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Mit Migräne Kinder wagen? - Inke Hummel
ОглавлениеAls ich kurz vor meinem 27. Geburtstag geheiratet habe, war ich schon in der fünften Woche schwanger und kannte meinen Mann seit acht Jahren. Wir hatten zusammen die Schule abgeschlossen, gleichzeitig studiert, waren beide ins Jobleben gestartet und hatten nun Lust auf Familie. An Migräne litt ich zu dem Zeitpunkt schon mehrere Jahre, aber für die Entscheidung für ein Kind spielte sie keine Rolle. Genauso wenig wie wir uns im Vorfeld Gedanken über Finanzielles oder Erziehungsthemen gemacht hatten, hatte ich darüber nachgedacht, was eine Schwangerschaft und je nach dem auch eine anschließende Stillzeit für meine Migräneerkrankung bedeuten würden. Oder die Jahre mit Baby und Kleinkind danach. Oder sogar mit mehreren Kindern. Wir vertrauten aufeinander und aufs Leben.
Blauäugig könnte man sagen.
Aus heutiger Sicht würde ich es jungen Frauen anders empfehlen und würde es selbst vermutlich auch anders angehen. Wahrscheinlich würde ich googeln, lesen, meine Ärztin fragen. Und mir sorgen machen und diese oder jene Angst entwickeln. Vermutlich hätte mich die Krankheit am Ende nicht davon abgebracht, doch Mutter zu werden, aber ich hätte mehr Sorgen gehabt. Vielleicht aber auch bessere Pläne.
Genau kann ich es natürlich nicht sagen. Doch ich rate allen Migränepatientinnen, die Lust auf Familie haben, sich von der Krankheit diesen Wunsch nicht nehmen zu lassen. Sie nimmt uns schon so viel anderes. Aber erkundigt Euch vorher, was Ihr auch mit Baby im Bauch noch an Schmerzmitteln nehmen dürft. Macht Euch schlau, was in der Stillzeit ginge oder ob Ihr Euch stattdessen für Flaschenmilch entscheiden möchtet. Plant Raum ein für Euch, damit Ihr auch im Babyjahr Zeit für die Entspannung habt, die das Migränehirn täglich braucht. Und spannt natürlich den anderen Elternteil, Freund*innen oder Verwandtschaft ein, um die möglicherweise fordernden Tage und vor allem Nächte nicht allein stemmen zu müssen.
Denn: es ist schaffbar!
Ich bin im Januar 2005 zum ersten Mal Mutter geworden. Die Schwangerschaft fing fürchterlich an – mit viel Migräne und Erbrechen auf der Hochzeitsreise auf Korsika. Doch sie wurde im Hinblick auf die Migräne ruhiger. Erst nach der Geburt unseres Sohnes nahm sie wieder Fahrt auf. Ich stillte ihn etwa ein Jahr lang und das war nicht ohne, denn meine Migräne zeigte Facetten von sich, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Ohne Medikamente dauerte sie fast immer 3 bis 5 Tage lang. Dafür kam sie seltener als ohne Stillhormone.
Aber 3 bis 5 Tage mit unterbrochenem Schlaf und quasi ständiger Zuständigkeit für ein Baby will ich nicht schönreden.
Paracetamol, das Schmerzmittel, das 2004 noch angeraten war für schwangere und stillende Migränikerinnen, half mir nicht, also ließ ich es rasch weg und hielt aus. Es wird geraten, auf Schmerzmittel zu verzichten, da mögliche Wirkung und mögliche Risiken für das Baby in keinem guten Verhältnis zueinanderstehen. Dennoch gibt es weitere Alternativen für den Akutfall. Wichtig ist die enge ärztliche Begleitung. Für mich war allein das Wissen hilfreich: Wenn es gar nicht mehr auszuhalten wäre, könnte ich in die Schmerzambulanz fahren und würde Hilfe bekommen. Oder ich könnte abstillen. Das nahm ein bisschen Druck und ließ mich besser durchhalten.
