Читать книгу Die Frau vom Schwarzen See - Anna-Irene Spindler - Страница 9

April 1871

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Agnes quetschte sich mit ihrem Tablett zwischen den dicht gedrängt stehenden Gästen hindurch. Die Hände der Männer waren einfach überall. An ihrem nackten Hals, an der Taille, auf ihrem Hintern und an ihrem Busen. Da es aber so viele waren, machte es keinen Sinn, irgendeinen von ihnen zurechtzuweisen. Inzwischen machte es ihr auch nichts mehr aus. Sie hatte gelernt, die obszönen Berührungen ebenso zu ignorieren, wie die unflätigen Kommentare der betrunkenen Männer. Also schob sie sich einfach an ihnen vorbei. Lediglich darauf bedacht, ihre Gläser heil nach oben zu den Séparées zu bringen. Als sie mit dem leeren Tablett die Treppe wieder herunter kam, fiel ihr ein Gesicht auf, von dem sie niemals auch nur im Entferntesten erwartet hatte, es hier zu sehen. Ein Glas Whiskey in der Hand stand Father Gregory zwischen den irischen Hafenarbeiter und unterhielt sich mit ihnen. Ein katholischer Priester aus Irland in einem italienischen Bordell! Sie hatte schon viel erlebt, seit sie in New York war, aber das war ja wirklich etwas Einmaliges. Zum Zeichen, dass auch er sie entdeckt hatte, hob er den Arm und winkte ihr zu. Da Agnes während der Arbeit nicht längere Zeit mit den Gästen plaudern durfte, zwinkerte sie ihm nur zu und zwängte sich dann weiter in Richtung Tresen.

Kurz vor Mitternacht verschwanden die Männer nach und nach mit den Mädchen nach oben in die Zimmer. Jetzt konnte Agnes mit dem Aufräumen beginnen. Während sie die Tische abputzte gesellte sich Father Gregory zu ihr.

„Ich bin sehr überrascht, Sie hier im Hotel Rosaria zu sehen Father“, sagte Agnes.

„Nun, wenn die Schafe nicht zum Hirten kommen, muss der Hirt zu den Schafen gehen“, antwortete Father Gregory.

Mit einem fröhlichen Grinsen hob er sein leeres Glas.

„Meine ziemlich stürmische Jugend im Hafenviertel von Dublin hilft mir heute dabei von den trinkfesten Iren und Italienern ernst genommen zu werden.“

„Soll ich Ihnen noch Nachschub holen?“, fragte Agnes lachend.

„Nein danke. Für heute reicht es. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht nur wegen der gottlosen Hafenarbeiter hier. Ich wollte sehen wie es dir geht und ein bisschen mit dir plaudern.“

Überrascht sah Agnes den Priester an. Seit sie in New York war, war Father Gregory die erste Person, die sich für sie interessierte und nicht für ihre Arbeitskraft oder für ihr Geld.

„Ich muss erst noch aufräumen. Danach habe ich ein bisschen Zeit. Das heißt wenn es nicht zu lange dauert. Morgen früh muss ich wieder um fünf Uhr aufstehen.“

„Ich helfe dir, dann geht es schneller.“

Ehe Agnes widersprechen konnte hatte sich Father Gregory ihr Tablett geschnappt, ging von Tisch zu Tisch und sammelte die leeren Gläser ein. La Rosaria, die seit Marieles Tod wieder selbst hinter der Bar stand, begrüßte ihn mit einem ironischen Lächeln, als er das Tablett zum Tresen brachte.

„Father Gregory, geht das Geschäft mit den verlorenen Seelen so schlecht, dass Sie einen Nebenjob brauchen?“

„Guten Abend Signora Tonelli. Nur wenn Sie gut zahlen. Meine Gemeinde hat immer Geldsorgen.“

„Aber, aber Father. Ich dachte, Sie arbeiten um Gottes Lohn“, lachte die Puffmutter. Dann zeigte sie ihm wo er die Gläser abspülen konnte.

Wie jeden Abend verließ Agnes das Hotel durch den Hinterausgang. Father Gregory wartete schon auf sie. Langsam gingen sie durch die verlassenen Straßen. Für April war es eine erstaunlich milde Nacht. Sie setzten sich auf die Stufen der St. Anthony Church.

