Читать книгу Die Frau vom Schwarzen See - Anna-Irene Spindler - Страница 6

April 1870

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Ganz allmählich konnten die beiden Frauen die Grenze zwischen Wasseroberfläche und Himmel erkennen. Das heller werdende Schwarz des Firmaments zeichnete sich immer deutlicher vom schwarz-grünen Wasser des Atlantiks ab. Seit nunmehr sechzehn Tagen standen sie jeden Morgen vor Sonnenaufgang am Bug des Dampfers und starrten in die Dunkelheit. Seit sechzehn Tagen warteten sie darauf, dass am Horizont die Umrisse der Stadt New York auftauchen würden. Der Kapitän der Atlantica hatte ihnen beim Auslaufen des Frachtdampfers gesagt, dass die Überfahrt mindestens achtzehn Tage dauern würde. Aber das hinderte Agnes und Mariele nicht daran, jeden Morgen Ausschau zu halten nach ihrer neuen Heimat.

Der Start in Hamburg hatte sich als recht schwierig erwiesen. Tagelang waren sie durch das Hafengebiet gestreift auf der Suche nach einem Schiff, das sie nach Amerika mitnehmen würde. In der übelsten Gegend der Hafenstadt hatten sie eine billige Unterkunft gefunden. Trotzdem zehrte jeder Tag ihres Aufenthalts an ihren kümmerlichen Ersparnissen. Nach vier Tagen vergeblicher Suche hatten sie endlich einen Passagierdampfer gefunden, der am nächsten Morgen nach New York auslaufen sollte. Allerdings kostete die einfachste Kabine im untersten Deck 120 Mark. Nur einer der Männer hatte genügend Geld gespart um diesen Preis bezahlen zu können. Aber auf dem Dampfer wurden noch drei Kohlentrimmer und ein Heizer gesucht. Also hatte die Gruppe schweren Herzens beschlossen sich zu trennen. Als die vier Burschen an Bord des Dampfers gingen, standen die verbliebenen acht jungen Böhmerwäldler an der Mole, drückten ihre Freunde zum Abschied, wünschten ihnen alles Gute und winkten ihnen hinterher, ehe sie im Bauch des großen Dampfers verschwanden. Jeder von ihnen wusste, dass es mit ziemlicher Sicherheit ein Abschied für immer wäre. Mutlos und mit hängenden Köpfen machten sich die Zurückgebliebenen wieder auf die mühsame Suche nach einem Schiff.

Schließlich war es Mariele, die ihnen die Überfahrt sicherte. Drei Tage nachdem sie sich von ihren Freunden getrennt hatten, drückten sich Mariele und Agnes wieder an den Landungsbrücken herum. Neugierig beobachteten sie das Beladen eines Frachtdampfers. Holzkisten wurden an Bord gebracht. Sie wurden nicht, wie sonst üblich, in großen Netzen verstaut mit Kränen über die Ladeluken gehievt und dann abgelassen, sondern einzeln mit Schubkarren über eine Planke geschoben. Eine sehr umständliche Methode, wie Agnes fand.

„Ich möchte wissen, was die da verladen. Scheint ja etwas ganz Besonderes zu sein, wenn sie so ein Aufhebens darum machen“, sagte sie.

Die beiden Frauen wollten gerade weiter gehen, als es geschah. Einer der Schauerleute hatte offensichtlich zu wenig Schwung geholt. Er schaffte es nicht die Schubkarre in einem Ansatz bis zum Schiffsdeck hoch zu schieben. Er verlor das Gleichgewicht und die Karre kippte um. Mit einem lauten Scheppern krachte die Holzkiste auf die Mole. Der Lademeister, der das Beladen überwachte, lief rot an und begann mit wüsten Flüchen den Hafenarbeiter zu beschimpfen. Die anderen Arbeiter stellten sich auf die Seite ihres unglücklichen Kollegen und in kürzester Zeit hallte die Mole wider von üblem Geschrei und Beschimpfungen. Schließlich machten die sechs Schauerleute kehrt und ließen den fluchenden Lademeister einfach stehen. Mariele packte Agnes am Arm.

