Читать книгу Die Friedensformel - Annabelle Laprell - Страница 5

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Es war Mitte März. In diesem Monat war ich jeden Tag mindestens drei Mal trainieren gewesen. Besonders während der Frühlingsferien hatte ich alles gegeben. Obwohl ich keine halbe Stunde vom Meer entfernt wohnte, bevorzugte ich das Schwimmbad. Es war nicht so überfüllt.

Zumindest normalerweise nicht.

Doch heute hatte sich gefühlt die ganze Stadt hier versammelt, um das Spektakel des Wettbewerbs zu beobachten. Auch ich hatte lange auf diesen Tag hingefiebert. Noch mehr freute ich mich nur auf die Verkündung der Friedensformel am ersten Juni. Aber das lag noch in weiter Ferne.

Ich atmete ruhig ein und aus, doch meine Nervosität war auf dem Höhepunkt. Schließlich ging es um die Landesmeisterschaften. Ich hatte so viele Jahre gebraucht, um diesen Punkt zu erreichen. Das Getuschel der Besucher blendete ich gekonnt aus, während ich mich am Beckenrand noch etwas dehnte. Einen Krampf durfte ich auf keinen Fall riskieren.

Ich fand es schade, dass mein Vater nicht hier war. Normalerweise war George immer dabei.

Gestern hatte er auf dem Dach unseres Hauses gesagt: »Heute Nacht leuchten die Sterne nur für dich, mein Schatz. Sie wünschen dir alle viel Erfolg.«

Diese motivierenden Worte hallten jetzt noch in mir nach. Selbst meine gelbe Tigerpython Spaghetti hatte mich heute Morgen angeschaut, als ob sie mir alles Gute wünschen wollte. Doch schließlich war ich nicht abergläubisch, und nur, weil George heute als Gastdozent an der Uni unterwegs war, hieß das nicht, dass es bei mir nicht laufen sollte.

»Du schaffst das schon«, versuchte mich meine beste Freundin Amy zu beruhigen.

»Das sagst du so leicht«, keifte ich sie an. Obwohl ich siegessicher war, ließ mich der Druck zu einem Wettkampfmonster mutieren.

Amy war meinen giftigen Ton gewohnt und umhüllte mich mit vor Zuversicht triefenden Worten: »Glaub mir. Du schwimmst an diesem Typen vorbei. Im Sinne von: Hier kommt Valery Hydra, ein Delfin. Er ist nur ein … ein …«

»Eine Kaulquappe?«, schlug eine tiefe Stimme hinter mir vor.

»Ja, genau«, freute sich Amy.

Ich drehte mich zu der Person um, die sich gerade am Schiedsrichter vorbeidrängte und bemerkte, dass Amy meinem Gegner, und damit meinem neuen Feind, zugestimmt hatte.

»Dearing«, stellte er sich lachend vor und reichte mir seine ausgestreckte Hand. In meiner Schwimmkarriere hatte ich schon viele perfekte Schwimmerkörper gesehen. Da war seiner keine Ausnahme. Seine schönen, haselnussbraunen Locken würden gleich bestimmt unter einer Badekappe verschwinden. Von ihm würde ich mich auf keinen Fall nervös machen lassen.

Kannte ich ihn nicht irgendwoher? Ich hatte ihn schon ein paar Mal in der Schule gesehen, aber mir war nie klar gewesen, dass er auch Schwimmer war. Noch weniger, dass er gegen mich bei den Landesmeisterschaften antreten würde. Aber ich interessierte mich generell nicht besonders für das Privatleben meiner unzähligen Mitschüler.

Widerwillig reichte ich ihm meine Hand. »Hydra«, antwortete ich mit stolzer Stimme.

Er zog eine Augenbraue hoch. »Was für ein passender Nachname für eine Schwimmerin.«

Ich lachte spöttisch auf. »Da hat wohl jemand seine Hausaufgaben gemacht.«

Er nickte. »Viel Erfolg.«

Kurz überlegte ich, ob ich etwas wie »Du brauchst wahrscheinlich eher Glück« erwidern sollte, ließ es aber sein.

Im Vorbeigehen gab er auch noch Amy die Hand, die ihre Augen nicht von ihm abwenden konnte.

Angespannt stöhnte ich auf und versuchte mich wieder auf meinen Siegeswillen zu fokussieren.