„Nun Father, worüber wollen Sie mit mir reden?“, begann Agnes nach ein paar Minuten.

Der Priester sah sie von der Seite an. „Wie geht es dir?“

„Ich lebe noch“, war die kurze, fast barsche Antwort.

„Das sehe ich. Mich interessiert, wie du alleine zurechtkommst.“

Agnes überlegte. Seit Marieles Beerdigung hatte sie den Priester nicht mehr gesehen. Im Grunde genommen war er ein Fremder für sie. Warum also sollte sie ihm von ihren Sorgen erzählen? Warum ihm ihr Herz ausschütten? Gut, er war heute Abend in das Bordell gekommen. Um mit ihr zu plaudern, wie er gesagt hatte. Aber interessierte er sich wirklich für sie? Oder war er vielleicht nur gekommen, um zu schauen, ob sie nicht doch als Freudenmädchen arbeitete? Andererseits hatte er ihr in der Nacht, in der Mariele gestorben war, ohne zu zögern geholfen. Vielleicht meinte er es ja tatsächlich gut mit ihr.

„Wie ich zurechtkomme? Mehr recht als schlecht“, begann sie. „Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Ich habe noch Niemanden gefunden, der sich mit mir das Zimmer teilen möchte. Die Nächstbeste, die auf der Straße wartet, will ich nicht fragen. Sie würde mir wahrscheinlich bei der ersten Gelegenheit den Garaus machen, um an meine dürftige Habe zu kommen. Die Frauen in der Wäscherei haben alle Familie. Und La Rosarias Mädchen brauchen keine Unterkunft. Sie wohnen alle im Hotel Rosaria. Ansonsten kenne ich Keinen. Ich arbeite jeden Tag siebzehn Stunden, da habe ich keine Zeit Bekanntschaften zu schließen. Für die Aprilmiete musste ich schon ein bisschen was von unserem Ersparten nehmen. Nun ist schon mehr als die Hälfte des Monats vorbei und mir fehlen immer noch fünfzehn Dollar für die nächste Miete. Wenn es so weiter geht, werde ich wieder auf die Reserve zurückgreifen müssen. Für Essen kann ich so gut wie nichts erübrigen. Wenn ich aus dem Bordell keine Essensreste mitnehmen kann, habe ich kaum mehr als eine Scheibe Brot am Tag. Ich bin nicht am Verhungern, aber ich gehe oft mit knurrendem Magen ins Bett.“

Sie machte eine kurze Pause und sah den Priester von der Seite an.

„Bis jetzt ist es mir gelungen, ehrlich zu bleiben. Ich musste weder stehlen um zu überleben, noch meinen Körper verkaufen. Wie lange ich das noch durchhalte, weiß ich nicht. Aber hey! Sind nicht Sie es, der für einen Verein arbeitet, der an Wunder glaubt?“

Beim letzten Satz stieß sie Father Gregory mit dem Ellbogen leicht in die Rippen und lachte.

„Allerdings. Und wer weiß. Vielleicht ist das Wunder ja schon eingetreten.“ „Was meinen Sie damit?“

„Es gibt eine Möglichkeit, wie du auf einen Schlag alle deine Sorgen los wirst und dieses elende Dasein hinter dir lassen kannst.“

Ungläubig sah Agnes den Priester an. „Sie machen sich über mich lustig.“

„Nein. Ich meine es vollkommen ernst. Allerdings musste du mitmachen, damit das Wunder funktioniert.“

Wie von der Tarantel gestochen schoss Agnes in die Höhe. Mit bösem Blick sah sie auf den Priester hinunter.

„Ich versuche doch nicht mit aller Macht ehrlich zu bleiben, nur um dann zu Ihnen ins Bett zu steigen“, fauchte Agnes aufgebracht. „Pfui Teufel Father, schämen Sie sich!“

Father Gregorys schallendes Gelächter hallte durch die Anthony Street.

„Du bist ja wie die ehrenwerten Matronen meiner Gemeinde. Ehrbarkeit auf den Lippen, Unmoral in den Gedanken“, neckte er sie.

Dann fuhr er mit ernster Miene fort: „Deine Ehrbarkeit ist eine Voraussetzung dafür, dass das Wunder eintritt.“ Agnes runzelte die Stirn.