„Lauf‘ und hol‘ die Männer. Beeil dich! Ich versuche den Lademeister zu überzeugen, dass wir genau die Richtigen sind, um ihm aus seiner Notlage heraus zu helfen.“

Ohne weiter auf Agnes zu achten, rannte sie zu dem Frachtdampfer und erklomm mit so sicherem Schritt das Deck, als hätte sie sich ihr ganzes Leben lang auf schwankenden Planken bewegt.

Als Agnes mit den sechs Männern zurückkam, hatte es Mariele tatsächlich geschafft, den Lademeister davon zu überzeugen, dass ihre Freunde bestens geeignet wären, die kostbare Ladung fachgerecht zu verstauen. Wie sie herausgefunden hatte, befand sich in den Kisten sündhaft teures Meißner Porzellan. Es waren Sonderanfertigungen für den amerikanische Millionär William Backhouse Astor. Dieser hatte den Frachtdampfer Atlantica für eine geradezu fürstliche Summe eigens für den Transport des Porzellans angemietet. Die Bezahlung sollte jedoch nur unter der Bedingung erfolgen, dass lediglich ein Prozent des fünfhundertteiligen Porzellanservices bei der Überfahrt zu Bruch ginge. Als der unglückliche Arbeiter die Kiste zu Boden fallen ließ, war zum Glück nur ein Suppenteller zerbrochen. Das bedeutete, dass immer noch gute Aussichten bestanden, die kostbare Fracht nahezu unversehrt in New York abzuliefern und die Entlohnung zu kassieren. Die kräftigen Burschen aus dem Böhmerwald schafften die Kisten mit so großer Vorsicht in den Laderaum des Frachters, als würden sie rohe Eier transportieren. Agnes und Mariele machten sich ebenfalls nützlich. Sie fanden einen gewaltigen Haufen alter Kleider und leerer Kohlensäcke. Der Lademeister hatte sie bereits gemeinsam mit einen enormen Berg Holzwolle unter Deck bringen lassen. Die Holzwolle stopften die beiden Frauen in die leeren Kohlensäcke. Die alten Kleider wurden in mehreren Lagen um die Kisten gewickelt. Dann wurden die Säcke mit der Holzwolle zwischen die Kisten gestopft und auch außen herum geschichtet. Schließlich wurde das Frachtgut noch kreuz und quer mit dicken Tauen gesichert, die an den Eisenträgern des Laderaums verankert wurden. Der Lademeister war mit ihrer Arbeit so zufrieden, dass er nicht Nein sagen konnte, als Mariele ihn bekniete sie mit nach New York zu nehmen. Die Männer sollten, wie schon auf dem Elbkahn, das Heizen übernehmen und die beiden Frauen in der Kombüse arbeiten. So kam es, dass die acht Auswanderer eine Woche nach ihrer Ankunft in Hamburg an Bord des Frachtdampfers Atlantica das alte Europa in Richtung Amerika verließen.

Nun standen also Agnes und Mariele wie an jedem Morgen, ehe sie ihre Arbeit in der Kombüse aufnahmen, an der Reling und hielten Ausschau.

„Was meinst du? Wie wird es wohl werden?“ Fragend sah Mariele ihre Gefährtin an.

Agnes zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob wir eine Unterkunft und Arbeit finden. Wir haben kaum noch Geld. Und es gibt bestimmt viele Menschen in New York, die auf der Suche nach Arbeit sind. Aber ich weiß, dass wir es schaffen werden, wenn wir nur hart genug arbeiten und wenn wir immer fest zusammen halten.“

Mariele nickte zustimmend. „Ja, es wird bestimmt nicht leicht werden. Aber es gibt nichts, was wir Beide nicht schaffen könnten. Die Arbeit möchte ich sehen, die wir nicht erledigen können. Und wer weiß? Vielleicht werden wir eines Tages so reich sein, wie dieser Mr Astor und können unsere Suppe aus Meißner Porzellan Tellern löffeln.“

„Bestimmt“, lachte Agnes und stieß ihrer Freundin den Ellenbogen in die Rippen. „Wir werden einen Haufen Diener haben, die wir herum kommandieren können. Und eine eigene Zofe, die uns beim Anziehen unserer Seidenkleider hilft.“

Sehnsüchtig starrten sie auf den Horizont. Ach, wenn es doch bloß schon so weit wäre!

