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30. März 1871

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„Weißt du, was heute für ein Tag ist?“, fragte Mariele.

„Natürlich. Wie könnte ich den Tag jemals vergessen“, antwortete Agnes. „Vor einem Jahr sind wir mit der Atlantica in Hamburg los gefahren.“

„Unfassbar, dass es erst ein Jahr her ist. Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.“ Versonnen sah Mariele auf den Tresen. Mit dem Finger fuhr sie die Maserung des Holzes nach.

Agnes nickte. „Was hatten wir doch für hochfahrende Pläne, was für herrliche Träume! Zum Glück hatten wir keine Ahnung was uns erwartet. Ich bezweifle, dass ich mich auch nur einen Schritt weit vom Klausner-Hof entfernt hätte, wenn ich gewusst hätte, wie es hier ist.“

„Hast du es schon oft bereut, dass du mitgekommen bist?“ Fragend sah Mariele sie an.

Agnes schüttelte den Kopf. „Nein! Nicht einen Moment. Auch wenn das Leben hier die Hölle ist. Aber wenigstens habe ich immer noch die Hoffnung, dass es irgendwann anders werden wird. Dass es uns gelingen wird, aus diesem Elend heraus zu kommen und unser Glück zu machen. Der Hölle, die mir der Klausner-Bauer bereitet hätte, wäre ich niemals entkommen.“

Agnes stand neben Mariele hinter der Bar und polierte Gläser. Obwohl es schon acht Uhr war, war der Salon immer noch menschenleer. Solange sie im Hotel Rosaria arbeiteten hatte es das noch nie gegeben.

„Ich möchte wissen, was heute los ist. Wo stecken sie denn alle? Hast du etwas gehört?“ Für Mariele standen immer die praktischen Dinge im Vordergrund. Nie hing sie lange Zeit irgendwelchen trübseligen Gedanken nach. Sie lebte stets im Hier und Jetzt.

Agnes schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. In Chinatown habe ich nichts gemerkt. Aber schon auf dem Weg hierher ist mir aufgefallen, dass kaum Menschen auf der Straße sind.“

„Schließt die Fensterläden und verbarrikadiert die Tür!“

La Rosaria stand oben auf der Galerie. Ihre Hände umklammerten das Geländer. Selbst die üppig aufgetragene Schminke konnte die fahle Blässe ihres Gesichtes nicht verbergen. Die Stimme der sonst so souveränen und beherrschten Frau zitterte. Die beiden Aufpasser, die trotz der fehlenden Kundschaft links und rechts neben der Eingangstür standen, gehorchten umgehend.

La Rosaria sah die beiden Frauen hinter der Bar an. „Ihr verschwindet auf der Stelle. Seht zu, dass ihr so schnell wie möglich nach Hause kommt.“

Der Befehl war klar und unmissverständlich. Als Agnes Anstalten machte noch die restlichen Gläser zu polieren, kam unverzüglich die Anweisung von oben:

„Lass die Gläser stehen. Geht nach Hause, ehe es zu spät ist!“

Das ließen sich Agnes und Mariele nicht zweimal sagen. Fluchtartig verließen sie den Salon. In Windeseile zogen sie sich um und verschwanden durch die Hintertür. Kaum waren sie draußen, wurde von innen auch schon der Riegel vorgeschoben. Arm in Arm eilten sie die enge Gasse entlang. Das schmierige Kopfsteinpflaster war von Unrat übersät. Als sie in die Mulberry Street einbogen, blieb Agnes abrupt stehen.

„Hörst du das?“, fragte sie atemlos.

Lauschend hob Mariele den Kopf. Geschrei und Schüsse waren in der Ferne zu hören.