„Ich habe keine Ahnung wovon Sie reden“, sagte sie.

„Komm, setz dich wieder. Ich werde es dir erklären. Du musst mir aber versprechen, mich nicht zu unterbrechen. Wenn ich fertig bin, werde ich alle deine Fragen beantworten. In Ordnung?“

„In Ordnung“, brummte Agnes und setzte sich wieder neben den Priester auf die Kirchenstufen.

„Ich habe einen sehr guten Freund. Er ist ebenfalls Priester. Wir sind gemeinsam aus Irland gekommen. Im Gegensatz zu mir kam er von einem Bauernhof. Das Leben in New York machte ihn krank. Vor acht Jahren schloss er sich einem Siedlertreck an, der nach Westen zog. Es hat ihn nach Kanada verschlagen. Er ist Pfarrer in Cudeca, einer kleinen Ansiedlung nicht weit hinter der amerikanischen Grenze. Trotz der langen Zeit ist unser Kontakt nicht abgerissen. Vor vier Tagen habe ich wieder Post von ihm bekommen. Er hat mir geschrieben, dass in der Gegend um Cudeca akuter Frauenmangel herrscht.“

Father Gregory spürte, wie sich die Frau an seiner Seite versteifte. Beruhigend tätschelte er ihr Knie.

„Nicht was du denkst. Viele Männer sind auf der Suche nach einer Ehefrau. Einer von ihnen hat sich an ihn gewendet. Er hat ihn gebeten an mich zu schreiben und zu bitten, nach einer geeigneten Frau Ausschau zu halten. Der Mann hat wohl eine Farm außerhalb von Cudeca, die er gemeinsam mit einer tüchtigen Frau bewirtschaften will.“

Father Gregory betrachtete Agnes. Er hatte erwartet, dass sie sofort loslegen würde. Aber sie war völlig perplex. Sie kam sich vor, als hätte sie jemand mit eiskaltem Wasser überschüttet. Es dauerte eine ganze Weile ehe sie etwas herausbrachte.

„Wieso gerade ich?“, stammelte sie.

„Mein Freund, Father Timothy Walsh hat geschrieben, dass für den Farmer vier Dinge ganz wichtig wären. Die Frau müsste anständig, tüchtig und gesund sein. Aber das Wichtigste wäre für ihn die Herkunft. Seine zukünftige Ehefrau sollte aus dem Böhmerwald kommen. Da deine Freundin Mariele aus dem Böhmerwald war, nehme ich an, dass du auch aus dieser Gegend kommst. Du bist eine ehrbare Frau. Du bist gesund und kannst hart arbeiten. Und du kommst aus der richtigen Gegend. Also bist du genau die Richtige für den Mann.“

„Aber ich kann doch nicht quer durch halb Amerika fahren um einen Mann zu heiraten, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Womöglich will er mich dann gar nicht und ich sitze irgendwo in der Wildnis fest. Nein, Father! Nicht mit mir!“

„Du würdest selbstverständlich erst aufbrechen, wenn du mit ihm verheiratet bist“, antwortete der Priester.

„Heißt das, er kommt her und ich lerne ihn kennen?“

„Nein. Es würde eine Ferntrauung geben.“

„Eine Ferntrauung? Was ist das?“ Agnes war verwirrt.

„Eine Ferntrauung ist eine Möglichkeit, dass zwei Menschen über eine große Entfernung hinweg heiraten können.“

„Und wie soll das gehen?“, fragte Agnes.

„Der Mann, er heißt übrigens Andreas Mundl, würde vor Father Timothy sein Ehegelübde ablegen und ein offizielles Dokument unterschreiben. Dieses Papier lege ich dir vor. Wenn du mit dem, was da steht einverstanden bist, legst du ebenfalls vor mir ein Eheversprechen ab und unterschreibst das Dokument auch. Damit seid ihr dann rechtskräftig vor dem Gesetz und vor Gott Mann und Frau. Wenn du mit diesem Dokument nach Cudeca fährst, kann dich Mr Mundl nicht wieder heimschicken.“

„Aber das ändert nichts daran, dass ich ihn nicht kenne. Er könnte ein unehrlicher Lump sein. Uralt, boshaft und gewalttätig. Ein arbeitsfauler Säufer, der nur eine billige Arbeitskraft braucht.“

Father Gregory konnte ihre Einwände nur zu gut verstehen. Häusliche Gewalt war auch in seiner Gemeinde an der Tagesordnung. Treue, hart arbeitende Frauen wurden oft genug von ihren betrunkenen Männern grün und blau geprügelt.