Als am nächsten Vormittag die New Yorker Hafenanlagen aus dem Nebel auftauchten, standen die beiden Frauen in der Kombüse und schälten gerade die unvermeidlichen Kartoffeln.

„Agnes, Mariele! Kommt schnell!“, schallte der Ruf vom Deck des Frachters. Die halb geschälten Kartoffeln flogen in hohem Bogen in den Suppentopf. Die langen Röcke bis über die Knie hoch gerafft, jagten Agnes und Mariele die schmale Treppe zum Oberdeck hinauf. Ihre sechs Kameraden standen an der Reling. Sie hatten sich gegenseitig die Arme über die Schultern gelegt. Stumm, beinahe andächtig starrten die Männer in die Ferne. Die beiden Frauen stellten sich daneben. Mit zusammengekniffenen Augen suchte Agnes den Horizont ab. Dann sah sie es auch. Umrisse gigantischer, grauer Häuser, noch viel größer und höher als die Backstein-Lagerhäuser in Hamburg. Keuchend stieß sie die Luft aus, die sie vor Aufregung angehalten hatte.

„Wir haben es geschafft“, flüsterte sie. Und dann schrie sie ihre Begeisterung laut hinaus: „Ja! Ja! Ja!“

Sie riss Mariele von der Reling weg, fasste sie um die Taille und begann sich mit ihr im Kreis zu drehen.

„Wir sind in Amerika! Wir sind in Amerika!“, sang sie fröhlich zu einer selbst erfunden Melodie.

Die Burschen drehten sich zu den Frauen um und begannen zu Agnes‘ lustigem Lied rhythmisch zu klatschen. Laut hallte der fröhliche Chor quer über das Deck der Atlantica. „Wir sind in Amerika! Wir sind in Amerika!“

Schließlich musste der Kapitän dem ausgelassenen Treiben Einhalt gebieten. Natürlich hatte er Verständnis für die überschäumende Freude der Auswanderer. Aber der Kessel heizte sich schließlich nicht von alleine und die Kartoffeln schälten sich auch nicht von selbst. Nur sehr widerwillig nahmen sie ihre Arbeit unter Deck wieder auf. Keiner von ihnen wollte das Einlaufen in den Hafen von New York versäumen.

Der Kapitän war kein Unmensch und hatte am Ende doch ein Einsehen. Da er mit ihrer Arbeit während der Überfahrt mehr als zufrieden gewesen war, wollte er ihnen den Augenblick der Ankunft in der neuen Heimat nicht verderben. Als es soweit war, beorderte er sie nach oben. Eng umschlungen standen Agnes und Mariele an der Reling. Die nicht enden wollende Häuserfront der Halbinsel Manhattan glitt langsam an ihnen vorbei, als die Atlantica in die Mündung des East River einfuhr. Endlich erreichten sie den richtigen Pier.

Mit den klaren Befehlen des Kapitäns war das Anlegen ein Kinderspiel. Alle Hilfsmatrosen aus dem Böhmerwald legten mit Hand an. Als sie die Atlantica fest vertäut hatten, verließ der Kapitän das Schiff um das Hafenbüro aufzusuchen und seine Fracht anzumelden. Die Auswanderer würden noch beim Löschen der kostbaren Ladung behilflich sein. Sollten sie es tatsächlich schaffen, die Kisten unbeschädigt in das angegebene Lagerhaus zu bringen, würde es noch eine kleine Prämie geben.

Auch das erledigten sie zur Zufriedenheit des Kapitäns. Als sie sich von ihm verabschiedeten, drückte er jedem von ihnen ein paar Scheine der unbekannten, neuen Währung in die Hand und erklärte ihnen den Weg zum Castle Clinton, der Anlaufstelle für alle Einwanderungswillige. Dort mussten sich alle Neuankömmlinge registrieren. Nur mit einer Registrierungsbescheinigung würde es ihnen möglich sein, eine legale Arbeit auszuüben. Ein kurzes Winken zum Abschied. Dann machten sich die acht Böhmerwäldler auf, den unbekannten Kontinent für sich zu erobern.

Die Frau vom Schwarzen See

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