Читать книгу Die Friedensformel - Annabelle Laprell - Страница 9

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Ich gab es ungern zu, aber Dravens Anwesenheit war tröstlich und unterhaltsamer als gedacht. Wir schauten zusammen eine Dokumentation über Alfred Simons an, die mich an anstrengenden Tagen immer beruhigte. Sie berichtete nicht nur oberflächlich von dem Stoppen des Klimawandels, sondern gab auch einen wissenschaftlich fundierten Einblick.

»Doch auf die Friedensformel müssen wir noch warten. Am ersten Juni wird Alfred Simons erneut die Welt verändern«, beendete die Sprecherin ihren Text.

Bei diesen Worten bekam ich jedes Mal Gänsehaut. Ich klappte meinen Laptop zu und kuschelte mich unter meine Decke. Am liebsten hätte ich nun ein langes Gespräch über Simons gehalten, aber ich war zu müde. Zum Glück übernahm Draven allein das Gespräch und erläuterte seine Meinung zu der Dokumentation. Danach fuhr er mit einem Bericht über ein Physikprojekt fort.

»… dabei war es völlig offensichtlich, dass der Stromkreis zuerst unterbrochen werden musste.«

Die einlullenden Worte verblassten langsam in meinem Verstand und ich nahm wahr, dass Draven mich erwartungsvoll ansah. Zustimmend lächelte ich, obwohl ich ihm schon lange nicht mehr folgen konnte.

»Mmh-mh.«

Noch während ich nickte, fielen mir die Augen zu und ich ließ den Kopf auf das Kissen sinken, als Draven begeistert fortfuhr: »Eben. Das haben wir dann auch demonstriert. Hättest mal das Gesicht des Lehrers sehen sollen, als wir recht behalten haben.« Seine Stimme wurde immer leiser. Es war anstrengend ihm zuzuhören. »Und dann war er richtig angefressen. Hat uns einen Aufsatz aufgebrummt, der …«


Als ich die Augen aufschlug, erschrak ich beim Anblick meines lichtdurchfluteten Zimmers. War ich etwa eingeschlafen? Hastig blickte ich mich um, aber ich war allein. Von Draven war nirgends etwas zu sehen. Hatte er sich bereits auf den Weg gemacht?

Vielleicht hatte er auch mein Auto geklaut. Seine Mutter war verantwortungslos und sein Vater schien auch nicht besonders zuverlässig zu sein, sonst hätten Draven und ich Sarahs Geburtstag schließlich nicht zu zweit schmeißen müssen.

Wobei … So etwas traute ich ihm nicht zu.

Schnell stand ich auf, zog mir frische Anziehsachen an und ging mit verstrubbelten Haaren die Treppe hinunter. Mir bot sich ein Bild, das sehr unwirklich zu sein schien. Vielleicht hatte ich Halluzinationen.

Mein Vater saß mit Draven auf dem Sofa. Die beiden frühstückten, wobei sie sich ein Interview Simons mit der amerikanischen Präsidentin anschauten.

»Morgen, Schätzchen«, begrüßte mich mein Vater, ohne sich umzudrehen.

Draven, der meine Schritte offenbar nicht gehört hatte, schaute zu mir und lächelte mich an. »Guten Morgen, Valery. Schöne Frisur!«

»Haha«, murrte ich.

Mit der Tatsache, dass George mit ihm frühstückte, als wäre es das Normalste der Welt, war ich eindeutig überfordert. Mürrisch stapfte ich in die Küche, um mir ein Sandwich zu schmieren.

George folgte mir. »Hast du Draven schon dafür gedankt, dass er dich nach Hause gefahren hat?«

Ich nickte. »Na klar. Was denkst du denn, wie unhöflich ich bin?«

»Na, bei dir weiß man das ehrlich gesagt nie so genau. Ich habe dich aber trotzdem lieb.« George wuschelte mir durch meine eh schon verstrubbelten Haare.