„Ich kann natürlich nur das weitergeben, was Timothy mir geschrieben hat. Aber er schildert Andreas Mundl als ordentlichen, ruhigen und sehr fleißigen Mann, der nur selten einen über den Durst trinkt. Da er selbst aus Böhmen kommt, soll seine Frau auch aus dieser Gegend stammen. Er ist 32 Jahre alt, schreibt Timothy. Also noch nicht uralt.“

Nachdenklich starrte Agnes auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Das was Father Gregory da erzählte klang so unwirklich und irgendwie nicht richtig. Einen Mann zu heiraten, der tausende von Meilen entfernt war. Den man nie gesehen hatte. Von dem man nur das weiß, was ein anderer Mann geschrieben hatte, den man auch nicht kannte. Was für eine vollkommen verrückte Idee! Entschlossen stand Agnes auf.

„Danke, dass Sie an mich gedacht haben Father. Aber das ist nichts für mich. Ich bin mitten im tiefsten Winter bei Eiseskälte aus dem Fenster gestiegen, um den Nachstellungen des Bauern zu entkommen, für den ich gearbeitet habe. Ich wollte selbst über mein Leben bestimmen. Deshalb bin ich nach Amerika gekommen.“ Father Gregory erhob sich ebenfalls.

„Kannst du denn wirklich selbst über dein Leben bestimmen? Oder sagen dir nicht andere, was du zu tun hast? Leute wie Rosaria Tonelli oder die Chinesen in der Wäscherei oder die geldgierige Hauswirtin?“

Er streckte Agnes die Hand entgegen. „Gute Nacht. Schlaf gut! Und vielleicht denkst du ja noch einmal über diese Möglichkeit nach, aus dem Elend hier heraus zu kommen. Du weißt, wo du mich finden kannst.“

Agnes drehte sich auf die Seite. Die dünne löchrige Decke rutschte von ihrer Schulter. Obwohl sie hundemüde ins Bett gefallen war, wälzte sie sich schon seit Stunden hin und her. Eigentlich konnte sie es sich nicht erlauben, wach zu liegen. Nicht mehr lange und sie musste wieder aufstehen. Nur weil sie normalerweise schlief wie ein Murmeltier, hielt sie die Strapazen der Arbeit überhaupt durch. Aber heute wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen. Mit einem Seufzer stand sie auf, warf sich die Zudecke über die Schultern und trat an das kleine Fenster. Es war so schmutzig, dass man kaum hindurch sehen konnte. Aber Wasser war zu kostbar, um es zum Putzen zu verschwenden. Außerdem gab es draußen nichts zu sehen, außer der engen, stinkenden, verdreckten Gasse, die zwischen den Häusern zum Entsorgen der Abfälle diente. Nur wenn sie sich ganz weit hinausbeugte konnte sie oben einen schmalen Streifen Himmel erkennen.

Agnes seufzte. Gegen ihren Willen kreisten ihre Gedanken immer noch um das, was ihr Father Gregory vorgeschlagen hatte. Weder Mariele noch sie selbst hatten jemals vom Heiraten geredet. Das war in ihren Zukunftsplänen nicht vorgekommen. Wenn sie davon geträumt hatten, ihr Glück zu machen, waren sie immer davon ausgegangen, es aus eigener Kraft zu schaffen. Nie hatten Männer in ihren Plänen eine Rolle gespielt. Zu schlecht waren die Erfahrungen, die sie gemacht hatten. Der Klausner-Bauer und Marieles Vater waren weiß Gott Ehemänner der übelsten Sorte gewesen. Die Vorstellung an so einen Mann gebunden und ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, ließ Agnes erschauern. Natürlich hatte der Priester im fernen Kanada diesen Andreas Mundl in leuchtenden Farben geschildert. Aber was wusste ein unverheirateter katholischer Priester schon über die Ehe!

