Читать книгу Die Friedensformel - Annabelle Laprell - Страница 11

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Leise schloss ich die Haustür hinter mir. George war gestern bis spät in die Nacht in seinem Forschungslabor gewesen und brauchte nun dringend Ruhe. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er nicht das Schlafzimmerfenster öffnete, um mir doch noch einen schönen Tag zu wünschen, lief ich zu meinem Cabrio, stieg ein und fuhr los.

Mittlerweile hatte sich zwischen Draven und mir eine gewisse Routine eingependelt. Wie auch heute war ich jeden zweiten Morgen mit Draven zum Schwimmen verabredet.

Ab und an brauchte ich beim Sport meine Ruhe, weil ich mich mit ihm an meiner Seite nicht richtig konzentrieren konnte. Schließlich wollte ich nicht, dass unsere Beziehung sich langfristig negativ auf meine Leistung auswirkte.

In dreizehn Minuten erwartete Draven mich am Schwimmbad, also gab ich Gas. Ein Teil meiner Gedanken war noch beim Adventskalender, den George und ich Anfang des Monats aufgehängt hatten. Wir waren der Meinung, dass die Countdown-App für den ersten Juni unserer Vorfreude nicht gerecht wurde. Ich freute mich schon darauf, morgen mit ihm das größte Türchen mit der Nummer vierundzwanzig zu öffnen.

Denn morgen war es so weit. Der erste Juni. Ein Tag, auf den wir sehnsüchtig warteten. Seit Alfred Simons wissenschaftlichem Triumph vor fünf Jahren verfolgten wir seine Arbeiten mit Spannung. Ehrlich gesagt, war ich deswegen ganz hibbelig und liebte es, mit Dad über die Friedensformel zu spekulieren.

Ob Mr. Simons einen meiner vielen Briefe voller neugieriger Fragen erhalten hatte? Eine Antwort hatte ich jedenfalls nie bekommen. Aber das war wahrscheinlich auch zu viel verlangt. Bestimmt bekam Simons seine Fanpost in handlichen hundert Kilo Säcken.

Ein Hupen hinter mir riss mich aus meinen Gedanken und machte mich auf die grüne Ampel aufmerksam. Ich fuhr auf den Parkplatz, lenkte den Wagen geschickt in eine freie Lücke, schnappte mir meine Tasche und stieg aus.

»Also im Einparken bist du echt viel besser als ich«, begrüßte mich Draven.

»Nur im Einparken? Wie ist es mit Kupplung kommen lassen?«, neckte ich ihn. Ich ließ meine Sporttasche fast fallen, als Draven mir einen stürmischen Guten-Morgen-Kuss gab. »Jetzt kann ich mich wieder nicht konzentrieren«, maulte ich.

»Gern geschehen«, gab Draven zurück.


Wir schwammen eine ganze Weile und ich bemerkte die neugierigen Blicke der Reinigungskraft, die uns ständig überall hin folgten. Wahrscheinlich fragte sie sich, warum das einsame Mädchen seit einiger Zeit eine Begleitung hatte. War sie eifersüchtig? Wünschte sie sich unsere alten Zeiten zurück, als wir nur zu zweit im Gebäude gewesen waren?

Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, wie sehr ich es genoss, mit Draven beim Rückenschwimmen über Alfred Simons zu diskutieren. Im Gegensatz zu Amy konnte er nämlich durchaus mit George als Gesprächspartner mithalten.