»Lass das!«

Mein Vater stöhnte frustriert. »Genau das meine ich. Habe ich mich eigentlich schon bei Draven bedankt?«

Wieder einmal war er nicht wirklich diskret, denn Draven rief vom Sofa aus: »Ja, George. Schon dreimal.«

Mein Vater nahm mich in den Arm und betrachtete mich danach eingehend von oben bis unten. »Ist wirklich alles okay bei dir?«

»Ja, Dad.« Ich verdrehte die Augen, woraufhin mein Vater zufrieden nickte.

Er flüsterte mir zu: »Wenn du darüber reden willst, sag Bescheid. Und halte dich von diesem Typen bloß fern. Ich bin einfach nur froh, dass dir nichts passiert ist. Wenn du ihn anzeigen willst, begleite ich dich natürlich zur Polizei.«

»Das ist sehr lieb von dir, aber nein, danke.«

George nickte. »Okay. Das ist natürlich deine Entscheidung. Ich finde aber trotzdem, dass wir die Schule informieren sollten.«

»Das ist wahrscheinlich eine gute Idee. Soweit ich weiß, ist Mr. Gibson für die Austauschschüler verantwortlich.«

»Alles klar, Schätzchen. Wenn du willst, kümmere ich mich darum.«


Ich gab George einen Kuss auf die Wange. »Danke, Dad«, antwortete ich und ging zurück ins Wohnzimmer, wo Draven sofort beiseite rutschte, um mir Platz zu machen. Er wollte wohl den Gentleman spielen. Aus irgendeinem Grund machte mich das sauer.

Nach dem Frühstück fuhr ich zu Amy. Sicher würde sie mit mir reden wollen. Wir kannten uns schon so lange, dass ich mir da hundertprozentig sicher war.

Garantiert hatte sie Jeanette nicht darum gebeten, sie zu mir zu fahren, weil ihre Mutter ihr sonst angesehen hätte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Doch Jeanette hatte bei »Jungs-Geschichten« meist nichts, als abfällige Kommentare für Amy übrig.

Als ich Draven bei sich zuhause absetzte, zeichnete er mit seinem Schuh nervös Kreise auf den Boden, während er in seinen Hosentaschen nach seinem Nasenspray tastete. Es musste ihn einiges an Willenskraft kosten, es nicht sofort zu zücken.

»Mach‘s gut«, murmelte ich.

Er kam einen Schritt auf mich zu, um mich zu umarmen. Mit einer geschickten Bewegung wand ich mich aus seinen Armen und gab ihm stattdessen meine Hand. Als ich seinen enttäuschten Gesichtsausdruck wahrnahm, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Doch mein Kopf war gerade voll mit den Geschehnissen von gestern Abend und Amy, da gab es gerade keinen Platz für ihn.


Da es Sonntag war, befand sich Amys Vater auf irgendeiner Waffenmesse, Jeanette hatte sich wie üblich in ihrem Nähzimmer eingeschlossen. Also öffnete Amy mir die Tür. Sie trug immer noch ihren Schlafanzug, ihre Augen waren total geschwollen und machten den Eindruck, als hätte sie den Niagarafällen große Konkurrenz gemacht.

Ich war mir unsicher, wie sie auf mich reagieren würde. Entweder sie fühlte sich schuldig, weil sie Timur angeschleppt hatte, oder sie war angepisst, weil er was von mir gewollt hatte. Doch nichts davon war der Fall.

»Vaaa-llll-eeeeeeeeeeeee-ry!«, schluchzte sie und umarmte mich, bevor ich überhaupt eintreten konnte.

Um eine Liebeskummer-Filmszene darzustellen, fehlte nur das Vanilleeis, das obligatorisch direkt aus der Packung gegessen wurde. Dafür waren überall in ihrem Zimmer vollgerotzte Taschentücher verteilt. Die Haare meiner Freundin sahen aus, als wolle sie zu kurzen Dreadlocks übergehen.

»Ich bin so ent…«, an dieser Stelle wurde ihr Satz von einem Schluchzer unterbrochen, »…täuscht.«

Als ich mich zu ihr auf das Bett setzte, bemerkte ich, dass ihr Kopfkissen ganz feucht war.