Was Father Gregory am Ende gesagt hatte, wollte und wollte ihr jedoch nicht aus dem Kopf gehen.

Kannst du denn wirklich selbst über dein Leben bestimmen? Oder sagen dir nicht andere, was du zu tun hast? Leute wie Rosaria Tonelli oder die Chinesen in der Wäscherei oder die geldgierige Hauswirtin?‘

Leider hatte der Father damit vollkommen recht. Im Vergleich zu ihrem alten Leben im Böhmerwald hatte sich nichts geändert. Außer, dass sie noch mehr arbeiten musste und weniger zu essen hatte. Sie dachte an die Männer, die sie im Bordell ständig betatschten und an die Miete, die sie nicht bezahlen konnte. Agnes lehnte die Stirn an die gesprungene Fensterscheibe und schloss die Augen.

Es gibt eine Möglichkeit, wie du auf einen Schlag alle deine Sorgen los wirst und dieses elende Dasein hinter dir lassen kannst.‘

Wieder schlichen sich Father Gregorys Worte in ihre Gedanken. Was, wenn er recht hatte? Wenn eine Eheschließung mit diesem Farmer tatsächlich das Ende ihrer Sorgen bedeuten würde? Wenn sie wirklich aus dieser Hölle hier heraus käme? Genau genommen konnte nichts schlimmer sein, als das Leben hier in Five Points.

Sie hatte nur eine vage Vorstellung wie Amerika außerhalb Manhattans aussah. Es musste unfassbar riesig sein, das wusste sie. Vom Hörensagen kannte sie Namen wie Philadelphia, Washington, Boston oder Chicago. Aber sie hätte nicht sagen können in welcher Himmelsrichtung diese Städte lagen. Ab und zu kamen Männer ins Hotel Rosaria, die vom Wilden Westen und Indianern erzählten. Jetzt bedauerte sie, dass sie sich nie um diese Prahlereien der Trunkenbolde gekümmert und genauer zugehört hatte.

Ruhelos begann sie in der kleinen Kammer hin und her zu wandern. Ach, wenn doch bloß Mariele noch da wäre! Sie hätte Rat gewusst! Sie hätte gewusst, was das Richtige wäre! Abrupt blieb Agnes stehen. Natürlich! Mariele hatte ihr ja schon längst gesagt, was sie tun sollte.

Hatte ihr nicht die Sterbende sogar ein Versprechen abgenommen?

Du musst das Glück festhalten wenn es dir begegnet‘!

Mit einem Schlag fielen alle Sorgen von Agnes ab und eine unsagbare Erleichterung erfüllte sie. Jetzt wusste sie, was sie tun musste! Sie würde ihr Herz in beide Hände nehmen und den Sprung ins eiskalte Wasser wagen. Gleich morgen wollte sie auf dem Weg von der Wäscherei zum Bordell bei Father Gregory vorbei gehen. Sie würde ihm sagen, dass sie den unbekannten Mann heiraten wollte, der sich so verzweifelt eine Ehefrau aus dem Böhmerwald wünschte. Dankbar dachte sie an Mariele, die ihr selbst aus dem Grab heraus noch zur Seite stand.

„Ich werde für dich mit glücklich sein“, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein.

Was auf diesen Entschluss folgte, war ein Strudel von Ereignissen, der sich schneller und schneller drehte und Agnes einfach mit riss.

Father Gregory hatte ihr nicht erzählt, dass ihm das Dokument über die Eheschließung bereits vorlag. Sein Freund Father Timothy Walsh hatte ihm das von Mr Mundl unterschriebene Papier in seinem Brief mitgeschickt. Als sie den Priester besuchte um ihm ihre Zustimmung zur Eheschließung mit dem unbekannten Farmer mitzuteilen, holte er das Dokument aus der Schublade.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie umgehend das Ehegelübde ablegen und es durch ihre Unterschrift bekräftigen müssen. Das ging ihr dann aber doch zu schnell. So trafen sie sich drei Tage später. Es war Sonntagabend und das Bordell hatte geschlossen. Gemeinsam lasen sie das Dokument durch. Father Gregory erklärte ihr die Stellen, die sie nicht verstand.