„Das kommt aus der Anthony Street“, sagte Mariele. „Komm, lass uns nachschauen, was da los ist.“

„Bist du verrückt? Hast du nicht La Rosaria gehört? Wir sollen schleunigst nach Hause gehen.“

„Ich will ja nur mal kurz gucken. Wenn sich die Männer morgen Abend darüber unterhalten was passiert ist, muss ich doch mitreden können.“

Mariele ließ den Arm ihrer Freundin los und ehe Agnes auch nur einen weiteren Widerspruch anbringen konnte, war sie schon in Richtung Anthony Street unterwegs. Agnes blieb nichts anderes übrig, als ihr durch das Gassengewirr zu folgen. Je näher sie der Straße kamen, desto lauter wurde der Tumult. Als sie aus einer dreckigen Gasse heraus in die Anthony Street einbogen, blieben sie wie angewurzelt stehen. Von beiden Seiten näherte sich eine grölende Menge. Linkerhand waren wilde italienische Flüche und Beschimpfungen zu hören. Von rechts ertönte aus dutzenden irischer Kehlen der grausige Schlachtruf der Whyos: „Kill ´em! Kill ´em!“

Die Italiener waren in der Überzahl. Aber sie waren nur mit Knüppeln, Holzlatten und Äxten bewaffnet, während die Iren Pistolen und abgesägte Schrotflinten dabei hatten. Unaufhaltsam rückten die Whyos vor.

„Kill ´em! Kill ´em!“, ertönte es jetzt in unmittelbarer Nähe der beiden Frauen. Verzweifelt versuchte Agnes ihre Freundin zurück in die Gasse zu zerren. Aber Mariele wand sich aus ihrem Griff. Die Neugier war stärker als die Vernunft. Mit angehaltenem Atem stand sie an die Mauer des Eckhauses gepresst und verfolgte fasziniert, wie die aufgebrachten Männer auf einander los gingen.

Laut brüllend, ihre behelfsmäßigen Waffen schwingend stürmten die italienischen Bandenmitglieder wie wild gewordene Stiere auf ihre Gegner los. Die Iren wichen keinen Millimeter zurück. Als die Männer der Five Points Gang nur noch fünf Meter von der ersten Reihe der Whyos entfernt waren, hoben diese ihre Waffen und feuerten. Wie das Donnern von Kanonen hallte das Krachen der Schüsse durch die enge Straßenschlucht der Anthony Street. Grenzenlose Panik erfasste Agnes. Wieder versuchte sie Mariele mit Gewalt in den Schutz der Gasse zu zerren. Aber ihre Freundin stand wie versteinert und starrte mit weit aufgerissen Augen auf die blutüberströmten Körper der niedergemetzelten Italiener. Gestern erst hatte sie mit einigen von ihnen an der Bar geschäkert. Jetzt lagen sie mit grotesk verzerrten Gliedern auf dem schmutzigen Pflaster.

Plötzlich kam es Mariele so vor, als würden sich die Ereignisse vor ihren Augen unnatürlich verlangsamen. Mit erschreckender Klarheit beobachtete sie, wie einer der Iren seine Schrotflinte hob und auf einen anstürmenden Italiener zielte. Dieser schwang seine Axt und schlug damit den Lauf der Flinte zur Seite. In diesem Augenblick drückte der Mann den Abzug. Mariele sah Mündungsfeuer im Lauf aufblitzen und eine kleine Rauchwolke aufsteigen. Dann traf sie die volle Wucht der Schrotladung in den Bauch und schleuderte sie zwei Meter rückwärts an die Hauswand.

„Mariele!“

Agnes panischer Schrei war das Letzte, was Mariele hörte. Dann schwappte eine Welle unsäglichen Schmerzes über sie hinweg und löschte jegliches Denken in ihrem Kopf aus. Ehe ihr Körper zu Boden sackte war Agnes bei ihr. Ihr eigener Arm umfasste Marieles Taille. Den Arm der Freundin zog sie über ihre Schultern. Dann schleppte sie die Verletzte zum nahe gelegenen Eingang der St. Anthony Church. Die große hölzerne Tür war zurück versetzt. So waren die Frauen vor dem vorüber stürmenden Mob wenigstens notdürftig geschützt. Vorsichtig ließ Agnes ihre Freundin auf die Stufen der Kirche sinken und lehnte sie mit dem Rücken an die Tür.

„Mariele! Mariele! Bitte sag doch was!“, flehte Agnes.