»Aber, Valery, hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Weltfrieden vielleicht nicht unbedingt das Beste ist, das der Menschheit passieren kann?«

»Es wurde nun einmal beschlossen. Nach seiner ersten Formel haben schließlich fast alle Staatsoberhäupter dafür gestimmt, dass Simons nach einer Formel für Weltfrieden suchen soll«, hielt ich dagegen und spritzte gekonnt eine kleine Welle in sein Gesicht. »Natürlich kann man darüber streiten, aber abgestimmt ist abgestimmt. Unsere Präsidentin war schließlich auch dafür. Ehrlich gesagt, ist es doch gar nicht so interessant, ob wir den Weltfrieden wirklich haben sollten. Die viel spannendere Frage ist: Wie will Simons diese Aufgabe bewältigen? Hast du irgendeine Idee, wie seine Friedensformel aussehen könnte?«

Wir hatten das Ende der Bahn erreicht und Draven nutzte die Gelegenheit, um mich dieses Mal anzuspritzen und gleichzeitig den Kopf zu schütteln.

»Vielleicht solltest du aufhören, Philosophie und Berechnung zwanghaft trennen zu wollen.« Er trieb auf mich zu und gab mir einen Kuss, der mir den Atem raubte. Worüber hatten wir gerade noch einmal gesprochen? Verständnislos starrte ich Draven an. »Oder kannst du unsere Beziehung mathematisch definieren?«, nahm er den Faden wieder auf.

Als der Sinn seiner Worte zu mir durchdrang, warf ich einen Blick auf die Wanduhr, um nicht antworten zu müssen. Ich gab nur ungern zu, dass er recht hatte.

»Draven, wir haben in fünfzehn Minuten Schule!« Erschrocken deutete ich auf die Zeiger.

Ohne ein weiteres Wort zog er mich aus dem Wasser und wir rannten direkt an dem »Bitte-nicht-rennen«-Schild vorbei zu den Umkleidekabinen.

»Keine Zeit zum Duschen«, sagte Draven, der offensichtlich genauso wenig zu spät kommen wollte wie ich.

»Na gut«, stimmte ich widerwillig zu.

Er hatte leicht reden, seine Haare waren nicht so lang, dass sie das ganze Klassenzimmer mit Chlorgeruch verpesten würden.

Hastig schloss Draven den Spind auf, um mir meine Tasche zu reichen. Meine Finger waren noch so nass, dass sie mir aus der Hand rutsche und herunterfiel. Als ich sie aufhob, hörte ich das vertraute Sprühen von Dravens Nasenspray. Schnell eilte ich in eine der Umkleiden und trocknete mich in Lichtgeschwindigkeit ab.

»Ich fürchte, ich habe keine Zeit mehr, dich zu Luke zu bringen«, meinte ich, während wir in mein Auto stiegen.

»Was ist mit Amy?«, fragte Draven.

O nein, an Amy hatte ich gar nicht gedacht. Die würde bestimmt nicht glücklich darüber sein, dass ich unsere morgendliche Fahrvereinbarung vergessen hatte.

»Mist«, fluchte ich leise. Zu allem Überfluss merkte ich, wie meine Haare wie kleine Wasserschläuche mein Shirt durchnässten.

»Hast du noch ein anderes Shirt im Spind?«

»Ja«, gab ich kurz angebunden zurück und fuhr mich halsbrecherischem Tempo auf den Parkplatz der Schule. Seitdem ich mir in der sechsten Klasse Orangensaft über die Bluse gekippt hatte, war es mir wichtig, Ersatzsachen im Spind zu haben. »Warum fragst du?«

»Weil dein weißes T-Shirt gerade durchsichtig wird und ich finde, dass nur ich das Recht habe, diesen sexy roten BH zu sehen.«

Ich parkte und blickte an mir herunter. »Ach herrje.«

Draven reichte mir seine Jacke, die ich dankend anzog. Wir stiegen aus dem Auto und eilten zum Eingang. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Amy, die prustend und mit hochrotem Gesicht durch das Schultor joggte.

Ich sah, dass Timur ihr etwas hinterherrief, doch ich konnte nicht hören, was es war. Auf jeden Fall sah sie danach sehr traurig aus und mich plagte prompt das schlechte Gewissen.

»Hey, Amy«, rief ich, aber sie ignorierte mich und lief – verschwitzt wie sie war – weiter.