Im Alltag halfen mein Mann und die bei uns im Haus wohnenden Großeltern zum Glück oft, aber ich erinnere mich auch an viele Tage, in denen ich im sicheren Kinderzimmer im Halbdunkeln auf einer Matratze oder auch mal einfach nur auf dem Teppich lag und litt. Ein kalter Waschlappen oder Pfefferminzöl waren meine Helferlein. Während ich im Dämmerschlaf war, robbte oder krabbelte der kleine Kerl um mich herum, entdeckte die Welt und holte sich Nähe, wenn er sie brauchte. Ich wickelte am Boden, summte ihm mal was, schützte mich mit Oropax. Irgendwie kamen wir zurecht. Und ja, die abgedroschene Phrase stimmt: Die schönen Momente mit ihm überwogen das Leiden. Aus ihnen zog ich Kraft für die Nächte, in denen ich mit Migräne fünfmal stillen musste, er trotzdem nicht in den Schlaf fand und ich zwischendrin wegrannte, um mich zu übergeben.
Hing ich tagsüber über der Toilettenschüssel, konnte unser Sohn sich königlich amüsieren. Er lachte herzhaft über jedes Würggeräusch. Ich schwankte zwischen verzweifeln und irrem lachen. Migräne mit Kind ist eben doch irgendwie besonders. Und das Leben an den Tagen dazwischen erst recht.
Denn nicht ohne Grund wurde ich Anfang 2006 gleich wieder schwanger. Und 2009 zum dritten Mal. Schwangerschaften und Stillzeiten blieben merklich anders als „normal-hormonelle“ Phasen: weniger Migräne, dafür dann mehrere Tage lang. Das war mit drei Kleinkindern manches Mal ein echtes Höllental, ehrlich. Aber wir sind gut durchgekommen. Auch durch die Jahre des nicht regelmäßigen Schlafens. Aber nach Nr. 3 war ich ganz sicher, nun reicht es auch. Mutterschaft mit Migräne ist herausfordernd. (Vaterschaft sicher auch, aber ohne Schwangerschaft und Stillzeiten ganz sicher anders.)
Ich war froh, als ich wieder durchschlafen konnte, meine üblichen Triptane nehmen durfte und mit meiner Schmerztherapeutin den Weg zu einer funktionierenden Prophylaxe weitermarschieren durfte.
Die Kinder wurden größer. Das Schwierige an der Migräne war jetzt nicht mehr so sehr das Aushalten wie in den Babyzeiten, sondern das Begreifen der Kinder. Sie sahen mich leiden. Sie hörten meine Bitte um Ruhe und Rücksichtnahme. Und sie gaben sich wirklich Mühe. Aber natürlich waren sie einfach noch sehr klein und zu dritt: Geschwisterstreit war ein Thema, emotionale und kognitive Reifung standen einem ständigen Achtgeben auf Mama genauso im Weg wie die kindlichen Nähe- und Sicherheitsbedürfnisse.
Ich musste meinen Kindern erklären, dass ich krank bin. Dauerhaft. Dass man nicht viel tun konnte, um die Migräne ganz loszuwerden. Und vor allem musste ich ihnen zu verstehen geben, dass sie nicht schuld daran waren. Denn Fragen in diese Richtung kamen immer wieder. „War das jetzt, weil wir wieder zu laut waren, Mama?“, wollten sie dann zum Beispiel wissen und das sticht sehr ins Mutterherz. Nein, im Grunde können sie nichts für diese Erkrankung. Sie haben sie nicht ausgelöst. Sie haben sich auch nicht selbst in meine Welt gehext. Wir haben uns ohne viel Nachdenken in diese Familiensache gestürzt, ja, aber es war doch eine klare Entscheidung. Die Reizverarbeitung läuft bei mir nun mal so wie sie läuft. Und auch die Lautstärke der Kinder, ihr Gezanke, ihr nächtliches Aufwachen bei Krankheit usw. sind nicht die Dinge, die mich krank machen. Ich hoffe, das konnte ich ihnen über die Zeit vermitteln.
Ich lief dann durch den Tag und tat alles, was unbedingt sein musste, aber irgendwann war Schluss und ich fiel um. Essen musste sein, Kinder begleiten musste sein, dringendste Aufgaben mussten sein, aber vieles musste auch liegen bleiben. Und warten bis es mir besser ging. Ich konnte das irgendwann annehmen und das war auch ein wichtiger Schritt. So bin ich, so sind wir, so ist unser Familienleben! Für die Kinder war es nie anders.
Jetzt sind meine Kinder schon in der Pubertät und zwischen 12 und 17 Jahren alt. Inzwischen verstehen sie vermutlich viel besser als etliche andere, dass Migräne kein „Frauenkram“ und kein „bisschen Kopfweh“ ist. Sie würden nie „Stell‘ Dich nicht so an!“ sagen. Alle drei spüren morgens nach dem Aufstehen manchmal fast schneller als ich, wenn die Migräne im Anmarsch ist und ich vielleicht besonders licht- oder geräuschempfindlich bin. Und sie geben inzwischen mir, was ich dann brauche: Freiraum, Ruhezeit und manchmal eine kühle Hand, wenn sie sich immer noch zu mir kuscheln, wenn ich wie tot auf dem Sofa oder im Bett liege. Das ist eine gute Medizin.