Mit ihrer Unterschrift, so stand auf dem Papier, würde sie die rechtmäßige Ehefrau von Andreas Mundl werden. Er war 32 Jahre alt und gebürtig aus dem böhmischen Ort Spitzberg. Seine Farm lag sieben Meilen außerhalb des Ortes Cudeca in Kanada. Zur amerikanischen Grenze waren es dreißig Meilen. Mit ihrer Unterschrift würde sie seine Frau und hätte damit keine Probleme über die Grenze zu kommen. Der Mann schien wirklich verzweifelt zu sein. Er hatte in dem Dokument bereits festgelegt, dass seine Ehefrau Miteigentümerin der Farm werden sollte und nach seinem Tod Alleinerbin. Das hatte er unterschrieben, ohne zu wissen, was seine Zukünftige für eine Frau sein würde. An Vertrauen mangelte es ihm ganz offensichtlich nicht.

Als Agnes die Feder in die Tinte tauchte, zitterte ihre Hand so sehr, dass nicht nur ihr Name das Dokument zierte, sondern auch ein dicker Tintenklecks. Father Gregory unterschrieb als Zeuge ebenfalls und bekräftigte die beiden Unterschriften schließlich noch mit dem Siegel der St. Anthony Church. Anschließend gingen sie in die Kirche. Vor dem Altar stehend, versprach Agnes Treue und Gehorsam bis zum Tod. Einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Father Gregory erklärte sie zu Mann und Frau und Agnes Pangerl gab es nicht mehr. Nun war sie Agnes Mundl. Eine Anweisung über einhundert Dollar, lautend auf Mrs Mundl, hatte ihr Ehemann ebenfalls mitgeschickt. Die Anweisung konnte bei der Wells Fargo Bank eingelöst werden. Das Geld sollte sie für ‚ihre Auslagen‘ verwenden. So hatte Andreas Mundl geschrieben.

Am nächsten Tag kündigte sie morgens ihre Arbeit in der Wäscherei. Die einzige Reaktion des Besitzers war ein leichtes Kopfnicken. Es war kein Problem sie zu ersetzen. Draußen vor seiner Tür standen Arbeit suchende Frauen Schlange. Danach ging sie zur Bank um die Anweisung einzulösen. Obwohl Father Gregory sie begleitete und sie die gesiegelte Heiratsurkunde dabei hatte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, als sie den Auszahlungszettel mit Mrs Agnes Mundl unterschrieb. Aber es gab keinerlei Probleme. Ihre Hand zitterte, als sie die Scheine in Empfang nahm. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Einhundert Dollar! Ein Vermögen! Und es gehörte ihr!

Ihr nächster Weg führte sie zum gerade erst eröffneten Grand Central Depot. Dort starteten die Züge der New York Central Railroad, die dem legendären Cornelius Vanderbilt gehörte. Selbst Agnes hatte schon von dem unermesslich reichen Eisenbahn Tycoon gehört, dessen ebenso rücksichtslose wie erfolgreiche Geschäftsgebaren alle kleinen Gauner in Five Points nachahmten. Am Fahrkartenschalter erlebte Agnes den ersten herben Rückschlag auf ihrem Weg in ein neues Leben. Sie konnte nur ein Billet bis Chicago erwerben. Weiter ging die Bahnlinie noch nicht. Allerdings gab es die Möglichkeit von Chicago aus mit der Fähre über den Michigansee nach Milwaukee zu fahren. Der Mann am Schalter gab ihr den Rat, für die Weiterreise ab Milwaukee bei Wells Fargo nachzufragen. Die Gesellschaft unterhielt ein riesiges Netz von Postkutschenlinien, die beinahe jeden Ort jenseits der Großen Seen und des Mississippi anfuhren. Also ging sie wieder zurück in die Wells Fargo Bank. Dort erfuhr sie, dass es in Milwaukee tatsächlich eine Wells Fargo Niederlassung gab. Sie würde also auf jeden Fall mit einer Postkutsche weiterfahren können.

Nun blieb nichts mehr weiter zu tun, als bei Rosaria Tonelli zu kündigen und ihre wenigen Habseligkeiten zu packen. Als sie im Büro der Puffmutter stand und ihr sagte, dass sie nicht mehr im Hotel Rosaria arbeiten konnte, weil sie einen Farmer in Kanada per Ferntrauung geheiratet hatte, erlebte sie La Rosaria zum ersten Mal sprachlos. Mit offenem Mund starrte sie Agnes an. Schließlich atmete sie tief ein und zu Agnes‘ Überraschung hoben sich La Rosarias Mundwinkel zu einem feinen Lächeln.