Wir waren so spät dran, dass ich erst in der Pause Zeit fand, mich umzuziehen. Mir ging es immer mieser, weil Amy den ganzen Tag lang kein Wort mit mir sprach. Gleichzeitig war ich auch etwas sauer auf sie. Was hatte sie für ein Recht mich zu ignorieren? Schließlich kutschierte ich sie jeden Tag zur Schule!


Eigentlich hatte ich an diesem Abend geplant, mich mit Amy zu treffen. Am Wochenende wollte sie sich in der Küche auf die Lauer legen, um Paul auf keinen Fall zu verpassen. Deswegen waren wir zum Shoppen verabredet, um ihr ein schickes Outfit zu besorgen.

Daraus würde jedoch nichts werden, denn sie nahm keinen meiner Anrufe entgegen. Deshalb sagte ich auch die Reservierung in dem kleinen Café, in dem ich sie auf einen Kuchen hatte einladen wollen, ab.

Im Prinzip fühlte ich mich nicht mehr schuldig – schließlich war ich ihr gegenüber sonst immer loyal. Aber Amy war eben ein sehr emotionaler Mensch, ich sollte mich daher nicht wundern, dass sie jetzt die beleidigte Leberwurst spielte.

Stattdessen ließ ich den Tag mit George auf unserem Dach ausklingen. Wir fotografierten den Mond, da Dad den Plan hatte, für den diesjährigen Christbaumschmuck Fotos von unseren Planeten und Monden zu machen, die er dann auf Kugeln drucken lassen wollte. Er hatte definitiv eine schräge Handhabung von Traditionen.

Etwas später tauchte Draven auf, um mich von Amys Schweigen abzulenken und staunte nicht schlecht, als er die große wunderschöne Kuppel sah. Die Tür hatte ich für ihn angelehnt gelassen. Hier in der Pampa mussten wir sowieso keine ungebetenen Besucher fürchten.

»Hi, Valery. Guten Abend, George«, grüßte er leise, denn er wusste, dass man meinen Vater nicht erschrecken durfte, wenn er sich auf etwas konzentrierte. Etwas war in diesem Fall die genaue Ausrichtung des Teleskopes.

»Guten … Abend … Draven«, sagte mein Vater, wobei er zwischen den Wörtern lange Pausen ließ.

»Wir gehen dann mal nach unten«, informierte ich ihn und gab ihm einen Kuss auf die Schulter.

»Viel Spaß … Schätzchen.«

Ich griff nach Dravens Hand, um George mit dem Himmel allein zu lassen.

»Weißt du eigentlich, wie cool dein Dad ist?«, fragte mich Draven, als wir die Treppe hinabstiegen und in mein Zimmer gingen.

»Ich hatte immer Angst, dass der Vater meiner Freundin mich zwingen würde, mit ihm angeln zu gehen oder dass ich seiner Tochter ein Kaninchen zum Frühstück schießen müsste.«

Er schloss die Tür und erklärte im ernsten Ton: »Dabei bin ich ja Vegetarier.«

»Spaghetti ist auch Vegetarierin«, log ich lachend. »Sie isst immer ein paar Monate lang kein Fleisch, aber dann macht sie für ein paar Stunden eine Ausnahme.«

Geräuschvoll ließ sich Draven neben das Terrarium fallen, seinem Lieblingsplatz in meinem Zimmer.

»Dieses Prinzip sollte man mal in dieser Fernsehshow anwenden«, meinte er. »Wie heißt nochmal diese Abnehmsendung?«

Als Antwort zuckte ich nur mit den Schultern. »Du weißt doch, dass bei uns fast nur Dokus laufen. Mein Vater weiß nicht einmal, dass ich alle Filme von Tim Burton habe.«

Ich deutete auf mein Bücherregal. Direkt hinter meinen Wörterbüchern standen die Filme.