»Das kann ich total verstehen. Aber Timur ist und bleibt nichts weiter als ein dummer Kaktus. Der kann dich verletzten und vielleicht dabei noch schön aussehen – aber mehr nicht.«

Amy lachte verächtlich auf. Dann wandelte sich ihr Ausdruck und sie legte mir mit besorgtem Blick eine Hand auf die Schulter. »Wie geht es dir denn?«

»Ganz ehrlich? So habe ich mir die Party nicht vorgestellt«, entgegnete ich offen. »Gestern Abend stand ich ziemlich unter Schock, aber es geht mir wieder gut. Von so einem Idioten will ich mir einfach keine Angst machen lassen.«

»Ich finde es schon ein bisschen furchteinflößend.« Amy zupfte nervös an ihrem Oberteil. »Da denkt man die ganze Zeit, das ist ein netter Typ und dann so was … Gut, dass du ihm eine verpasst hast. Ich weiß nicht, ob ich mich das direkt getraut hätte.«

»Können wir über etwas anderes sprechen?«, bat ich und rieb mir die plötzlich einsetzende Gänsehaut an den Armen.

Amy nickte und warf einen Blick auf ihre Fensterbank, wo sich bereits die Kakteen James, Robert, Adam, Matt, Jacob und Sam befanden.

»Wo ist denn mein siebter Kaktus?«, erkundigte sie sich, wobei sie ein Taschentuch nahm, um die letzten Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen.

»Ich bin noch nicht dazu gekommen einen auszusuchen, aber ich schwöre dir, dass ich morgen noch vor der Schule einen Kaktus für dich kaufen werde.«

Sie stimmte mit einem Nicken zu und beugte sich vor, um eine Packung Donuts unter dem Bett hervorzuholen. Das war ein klares Signal dafür, dass das Thema für sie erledigt war. Für heute wenigstens.

»Netflix-Tag?«, fragte sie, wobei sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen schlich.

»Auf jeden Fall!«

»Wirst du Draven von nun an weniger giftig behandeln?«, fragte sie mit Schalk in den Augen.

Da wusste ich, dass das Schlimmste schon überstanden war.


Es war ein schöner Aprilmorgen und ich hatte mir einiges vorgenommen. Bevor ich nach dem perfekten Kaktus suchen konnte, der Timurs Seele widerspiegelte, wollte ich schwimmen gehen.

Zugegeben, ich hatte das Training mehr als schleifen lassen. Anstatt ein oder sogar zwei Mal täglich das Schwimmbad zu besuchen, war ich nur vier Mal die Woche dagewesen – am Wochenende gar nicht.

Obwohl das so manchem Pantoffelhelden immer noch viel vorkam, vermisste ich meine einsamen Stunden im Wasser. Deswegen genoss ich es jetzt umso mehr, auf dem Rücken liegend meine Bahnen zu ziehen, während ich den Blick an das Hallendach gerichtet hielt.

Insgeheim hoffte ich, dass ich Draven hier begegnen würde. Seit dem Morgen, an dem ich sein Shampoo verweigert und ihn als Sexisten bezeichnet hatte, tat ich das. Seufzend stieg ich aus dem Becken und zog die Badekappe geräuschvoll vom Kopf.

Auch heute tauchte er nicht auf. Deprimiert, weil meine Hoffnung in der nach Chlor riechenden Luft verpufft war, stand ich unter dem Föhn und ließ mir die Haare trockenpusten.

Gleichzeitig empfand ich eine gewisse Erleichterung. Obwohl ich Draven mochte, wusste ich manchmal nicht, wie ich mich in seiner Gegenwart verhalten sollte. Als wäre bei ihm mein rationales Denken ausgeschaltet.

Ich schnappte mir meine Sporttasche und machte mich auf den Weg in die kleine Gärtnerei, wo ich schon die sechs anderen Kakteen gekauft hatte.