»Hör auf zu seufzen«, forderte Amy ungewohnt selbstsicher. »Du hast es dir schließlich selbst ausgesucht. Du wolltest doch an gemischten Wettbewerben teilnehmen.«

»Aber nur, weil ich jedes Mädchen schon besiegt habe«, murmelte ich. Aus der Entfernung sah ich, dass sich der Junge, der sich gerade als Dearing vorgestellt hatte, Nasenspray in die Nase sprühte. Wenn er erkältet war, hatte er keine Chance.

Ich zog meine Badekappe zurecht. Langsam wurde mir kühl, es durfte also gerne losgehen. Endlich gab der Schiedsrichter mir das Zeichen.

»Valery, ich glaube an dich.« Amy umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange.

»Du bist so süß, Mäuschen«, flüsterte ich.

Ich stellte mich auf den Startblock und versuchte, meinen attraktiven Gegner Dearing zu ignorieren. Jemand, der einen so gewöhnlichen Nachnamen hatte, konnte schließlich kein besonderer Mensch sein. Das bedeutete, dass er auch kein talentierter Schwimmer sein konnte, was mir schließlich den Sieg bescheren würde. Jetzt war es erstmal wichtig, nicht zu früh ins Wasser zu springen. Wegen so einer Lappalie wollte ich nicht disqualifiziert werden.

Angespannt atmete ich ein und aus. Dabei versuchte ich, die ganze Kulisse des Schwimmbads und des anstehenden Wettbewerbs auszublenden. Selbst den nervigen Schiedsrichter, der wie ein Kind auf und ab sprang, verbannte ich aus meinen Gedanken. Fünfzig Meter, zwei Bahnen – dann wäre dieser Wettbewerb auch schon vorbei. Dann würde der Sieg mir gehören.

Noch bevor ich den schrillen Pfiff wirklich realisiert hatte, schoss ich wie ein Pfeil ins Becken. Mit routinierten Bewegungen schaufelte ich mich durch das Wasser, wobei ich alles um mich herum vergaß. Jetzt gab es nur noch mich und meinen Freund: Das kühle Nass.

Mein Gegner musste bestimmt mit seiner Erkältung kämpfen und hatte keine Chance. Wie er wohl aussah, während er sich durch das Wasser grub wie eine Maschine? Weg mit diesem Gedanken!

Noch hatten wir nicht das Ende der Bahn erreicht, doch ich lag ein winziges Stückchen vorn. Am Ende der Bahn vollführte ich eine Rolle, um mich kräftig vom Beckenrand abzustoßen.

Ich riskierte einen Blick zur Seite. So etwas tat ich eigentlich nie. Meine Augen machten das ohne meine Einwilligung. Erschrocken traf mich die Erkenntnis, dass Dearing mich eingeholt hatte. Ich schwamm schneller, schaufelte und setzte meine ganze Willenskraft ein. Auf keinen Fall durfte ich besiegt werden. Nicht hier und heute. Nicht von einem Jungen und besonders nicht von einem Dearing.

Doch ich bekam einen heftigen Schock, als Dearing einen Wimpernschlag vor mir den Beckenrand abklatschte, als hinge sein Leben davon ab.

Enttäuscht stieg ich aus dem Wasser. Reichlich spät bemerkte ich, dass Dearing mir seine Hand hinhielt und wohl etwas murmelte, wie »gut geschwommen«.

Was sollte das denn jetzt heißen? Meinte er das ernst? Am liebsten hätte ich auf der Stelle angefangen zu weinen, aber ich wollte keine Schwäche zeigen. Ich verzog meine Mundwinkel nach unten. Er lächelte mir aufmunternd zu, als ob er mich trösten wollte. Doch ich zerrte mir nur meine Badekappe vom Kopf, warf sie ihm vor die Füße und ließ ihn verblüfft vor versammelter Mannschaft stehen. Sollte er doch denken, was er wollte. Ein Junge pfiff mir beim Anblick meiner Haare hinterher. Ob das Dearing war? Mir doch egal!

Offensichtlich sah Amy mir an, dass ich jetzt nicht angesprochen werden wollte, denn sie gab keinen Ton von sich und lief mir auch nicht hinterher.

Unter der Dusche im Schwimmbad schrubbte ich mich kräftig ab und schamponierte meine Haare zwei Mal ein. Leider half mir das nicht, mit meinen neuen negativen Gefühlen umzugehen. Als ich mich abtrocknete und schließlich in meine Anziehsachen stieg, schleuderte ich in Gedanken an Dearing leise mit Schimpfwörtern um mich.

