.“

Dann zog sie ihm die Zügel über den Kopf und wickelte sie um die Stange, die ganz offensichtlich genau zu diesem Zweck, quer vor der Veranda des Farmhauses angebracht war. Dann sah sie sich im Hof um. Den Brunnen fand sie zwischen dem Wohnhaus und dem linken Gebäude. Sie spannte den Hengst aus und führte ihn zum Trog. Der Schwengel war erstaunlich leichtgängig. Ein paar Pumpbewegungen und Wasser ergoss sich in den Trog. Agnes hielt ihren Mund unter den Hahn. Es war kühl und schmeckte herrlich. Als das Pferd getrunken hatte, führte sie es zu der umzäunten Weide am Südufer des Sees. Sie nahm dem Hengst das Geschirr ab und schickte ihn mit einem Klaps auf den Rücken in das Gatter. Das Gebäude auf der rechten Seite war die Scheune. Sie nahm die Deichsel des Wagens und schob ihn hinein. Als sie das Tor wieder mit dem Querbalken verriegelt hatte, konnte sie endlich an sich selbst denken. Mit der Reisetasche in der Hand stieg sie die beiden Stufen der Veranda hinauf. An der hölzernen Eingangstür waren weder Riegel noch Schloss angebracht. Der Schlüssel, den ihr der Friedensrichter übergeben hatte, musste also woanders passen. Agnes stellte die Tasche ab und ging um das Haus herum. Die Tür auf der linken Seite des Hauses war verriegelt und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie aufsperrte.

Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht. Sie ging von einem Zimmer zum anderen und öffnete die hölzernen Fensterläden. Sie waren allesamt von innen mit zwei stabilen Querlatten gesichert. Die Tür, die auf den Hof hinaus ging, befand sich in der Küche. Sie war zwei geteilt. Man konnte die obere Hälfte getrennt von der unteren aufmachen. Agnes entriegelte die Tür und schob den oberen Flügel auf. Sie stützte sich mit den Händen auf die untere Hälfte. Ihr Blick wanderte über den Hof, die anderen Gebäude, hinüber zur Koppel, auf der das Zugpferd genüsslich graste. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass das Alles jetzt ihr gehörte. Sie holte ihre Tasche ins Haus und inspizierte die restlichen Räume.

Auf der Rückseite des Hauses, der Küche gegenüber lag das Wohnzimmer. Zwei Fenster und eine große zweiflügelige Glastür führten auf die Veranda hinaus, die sich um das gesamte Gebäude zog. Sie öffnete die Tür. Die Strahlen der tiefstehenden Sonne tauchten das Zimmer in goldenes Licht. Ein mannshoher Kamin, gemauert aus groben Bruchsteinen, verhieß Wärme an kalten Tagen. Sie trat auf die Veranda, die von einem breiten Balkon überspannt war, der auf vier stabilen Balken ruhte. Eine zweisitzige hölzerne Schaukel lud zum Sitzen ein. Und zum Genießen des grandiosen Blicks über den See. Agnes ließ alle Türen und sämtliche Fenster offen, um den muffigen Geruch zu vertreiben. Dann stieg sie die Holztreppe nach oben.

Im ersten Stock, gab es vier kleine Kammern. Sie hatten jeweils nur einfache hölzerne Klappen in der Dachschräge, die man mit einem Stock hochstellen konnte. Das Schlafzimmer befand sie auf der dem See zugewandten Seite und nahm die komplette Breite des Giebels ein. Genau wie das darunter liegende Wohnzimmer hatte es zwei Fenster und eine Glastür, die auf den Balkon hinaus führte. Unter der rechten Dachschräge stand das breite Doppelbett und auf der linken Seite ein gusseisener Ofen, dessen Rohr durch die Schräge nach oben führte. Ein gewaltiger Kleiderschrank stand rechts neben der Zimmertür und eine Kommode mit Spiegel und Waschschüssel links. Die wenigen Kleider, die sie besaß, würden darin sicher noch gut Platz finden. Agnes stellte ihre Tasche auf das Bett und öffnete den Schrank um einzuräumen. Wie erwartet war er nicht leer. Es hingen jedoch nicht Hemden und Hosen ihres verstorbenen Ehemannes auf den Bügeln, sondern Frauenkleidung. Kleider, Röcke, Blusen, Jacken, Mäntel, Capes. Einfarbig, bunt. Dünne, feine Stoffe für den Sommer. Warmes für den Winter. Robuste Arbeitskleider, ebenso wie feine, elegante für Sonntags und zum Ausgehen. Sie schob die Kleiderbügel vorsichtig hin und her. Alle Sachen schienen neu und ungetragen zu sein. Man konnte die Stärke noch riechen. Fassungslos schüttelte Agnes den Kopf. Sie ging zur Kommode und zog die Schubladen auf. Nachthemden, Nachthauben, Unterröcke, Leibwäsche, Korsetts, Strümpfe in allen Variationen kamen zum Vorschein. Feinsäuberlich gefaltet und blütenweiß. Andreas Mundl hatte tatsächlich eine komplette Aussteuer für seine zukünftige Ehefrau besorgt, obwohl er keine Ahnung gehabt hatte, welche Kleidergröße sie haben würde. Er musste ein ganz besonderer Mann gewesen sein. Beinahe tat es ihr leid, dass sie ihn nicht kennengelernt hatte. Aber nur beinahe! Sie besaß jetzt alles, wovon sie je geträumt hatte. Aber das Wichtigste war ihre Freiheit. Es gab niemanden, der sie herum kommandierte und ihr das Leben zur Hölle machte. Sie schwamm zwar nicht gerade im Geld, aber von den einhundert Dollar, die ihr Andreas geschickt hatte, war immerhin noch die Hälfte übrig. Und die Farm, würde ihr Alles liefern, was sie zum Leben brauchte.