Sie riss sich ihr dickes Umhängetuch von der Schulter und drückte es mit aller Kraft auf die riesige Wunde in Marieles Bauch. Unablässig pulsierte Blut in beängstigenden Stößen heraus. In kürzester Zeit war das Tuch rot durchtränkt.

„Hilfe! Hilfe!“, schrie sie aus Leibeskräften. Aber die wütende, aufgestachelte Menge achtete nicht auf sie, sondern schob sich unaufhaltsam weiter.

„Bitte! So helft uns doch!“ Wieder und wieder tönten ihre verzweifelten Rufe durch die nun vollkommen verlassen da liegende Anthony Street.

„Mariele! Mariele! Hörst du mich? Nicht aufgeben!“

Marieles Atem ging so flach, dass sich ihr Brustkorb kaum noch hob. Angstvoll beugte Agnes sich über den leicht geöffneten Mund der Freundin. Ganz zart spürte sie den Hauch auf ihrer Wange. Noch war sie am Leben. Agnes hämmerte mit der Faust an die Kirchentür.

„Hilfe! Hilfe! Bitte, in Gottes Namen! Wir brauchen Hilfe!“, schrie sie ihre ganze Verzweiflung in die Dunkelheit hinaus.

„Agnes!“ Das Flüstern war so leise, dass Agnes es beinahe überhört hätte.

„Ich bin hier, Liebes.“ Zärtlich streichelte sie Marieles eiskalte Wange.

Die Lippen bewegten sich. Agnes hielt ihr Ohr direkt an den Mund. „Du…musst…hier…raus.“ Die Worte waren kaum zu verstehen.

„Schscht. Nicht reden. Du darfst dich nicht anstrengen“, sagte Agnes. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie tropften auf Marieles Gesicht. „Das…spielt…jetzt…keine…Rolle…mehr…mit…mir…ist…es…vorbei.“

Die Pausen zwischen den Worten wurden immer länger.

„Was redest du denn da? Du wirst wieder gesund und wir werden beide diese Hölle hier hinter uns lassen.“

„Versprich…mir…“

„Alles, Mariele! Ich verspreche dir was du willst. Aber du musst durchhalten! Du darfst nicht aufgeben!“, bettelte Agnes.

„Du…musst…das…Glück…festhalten…wenn…es…dir…begegnet.“

Ein qualvolles Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als der Schmerz wieder wie ein feuriges Messer durch ihren Leib jagte. Nur noch ein leises Röcheln war zu hören.

„Mariele, bitte lass mich nicht allein! Was soll ich denn ohne dich nur anfangen?“, schluchzte Agnes.

Ihre Lider zitterten, als Mariele unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte die Augen öffnete. „Du…musst…für…mich…mit…glücklich…werden.“

Ein dünner Blutfaden sickerte aus dem Mundwinkel, als sich Marieles Lippen zu einem letzten leisen Lächeln verzogen.

Mariele Leschinger aus Deschenitz im Böhmerwald war tot. Gestorben auf dem Pflaster einer dreckigen Straße in den Five Points in New York.

Agnes kniete neben dem Körper ihrer Freundin. Ihre blutverschmierten Hände im Schoß gefaltet. Unablässig liefen Tränen über ihre Wangen. Mit versteinerter Miene starrte sie in Marieles tote Augen. Sie nahm nichts von dem wahr, was um sie herum passierte. Weder registrierte sie, dass die Kirchentür aufgerissen wurde, noch dass ein Priester heraustrat und sich sofort über Mariele beugte. Father Gegory O’Byrne musste Agnes mehrfach an der Schulter rütteln, ehe sie den Kopf hob und ihn aus leeren Augen heraus verständnislos anstarrte.

„Was ist passiert?“, wollte er wissen. Er erhielt keine Antwort.