Auf dem Parkplatz knallte ich meine Autotür fester zu, als es nötig gewesen wäre. Doch es war schwierig für mich, mit dem neuen Titel »Verliererin« umzugehen.


Um auf andere Gedanken zu kommen, saß ich zuhause auf dem Dach. Zuhause, das bedeutete dreißig Minuten außerhalb der City. Ich betrachtete die Landschaft, die von ein paar Palmen, Zitruspflanzen und noch weniger Nachbarhäusern geprägt wurde. Leider war hier draußen kein Schwimmbad, aber das machte die unendliche Ruhe wieder wett.

Auch wenn ich in der Schule – insbesondere vor Amy – immer sehr tough wirkte, musste ich mich auch mal vom Alltag erholen. Dafür musste ich jeden Tag mit dem Auto zur Jane River Advanced fahren, ein Bus fuhr hier nicht.

Mein Vater George bestand auf unseren Wohnort. In der »lichtverpesteten« Stadt Jane River in Florida könnte er seinen Beruf als Astrophysiker schlecht ausüben. Deshalb fuhr er jeden Tag anderthalb Stunden zu seinem internationalen Forschungslabor, das gigantische Teleskope und wertvolles Equipment besaß. George hatte einen großen Einfluss auf mich. Wir glichen manchmal zwei Pinguinen aus einer Tierdokumentation, die man einfach nicht trennen konnte.

Jetzt gerade bewunderte ich ihn dafür, dass er empathisch schwieg und mich nicht darüber ausfragte, wie der Wettbewerb gelaufen war. Wir saßen einfach nur zusammen auf dem Flachdach unseres Hauses. Darauf befand sich eine große Kuppel, die mein Dad öffnen und schließen konnte, um den Sternenhimmel zu beobachten.

Ich tat so, als läse ich ein Buch über Quantenmechanik, während er wohl eine ihm auffällige Sternenkonstellation notierte.

Heimlich betrachtete ich das Foto meiner Mutter, das ich als Lesezeichen verwendete. George sollte es nicht sehen, sonst würde er wieder irrational werden.

Meine Mutter hatte uns verlassen, als ich noch ein Baby gewesen war. Ich konnte mich gar nicht an sie erinnern. George sprach in wehmütigen Augenblicken von ihr und ich wusste, dass er in einer Kiste unter den Sternenkarten Briefe von ihr aufbewahrte. Wenn ich George auf das Thema ansprach, sagte er nur, dass sie seiner Wissenschaft überdrüssig geworden und fortgezogen sei, um Schauspielerin zu werden. Ein andermal erklärte er, dass sie in Deutschland eine Konditorei eröffnet habe.

Ob er mir überhaupt die Wahrheit gesagt hatte, wusste ich nicht, aber keine der beiden Möglichkeiten erschien mir wirklich realistisch. Einmal spät abends, hatte er gemeint, sie hätte wohl schon länger psychische Probleme gehabt; ein Kind sei ihr einfach zu viel gewesen.

Was auch immer die Wahrheit war, ich liebte es in stillen Augenblicken ihr Foto zu betrachten und mir auszumalen, wo sie gerade war und ob sie auch an mich dachte.

Mit meinem Vater hatte ich mich immer wohl gefühlt, mit George wurde es nie langweilig. Allerdings hatten wir eindeutig mehr Zeit damit verbracht, auf meiner Haut Sternenbilder aus Sommersprossen einzuzeichnen, als uns kreativen Dingen zu widmen. Abgesehen vom Backen und ein paar Nadelstichen vielleicht. Musik, Kunst oder gar Belletristik wurden in unserem Haus eher kleingeschrieben, weshalb ich meine Vorliebe für klassische Musik und Fantasyromane für mich behielt.

»Was fällt dir auf?«, fragte George unvermittelt, auf eine bestimmte Stelle im Himmel deutend.

Das war seine Art, mich zu fragen, ob es mir gut ging.

»Leider wurde ich von diesem Dearing besiegt. Ich bin sehr enttäuscht von mir«, gab ich niedergeschlagen zu.

George zog die Augenbrauen hoch, als wäre er überrascht, aber in Wirklichkeit hatte er sich das wahrscheinlich gedacht.

»Ach, Valery Schätzchen. Denk mal darüber nach: Wenn es keine Verlierer gäbe, dann hättest du auch kein einziges Mal gewonnen. Jetzt sag mir, was dir auffällt!«, forderte er mich erneut auf und zeigte mit seinem rechten Zeigefinger gen Himmel.

Die Friedensformel

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