»Warum versteckst du die denn? Genau wie deine Fantasy-Romane? Wäre George enttäuscht von dir?«

Ohne zu antworten, legte ich mich auf mein Bett.

Draven stand auf und legte sich neben mich. »Warum, Valery?« Er schlang einen Arm um meine Taille und zog mich näher an sich.

»Na ja«, begann ich nachdenklich, »George hat mich in dieser kreativen Hinsicht nie besonders gefördert. Aber enttäuscht wäre er nicht. Ich schätze, ich mag es einfach, ein paar Geheimnisse vor ihm zu haben.«

»Hast du vor mir auch so ein paar komische Geheimnisse?«, erkundigte sich Draven und küsste zärtlich meinen Hals.

»Na klar«, flüsterte ich. »Zum Beispiel freue ich mich mehr auf den morgigen Tag als auf Weihnachten.«

»Das ist jetzt nicht wirklich ein Geheimnis.« Draven zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. »Du bist bestimmt eine der wenigen, die das sagt und nicht in einem Kriegsgebiet wohnt.«

Ich nickte, doch insgeheim fieberte ich nicht dem Weltfrieden entgegen. Und ich war mir ziemlich sicher, dass Draven das wusste.

»Ich bin einfach gespannt, wie er das wieder geschafft haben will«, gab ich zu und küsste Draven, dessen Lippen mittlerweile bei meinem Mund angekommen waren.

Draven rollte sich auf mich. »Weißt du, was ich an dir so liebe?«

»Da fallen mir spontan zu viele Dinge ein«, keuchte ich.

»Mit dir kann man so anspruchsvolle Gespräche führen. Egal ob beim Schwimmen oder beim Kuchenbacken.«

»Mit dir auch. Dir traue ich sie zu.«

Ich lachte leise und erwiderte einen weiteren von Dravens Küssen. Ihm so nah zu sein, war wie in einem Traum. Um mich herum begann sich alles aufzulösen. Die große Panoramascheibe neben meinem Bett wurde zu Luft, während sich Hitze in mir breit machte. Das ganze Haus löste sich auf; nur Draven und seine Arme, die sich fest um mich schlossen, waren noch da. Wir wurden immer leichter, bis wir schließlich höher und höher schwebten – den Sternen entgegen.

Wenn sich George nicht aufgelöst hätte, hätte er uns durch sein Teleskop sehen können, wie wir dem Himmel näherkamen. In mir breitete sich pures, berauschendes Glück aus.

Fühlte sich das Küssen für Draven genauso an? Fühlte es sich überhaupt für jemand anderen so an?


Ich gehe barfuß die Treppe herunter und lächle meinen Dad an.

»Heute ist der erste Juni. Ich bin schon so aufgeregt!«

»Aufgeregt? Wieso denn?«, fragt mich George.

»Na, wegen Alfred Simons Friedensformel natürlich!«

Er schüttelt den Kopf und stellt fest: »Das musst du wohl geträumt haben.«

Ich drehe mich zu der Wand um, wo wir den Adventskalender aufgehängt haben. An seiner Stelle klebt an der blauen Tapete ein pochendes, faustgroßes Herz. Das Herz eines Menschen?

»Er lügt«, raunt es mir zu, als mein Vater sich vor den Fernseher setzt. Ich gehe näher an das Herz heran, das nun in immer kürzeren Abständen schlägt.

»Wer lügt?«, frage ich es.

»Er lügt«, zischt es noch einmal. Dann pocht und pocht es immer schneller, während es aufgeregt flüstert: »Alfred Simons rettet alle. Er rettet alle. Nur mich nicht. Für mich ist es zu spät.«

Immer rasanter schlägt der Muskel, bis das Herz schließlich mit einem ekligen Geräusch platzt. Blut spritzt auf mein Gesicht, tropft die Wand herunter, wo es ein gruseliges rotes Scheinen hinterlässt.

Die Friedensformel

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