Dieses Mal hatte diese Symbolik auch eine wichtige Bedeutung für mich. Ich war stolz darauf, dass ich mich so souverän verteidigt hatte und wollte mich von Timur nicht weiter einschüchtern lassen. Ich wollte keine Angst haben, wenn ich auf Partys ging. Für meinen Rucksack hatte ich mir ein Pfefferspray gekauft und George hatte mich und Amy für die nächsten Ferien zu einem Selbstverteidigungskurs zur Auffrischung angemeldet. So etwas würde mir nicht noch einmal passieren.

Noch am Sonntagabend hatte George Mr. Gibson erreicht und ihm berichtet, was sich im Kino zugetragen hatte. Daraufhin hatte ihm der Vertrauenslehrer versichert, dass er sich Timur vorknöpfen würde und dass ihn von nun an alle Lehrer im Auge behalten würden. Wenn Timur noch einmal negativ auffiel, müsse sein Austausch abgebrochen werden.

Letztendlich fand ich einen großen schlanken Kaktus mit vielen dünnen Stacheln, die eher aussahen wie Haare. Er besaß keine Blüte, doch als ich ihn so ansah, wusste ich, dass er Timurs Äquivalenz einer Pflanze war.

Auf dem Weg zur Schule fuhr ich bei Amy vorbei, um sie abzuholen. Ihr den Kaktus zu übergeben, war ein befreiendes Gefühl.

»Danke für den Neuzugang«, bedankte sie sich. Ihre Laune hatte sich bereits gebessert. »Wie geht es dir denn, Valery?«

»Heute Morgen war ich schwimmen. Dementsprechend super.«

Amy nickte zufrieden.

Wir brachten Kaktus-Timur noch schnell auf ihre Fensterbank, Amy versicherte ihrer Mutter, dass sie den Seidenschal ein anderes Mal tragen würde und wir stiegen anschließend in mein Auto.

»Ich fand den Schal eigentlich ganz schön«, gab ich zu.

»Du kannst ihn gerne haben. Dieses Schweinchen-Rosa, im Sinne von: Guck doch noch genauer hin, wie fett ich bin.«

»Amy, du bist wunderschön«, machte ich ihr Mut, woraufhin sie lächeln musste.

Als sie dann noch ihrem Postboten begegnete, hatte sie den Ärger vom letzten Samstag schon fast vergessen.

»Guten Morgen, Paul!«, schrie sie ungewohnt mutig aus meinem Cabrio. »Hier bin ich!«

Paul winkte lächelnd zurück und Amy grinste übers ganze Gesicht. Das Schlimmste schien überstanden, aber die Sache würde uns beide sicherlich noch öfter einholen.

Auf dem Schulparkplatz hielt ein alter Wagen neben uns an. Er war so rostig und verdreckt, dass man das Kennzeichen gar nicht mehr entziffern konnte. War das ein Toyota oder eine fahrende Seuche?

Trotzdem – Stil hatte das Gefährt irgendwie.

Ich runzelte die Stirn, während Amy mir zuflüsterte: »Der sieht von außen vielleicht etwas schäbig aus, aber von innen ist er ganz gemütlich.«

Mich fragend, woher sie das wusste, schloss ich das Cabrio mit einem Klicken ab und schwang mir meinen Rucksack über die Schulter.

Auf der Beifahrerseite des Ungetüms stieg Draven aus und begrüßte mich lächelnd.

Gefahren wurde das Auto von Luke, der augenscheinlich der Freund von Draven war, der Amy nach Hause gefahren hatte.

Tabak kauend erkundigte sich Luke bei Draven: »Ist das eigentlich die Valery?«

Dravens Wangen färbten sich rot. Aha, da hatte also jemand über mich gesprochen.

»Hi, ich bin Luke«, stellte er sich vor und hob zur Begrüßung einen imaginären Hut von seinem Kopf. »Übrigens ist deine Freundin zwar eine ziemlich aufgedrehte Beifahrerin, aber auch echt süß.«

Er zwinkerte Amy zu, die verlegen kicherte. So einen Kommentar hatte ihr Ego gebraucht.