Agnes wendete ihren Blick ab und sah wieder auf Marieles nun so ruhiges Gesicht. Da hob Father Gregory das einfache Kreuz, das an einer langen Kette an seiner Brust baumelte. Leise murmelte er die Sterbegebete der Kirche. Als er begann das Vater Unser zu beten, erwachte Agnes aus ihrer Erstarrung. Erstaunt sah sie erst den Priester an, dann wieder Mariele. Schließlich betete sie mit. Zuerst mit kaum vernehmbarer Stimme, dann immer lauter. Father Gregory wollte gerade das Ave Maria beginnen. Da legte ihm Agnes die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Ganz langsam, wie eine uralte Frau, rappelte sie sich auf, stellte sich vor Mariele hin und stimmte das ‚Hail Mary‘ an, das die irischen Frauen, die mit ihr in der Wäscherei arbeiteten, immer während der Arbeit sangen. Am Anfang klang es dünn und unsicher. Aber nach und nach wurde ihre Stimme fester und lauter. Schließlich hallte das Lied zur Ehre der Gottesmutter durch die ganze Straßenschlucht, so wie vorher das Gebrüll der kämpfenden Banden.

Father Gregory wartete bis das letzte Amen zwischen den Häusern verhallt war, dann fragte er Agnes noch einmal: „Was ist passiert?“

Ihren Blick starr auf Marieles leblosen Körper gerichtet, erzählte sie ihm, was geschehen war. Aufmerksam hörte er zu.

Als sie fertig war, sah sie ihn flehend an. „Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann sie doch nicht hier liegen lassen.“

„Das musst du auch nicht“, sagte er. „Halte mir die Tür auf. Ich werde sie in die Kirche bringen.“

Father Gregory bückte sich und nahm Mariele auf die Arme. Agnes schob das schwere Kirchenportal auf. Sie ließ den Priester mit seiner Last passieren. Dann folgte sie ihm in das Gotteshaus. Vorsichtig legte Father Gregory die tote Frau auf die Altarstufen. Er holte Zündhölzer aus der Tasche seiner Soutane und zündete die Kerzen am Hochaltar an. Agnes kniete sich neben ihre tote Freundin, strich ihr die Haare aus dem Gesicht, richtete ihren Rock und faltete ihre Hände.

„Können Sie mir helfen sie ordentlich zu begraben, Father?“ Fragend sah sie den Priester an.

Father Gregory schenkte der unglücklichen Frau, die vor ihm auf dem Steinboden kauerte, ein mitfühlendes Lächeln. „Ich nehme an, dass deine Freundin getauft ist.“

Als Agnes nickte, fuhr er fort: „Zur Kirche gehört ein kleiner Gottesacker. Dort könnten wir sie beerdigen. Hast du Geld?“

„Wie viel wird es denn kosten?“

„Zwei Männer aus meiner Gemeinde würden für fünfzig Cent das Grab ausheben. Einen einfachen Sarg und ein hölzernes Kreuz bekomme ich für zwei Dollar. Hast du so viel?“

„Ja. Seit wir hier sind haben Mariele und ich jeden Cent gespart, den wir übrig hatten.“

„Du hast gesagt, dass ihr vom Hotel Rosaria gekommen seid. Arbeitest du dort?“

Agnes nickte.

„Aha“, brummte Father Gregory. Röte schoss Agnes ins Gesicht.

„Nicht was Sie denken, Father“, stammelte sie. „Mariele steht…ich meine sie stand hinter der Bar. Ich arbeite als Kellnerin. Wir verkaufen Getränke, nicht unseren Körper. Ich kann die Beerdigung mit ehrlich verdientem Geld bezahlen.“

Flammender Zorn kochte in Father Gregorys aufbrausender irischer Seele hoch. Zorn auf die rivalisierenden Banden und ihre Anführer. Zorn auf den korrupten Stadtrat, der ihrem Treiben keinen Einhalt gebot. Zorn auf den ganzen verkommenen Moloch New York, der arme Frauen in die Fänge von skrupellosen Geschäftemachern wie Rosaria Tonelli trieb.

„Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Ich weiß, wie es draußen zugeht. Korruption, Gewalt und Ausbeutung sind die drei Gottheiten, denen in diesem neuen Sodom gehuldigt wird. Und wenn ihr Beide es trotzdem geschafft habt ehrbar zu bleiben, ist das mehr, als man von den Meisten sagen kann.“

„Sie sehen ja, was Mariele ihre Ehrbarkeit eingebracht hat. La Rosarias Freudenmädchen mussten an so einem Abend das sichere Hotel nicht verlassen. Sie wurden nicht auf die Straße geschickt und die Tür hinter ihnen verriegelt. Sie liegen jetzt sicher und warm in ihren Betten. Nicht tot auf den kalten Steinen. Mariele war anständig bis zu ihrem letzten Atemzug. Trotzdem hat ER sie sterben lassen.“

Bitterkeit lag in Agnes‘ Stimme und Anklage in ihren Augen, als sie mit dem Finger zu dem Kreuz über dem Hochaltar zeigte. Father Gregory umschloss Agnes‘ eisige Finger mit seiner warmen Hand.

„Der Tod wartet auf jeden von uns. Wir wissen nicht, wann er vor der Tür steht und klopft. Das Einzige was wir tun können ist vorbereitet zu sein, wenn er kommt. Du sagst, dass deine Freundin ein anständiges Leben geführt hat. Dann wird der Herr sie mit ausgebreiteten Armen erwarten.“

„Sie sagen das nicht nur so? Sie glauben das wirklich, oder?“ Fragend sah sie ihn an.

„Ja.“

Ergeben senkte Agnes den Kopf. „Dann will ich es auch glauben. Dann will ich glauben, dass Mariele jetzt in einer besseren Welt ist.“

Sie entzog ihre Hand dem Griff des Priesters, stand auf und straffte die Schultern.

„Wann wollen wir sie beerdigen?“, fragte sie mit fester Stimme.

Father Gregory dachte kurz nach, ehe er antwortete.

„Ich denke morgen Nachmittag. Bis dahin haben die Männer das Grab ausgehoben und ich habe den Sarg abgeholt. Vielleicht um fünf Uhr?“

Agnes nickte. „Wenn ich eine Stunde früher in der Wäscherei anfange, bin ich bis dahin fertig.“

„In welcher Wäscherei? Ich dachte du arbeitest im Hotel Rosaria?“

Ein bitteres Lachen entfuhr Agnes. „Von morgens um sechs bis abends um sechs arbeite ich in einer Wäscherei in Chinatown. Erst danach gehe ich zu La Rosaria. Üblicherweise bis Mitternacht. Bis ich in meinem Bett bin, ist es meistens ein Uhr. Um fünf stehe ich wieder auf und die Tretmühle beginnt von vorn. Aber nur so reicht der Verdienst zum Überleben.“

Erstaunt nahm Father Gregory zur Kenntnis, dass zwar Bitterkeit aus den Worten der jungen Frau sprach, sie aber nicht auf Mitleid aus war. Sie war nicht zufrieden mit ihrem Los, keineswegs. Aber sie tat, was getan werden musste. Ohne Jammern, ohne Klagen. Tagaus, tagein nahm sie ihr Kreuz auf sich. So wie ER es einst von seinen Jüngern gefordert hatte. Obwohl Father Gregory sie noch nie in der Kirche gesehen hatte, war sie vielleicht eine bessere Christin, als Viele, die jeden Sonntag kamen.

„Wenn du möchtest, lasse ich dich jetzt mit deiner Freundin allein. Dann kannst du dich in Ruhe von ihr verabschieden.“

„Danke, Father. Aber das ist nicht nötig. Wie Sie gesagt haben: ER wird sie mit offenen Armen empfangen. Das ist alles was zählt.“

Sie kniete sich neben Mariele auf die Altarstufen, küsste sie auf die Stirn und flüsterte: „Danke für Alles! Ich werde dich nie vergessen!“

Als sie sich erhob, nickte sie Father Gregory zu: „Wir sehen uns morgen.“

Langsam schritt sie den Mittelgang der Kirche entlang. Am Eingangsportal warf sie noch einen letzten Blick zurück. Father Gregory hatte sich vor den Altar gekniet und betete mit gesenktem Kopf. Im schwachen Licht der flackernden Kerzen war Marieles Blut besudeltes Kleid nicht zu erkennen. Ruhig und friedlich lag sie da. So als würde sie schlafen.