Vergnügt vor sich hin trällernd räumte sie ihre mitgebrachte Kleidung in die unterste Schublade. Da drang ein vertrautes Geräusch an ihr Ohr. Sie sprang auf und rannte auf den Balkon hinaus. Tatsächlich! Aus dem Gebäude auf der linken Seite war aufgeregtes Gackern zu hören. Hühner! Sie sprang freudig die Treppe hinunter und eilte über den Hof. Das Gebäude linkerhand war der Stall. Es gab Boxen für mindestens vier Pferde, einen Schweinekoben und einen Bereich, in dem sonst vermutlich Kühe untergebracht waren. Das Gackern kam aus einem hölzernen Verschlag in der Ecke. Agnes öffnete das schmale Türchen und schaute hinein. Zehn Hühner und ein Hahn scharrten in der Streu und pickten eifrig Körner zwischen den Halmen heraus. In der Außenwand befand sich eine kleine Luke, über die die Hühner ins Freie gelassen werden konnten. Natürlich war sie jetzt fest verschlossen. Jemand hatte die Hühner wohlweislich eingesperrt, sonst hätte sie inzwischen alle der Fuchs geholt. Wahrscheinlich der Nachbar, dieser Tiny Duroc, bei dem auch Andy Mundls restliches Vieh Unterschlupf gefunden hatte. Morgen zum Frühstück würde sie sich auf jeden Fall ein Spiegelei gönnen. Wenn nicht sogar zwei.

Sie ging zur Pferdekoppel hinüber und öffnete das Gatter. Der Hengst trabte an ihr vorbei schnurstracks in den Stall und suchte sich seine Box. Agnes verriegelte die Stalltür. Jetzt war es höchste Zeit für sich selbst etwas zu essen zu suchen. Seit dem Frühstück hatte sie außer den zwei Gläsern Whiskey nichts gehabt. Ihr Magen knurrte ganz gewaltig.

Neben der Küche fand sie die Speisekammer. Nicht einmal beim Klausner-Bauer hatte es eine solche Menge an Vorräten gegeben. Sie kam sich vor, wie im Schlaraffenland. Zum Glück lagen noch Holzscheite in der Kiste neben dem großen Küchenherd. Bald schon kochten Kartoffeln im Topf und Speck brutzelte in der Eisenpfanne. Es war ein wahrer Genuss an ihrem eigenen Tisch zu sitzen, von ihrem eigenen Teller zu essen und sich dabei alle Zeit der Welt zu lassen, während im Schaff an der Seite ihres eigenen Herdes das Wasser aus ihrem eigenen Brunnen heiß wurde.

Nach dem Spülen verriegelte sie auch die obere Hälfte der Küchentür und schloss die Fensterläden. Auf einem Wandbrett im Wohnzimmer fand sie ein paar Flaschen. Der Reihe nach zog sie die Korken heraus und schnüffelte daran. Whiskey, Gin und Apfel erkannte sie am Geruch. Sie schenkte sich einen Fingerbreit Gin ein. Mit dem Glas in der Hand ging sie auf die Veranda. Die Abendsonne war schon hinter den weißen Felszinnen verschwunden. Der See zu ihren Füßen wirkte beinahe schwarz. Ebenso wie die waldigen Hügel, die bis ans Ufer reichten. Jetzt wusste sie auch, wie der Name ihrer Farm entstanden war.

Sie hob ihr Glas und sagte: „Danke, Andreas Mundl! Danke, dass du dir eine Ehefrau aus dem Böhmerwald gewünscht hast! Danke für die schönen Kleider! Ich verspreche dir, gut auf die Farm aufzupassen und Alles in Schuss zu halten. Ich werde deinem Namen keine Schande machen. Auf dich, mein unbekannter Ehemann!“

Sie nahm einen großen Schluck. Dann ließ sich auf der Schaukel nieder, versetzte sie in leichte Schwingungen und schaute, zu wie die ersten Sterne am Himmel über dem Schwarzen See aufblitzten.

Die Frau vom Schwarzen See

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