Ich mag unser Miteinander, das ganz oft wunderbar läuft. Wir haben ein bindungs- und beziehungsorientiertes Gefüge in alle Richtungen: Das heißt ich spüre, was sie brauchen, und gebe ,was ich kann – und sie tun das auch. Und im Fall von Migräne bekomme ich eben Umarmungen, Decken, kalte Waschlappen, Tee, Wasser, ein verdunkeltes Zimmer.
Aber sie kümmern sich dann auch selbständig um Essen, Termine, die Spülmaschine, falten Wäsche – übernehmen Dinge, die ich sonst meist tue oder zumindest organisiere, weil ihr Job vor allem die Schule ist. Manchmal gibt es noch Momente, in denen es den Kindern schwerfällt, Rücksicht zu nehmen. Sie sind eben Kinder und viele Erwachsene haben noch Probleme damit, sich selbst hintenanzustellen, also ist es nur verständlich. Aber sie wissen, dass sie die Anfälle nicht auslösen, dass sie keine Schuld tragen. Das bedeutet mir viel.
Dennoch ist es ab und an noch immer nicht schön, wenn ich wegen der Schmerzen sagen muss, ich kann etwas nicht machen. Vielleicht sogar etwas lange Geplantes. Wenn ich ihnen sagen muss, sie müssen leider doch alleine los, alleine dadurch, bitte Verständnis haben und mich eine Stunde in Ruhe dösen lassen. Mein Schuldgefühl geht wahrscheinlich nie ganz weg. Es gibt dann auch mal enttäuschte Blicke, nicht nur mitleidende, verständnisvolle. Natürlich! Das bleibt eine der schlimmsten Facetten der Erkrankung für mich. Tatsächlich muss ich aber sagen, dass meine Kinder besser damit umgehen als einige Bekannte.
2019 im Sommer durfte ich nach langer Odyssee endlich die Antikörpertherapie ausprobieren. Sie schlug bei mir – wie fast alle Prophylaxen – sofort an. Aber während bei allen anderen die hervorragende Wirkung nach zwei bis drei Montane verschwand, blieb sie hier. Stand acht bis elf Schmerztage monatlich, habe ich nun im Schnitt noch drei bis vier. Das ist ein anderes Leben! Für mich und auch für die Kinder.
Ich kann wieder mehr ich sein, kann kraftvoll arbeiten, viele Arbeitstage ohne Schmerzmittel und Schwindelgefühl absolvieren. Und ich kann wieder mehr Mama sein, spontaner, wilder, lustiger, lebensfroher. Und zuversichtlicher. Auch das tut mir und ihnen gut.
Die Triptane helfen im Akutfall fast immer und ich benötige inzwischen meist nur noch die halbe Dosierung im Vergleich zu der Zeit vor den Antikörpern. Das Gefühl, nach der Einnahme ein bisschen wie in Watte gepackt zu sein, habe ich immer noch, aber das lässt sich aushalten. Die Schmerzstärke der Anfälle im Migränetagebuch ist ebenfalls gesunken: von neun bis zehn auf nur noch vier bis sechs. Ich weiß nicht, ob die Migräne mich jemals wieder ganz verlassen wird. Ein bisschen hoffe ich ja auf die Wechseljahre. Immerhin war der Startschuss zu den Anfällen auch hormonell, nämlich das Ende der Pubertät. Bis auf ganz wenige Zweifelmomente weiß ich immerhin sicher, dass ich das durchstehe und dass das alles mit den Kindern nichts Negatives machen wird. Gerade die Antikörpertherapie hat mir so viel Optimismus zurückgegeben. Anders, ohne diese dauerhafte Erkrankung, wäre es sicher schöner für uns alle, aber irgendwie hält sie uns auch ein bisschen mit zusammen. Und lässt uns alle wieder mal spüren, wie viel Liebe hier ist.
Dafür bin ich dankbar.
Inke Hummel ist Pädagogin M.A., Familienbegleiterin und Autorin. Sie lebt in Bonn, ist verheiratet und hat drei Kinder im Teenageralter. Mit Migräne lebt sie seit 25 Jahren.