Pünktlich um fünf Uhr betrat Agnes am nächsten Nachmittag wieder die St. Anthony Church. Sie hatte kein schwarzes Kleid. In der Wäscherei hatte sie sich von einem schwarzen Putzlumpen einen Streifen abgerissen und ihn wie eine Rosette an das Oberteil ihres derben grauen Arbeitskleides genäht. Als die anderen Waschfrauen von Marieles Schicksal erfuhren, legten sie zusammen und kauften bei einem chinesischen Händler in der Nachbarschaft für zehn Cent einen Strauß aus weißen Papierblumen für das Grab. Mit diesem Strauß in der Hand stellte sie sich neben die einfache Holzkiste, die nun die sterblichen Überreste ihrer Freundin vor den Augen der Welt verbarg. Außer ihr waren noch zwei alte Frauen da, die vermutlich zu jeder Beerdigung kamen, weil sie sonst nichts Besseres zu tun hatten.

Kaum hatte Father Gregory sein letztes Amen gesprochen, kamen zwei Männer mit einem einfachen Handkarren zur Seitentür herein. Sie luden den Sarg auf und zogen ihn in den kleinen Friedhof hinaus, der neben der Kirche lag. Father Gregory, Agnes und die beiden alten Frauen gingen schweigend hinterher. Als der Sarg langsam in die ausgehobene Grube hinunter gelassen wurde, konnte Agnes die Tränen nicht mehr zurück halten. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte nicht zu weinen, flossen sie unablässig über ihre Wangen. Mariele war so mutig und voller Lebensfreude gewesen. Nun würde sie unter einer vier Fuß dicken Erdschicht begraben liegen. Und mit ihr alle Träume von einer besseren Zukunft in einer besseren Welt.

Agnes weinte nicht nur um die tote Freundin. Sie weinte auch, weil sie nur so die schreckliche Angst verdrängen konnte, die seit dem gestrigen Abend wie ein dicker, hässlicher Kloß in ihrem Magen hockte. Die Angst davor, was die Zukunft bringen würde. Ohne Marieles Verdienst konnte sie die Miete für das elende Zimmer nur gerade so aufbringen. Zum Leben blieb dann kaum noch etwas übrig. Geriet sie auch nur einen einzigen Tag mit der Zahlung in Rückstand, würde die Wirtin sie umgehend hinauswerfen. Sie wohnte schon lange genug in Five Points um zu wissen es gab keine billigeren Zimmer. Die einzige Hoffnung war, so schnell wie nur irgend möglich wieder eine Mitbewohnerin aufzutreiben. All das ging ihr durch den Kopf, während sie zusah, wie die Männer das Grab zu schaufelten. Als sie fertig waren klopften sie mit den Schaufeln noch den Grabhügel fest. Dann traten sie vor Agnes hin und hielten die Hände auf. Sie gab jedem von ihnen die versprochenen fünfzig Cent. Als sie Father Gregory die zwei Dollar für den Sarg und das Holzkreuz gab, fragte er:

„Was soll ich auf das Kreuz schreiben?“

„Marie Leschinger. Geboren 1845 in Deschenitz im Böhmerwald. Gestorben 1871 auf der Straße in Five Points.“

„Soll ich das wirklich so schreiben? Auf der Straße?“

„Ja! Es soll jeder wissen, was Five Points für ein grausiger Ort ist.“

„Gut, dann schreibe ich das so.“

Mit diesen Worten verschwand Father Gregory in der Sakristei. Auch die beiden Frauen waren schon gegangen. Andächtig steckte Agnes den Papierblumenstrauß in die Erde des Grabhügels und klopfte sie rundherum schön fest, damit nicht der nächste Windstoß die Blumen fort wehte. Dann stand sie auf, wischte sich die Erde von den Händen und machte sich auf den Weg zu La Rosaria.

Die Frau vom Schwarzen See

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