„Fast bin ich ein wenig neidisch auf dich“, sagte sie leise. „Hätte sich mir vor zwanzig Jahren so eine Gelegenheit geboten, sähe mein Leben heute vielleicht anders aus.“ Sie erhob sich, kam um den Schreibtisch herum und streckte Agnes beide Hände entgegen.

„Ich beglückwünsche dich zu deinem Mut. Du bist eine wirklich tapfere Frau. Und wenn dein unbekannter Ehemann ein Schwein ist, zögere nicht, dich zur Wehr zu setzen. Du wirst jederzeit auch ohne Mann dein Leben meistern.“

Rosaria Tonelli küsste Agnes auf beide Wangen. Und sie hätte schwören können, dass die Augen der hartgesottenen Puffmutter feucht glänzten. Dann bat sie Agnes noch kurz zu warten und verschwand in ihrem Privatsalon. Mit einer eleganten ledernen Reisetasche kam sie wieder zurück.

„Was würde es denn bei deinem Mann für einen Eindruck hinterlassen, wenn du mit einem schäbigen Stoffbündel auftauchen würdest.“

Sie drückte Agnes die Tasche in die Hand, ging zurück an ihren Schreibtisch und beugte sich wieder über ihre Bücher.

„Danke“, murmelte Agnes.

Als sie die Bürotür hinter sich zuzog, war auch dieses Kapitel ihres Lebens beendet. In ihrem schäbigen Quartier öffnete Agnes die neue Tasche um ihre wenigen Habseligkeiten darin zu verstauen. Zu ihrer Überraschung war sie nicht leer. La Rosaria hatte das Kleid hineingepackt, das Agnes im Bordell immer getragen hatte. Die Netzstrümpfe und die Schnürstiefel waren ebenfalls in der Tasche. In einem der Stiefel steckte ein Zettel.

Für den Fall, dass es mit dem Farmer nicht klappt! Viel Glück!‘

Wer hätte das gedacht. Da hatte die knallharte Geschäftsfrau doch tatsächlich auch eine weiche Seite. Leise vor sich hin summend packte Agnes ihre Sachen. Es waren nicht viele. Nur die wenigen Dinge, die sie aus dem Böhmerwald mitgebracht hatte. Zusätzlich noch die beiden einfachen Arbeitskleider von Mariele. Hinter dem Ziegelstein unter dem Bett holte sie die Ersparnisse heraus. Zwölf Dollar waren ihr geblieben. Zwölf Dollar für ein Jahr Schufterei! Ganz egal, was in Kanada auf sie wartete, es konnte nicht schlimmer sein, als das Leben hier in Five Points.

Pünktlich um halb sieben Uhr stand sie am nächsten Morgen vor der St. Anthony Church. Father Gregory kam gerade zum Kirchenportal heraus. Er wollte sie zum Grand Central Depot begleiten.

„Guten Morgen! Und? Aufgeregt?“, fragte er.

„Guten Morgen Father. Das kann man wohl sagen. Als wir im Böhmerwald losgezogen sind, hatte ich bei Weitem nicht so viel Angst. Aber da war ich auch nicht allein. Mariele war bei mir.“

„Glaub mir, sie ist auch heute noch da. Ich bin sicher sie schaut vom Himmel auf dich herunter und ist mächtig stolz auf dich.“

„Ach Father! Hoffentlich geht Alles gut! Hoffentlich ist er ein guter Mann“, seufzte Agnes.

„Timothy Walsh ist ein guter Menschenkenner. Wenn er deinen Mann für einen anständigen Kerl hält, dann ist er das auch“, sagte Father Gregory.

Er tätschelte ihr beruhigend den Arm und griff nach der Reisetasche.

„Können wir?“, fragte er.

Agnes atmete tief ein. Dann straffte sie die Schultern und nickte.

„Ich bin bereit.“

Nebeneinander gingen sie die Anthony Street entlang zum Bahnhof.

Die Frau vom Schwarzen See

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