Wir verabschiedeten uns von den Jungs und gingen zu den Spinden, wo wir unsere Sachen für den Tag holen wollten. Insgeheim fand ich es schade, dass wir nicht noch ein bisschen bei ihnen geblieben waren.

Während ich meine Bücher suchte, sah ich, wie sich Amy verstohlen nach links und rechts umschaute. Dann öffnete sie ihre pinkfarbene Schultasche und stapelte mitgebrachte Kartons in ihren Spind. Bücher hielt sie wohl für unnötig.

»Das sind genug Donuts, um eine Zombieapokalypse zu überleben«, zog ich meine Freundin auf, die mich dafür beleidigt in die Seite zwickte.


Im Physikunterricht bei Mr. Heavens schauten wir einen Sachfilm, der die Funktion von Hebeln erklären sollte. Unglaublich einfach. Unglaublich langweilig. Mr. Heavens hatte es größtenteils aufgegeben, mit uns ernsthaften Unterricht zu machen.

Der Großteil der Klasse hatte diesen Kurs nur gewählt, weil ihr Stundenplan nicht die Mindestanzahl an Fächern erfüllt hatte. Die meisten konnten wahrscheinlich nicht einmal die Schwerkraft erklären, wenn sie beim Kippeln mit ihrem Stuhl nach hinten umfielen.

Ein Schüler, der zu spät kam – war sein Name Tom? –, schlängelte sich durch die Reihen, um mir wortlos ein Blatt Papier in die Hand zu drücken. Normalerweise hätte er damit die Aufmerksamkeit des Kurses auf sich gezogen, doch die meisten versuchten, bei dem Film nicht einzuschlafen.

Nur meine Banknachbarin, die ich ziemlich nervig fand, da sie unseren Tisch immer als Make-Up-Studio benutzte, flüsterte mir ins Ohr: »Schon wieder ein Liebesbrief?«

Woher sollte ich das wissen? Es war nur offensichtlich, dass sie, Bianca, eindeutig weniger Lipgloss verwenden sollte. Ihre Lippen sahen aus wie ein nasser Fisch.

Aufgeregt faltete ich den Zettel auf. Als erstes sprang mir die kleine ordentliche Handschrift des Verfassers ins Auge. Neugierig begann ich zu lesen:

»Valery, ich mag deine Schlange,

und ich frage mich schon lange,

ob du eine Zitrone bist,

oder nur ein Perfektionist.

Ich liebe deine Zuckerwattenstimme,

und ist es auch in deinem Sinne?

Willst du mit mir schwimmen gehen?

Dann werden wir schon weitersehen!«

Ich klappte den Zettel wieder zusammen und wich Biancas Blick aus. »Nee, ist nur eine Frage zu den Hausaufgaben«, behauptete ich.

Enttäuscht begann sie damit, einen pinken Lidschatten aufzutragen. In Wirklichkeit wusste ich es selbst nicht. War das ein Liebesbrief? Das Metrum stimmte von vorne bis hinten nicht. Doch der Gedanke zählte.


Natürlich war meine beste Freundin der Meinung, dass ich mich unbedingt mit ihm treffen sollte. Sie habe ihn schon von Anfang an nett gefunden, flüsterte sie mir ins Ohr, als wir uns an die Heizung der Schulmensa lehnten.

Amy hatte es nicht leicht. Jetzt hatte sie zwei Jungs in der Mensa, denen sie nicht begegnen wollte. Doch auch ich war nicht scharf darauf, Timur über den Weg zu laufen.

»Wenn man vom Teufel spricht«, entfuhr es mir, als Timur die Mensa betrat.

Sofort holte Amy ihr Handy heraus, drehte sich um und tat so, als würde sie mit jemanden telefonieren.

Wie in einem Déjà-vu ging Timur zielstrebig auf mich zu. Ich hatte keine Angst. Um mich herum waren viele Leute. So blöd konnte Timur nicht sein. Mit einem angemessenen Sicherheitsabstand blieb Timur vor mir stehen. Er senkte seinen Kopf, konnte mir offensichtlich nicht in die Augen sehen.

»Ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen.«

Ich nickte bloß und stellte klar: »Sei dir nur bewusst, dass ich dich immer noch anzeigen kann. Wenn ich oder deine Lehrer mitbekommen, dass du so etwas noch einmal machst, wird das Konsequenzen für dich haben.« Timur sollte spüren, dass ich diejenige war, die Macht über die Situation hatte.

»Mr. Gibson hat bereits mit mir geredet«, gab er zu, als ob das alles erklären würde.

»Und halt dich bloß von Amy fern. Sonst schlag ich dir die Nase blutig.«

Timur sah ernsthaft eingeschüchtert aus. Er nickte und ging weg.

»War es okay, was ich zu ihm gesagt habe?«, fragte ich Amy, die aus ihrem »Versteck« auftauchte.

Als Antwort gab sie mir eine feste Umarmung und flüsterte: »Danke schön.«

Die Umarmung tat mir gut und so blieben wir einige Sekunden so stehen. »Ich will deine Laune jetzt nicht weiter senken, aber es sieht so aus, als ob du dich mit einem weiteren Herrn der Schöpfung auseinandersetzen musst.«

Ich seufzte leise auf und löste mich von ihr. Als ich Draven kommen sah, winkte ich ihm zu. Erstaunt erwiderte er die Geste. Gedanklich ließ ich Timur hinter mir. Draven war ein guter Typ.

Amy und ich umarmten einander noch einmal, wobei sie mir ins Ohr flüsterte: »Jetzt aber los.«

Fest entschlossen, Draven zu sagen, dass ich mit ihm schwimmen gehen wollte, ging ich zu ihm herüber. Er lud sich gerade sein Tablett voll. Um einen möglichst normalen Tonfall bemüht, räusperte ich mich.

»Wegen deines Gedichts. Also ich hätte Lust, mit dir –«

»Was für ein Gedicht?«, unterbrach Draven mich mit verständnisloser Miene. »Ich schreibe keine Gedichte.«

»Oh«, gab ich zurück und merkte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.

Warum war ich auch davon ausgegangen, dass die Nachricht von Draven war? Schließlich hatte dieser Junge aus meinem Physikkurs – hieß er Tom? – mir die Nachricht gegeben. Aber der wusste doch gar nichts von Spaghetti. Peinlich berührt realisierte ich, dass ich seit ungefähr dreißig Sekunden nichts mehr gesagt hatte.

»Na dann, viel Spaß mit deinem Zitronensorbet«, gab ich zickig zurück und wollte zu Amy stürmen.

Lachend griff er nach meinem Arm. »Natürlich war das Gedicht von mir. Wir sollten in Englisch ein Gedicht schreiben. Ich konnte nur an dich denken.«

»Ach ja?«, fragte ich schnippisch. »Tja, meine Antwort ist nein!«


Es war Freitagabend und ich machte mich auf den Weg zu Amy. Wir wollten uns zusammen einen Film im »Lights and Lollis« anschauen. Es schockierte uns beide, dass ausgerechnet ich eine romantische Komödie vorschlug.

Schon seit Montag hatte ich schlechte Laune. Einerseits war ich total glücklich darüber, dass Draven im Englischunterricht an mich gedacht hatte und sich mit mir treffen wollte. Andererseits konnte ich es nicht ausstehen, bloßgestellt zu werden.

Dafür war mein Stolz noch zu sehr angekratzt, weil er mich beim Schwimmen besiegt hatte. Deswegen wollte ich ihn vergessen. Es war noch nicht so weit, dass ich mir einen Kaktus auf die Fensterbank stellte, aber die Tatsache, dass mein Vater dauernd nach Draven fragte, verbesserte die Situation nicht gerade. Auch jetzt, in diesem Augenblick, als ich mir meine Converse zuschnürte, ließ er nicht locker.

»Wieso fragst du nicht Draven, ob er mit euch beiden ins Kino gehen möchte? Er ist so ein toller Junge.«

Ich lachte gereizt auf. »Dann heirate ihn doch, Dad!«

George gab mir einen Klaps auf die Schulter.

»Das werde ich tun. Ich werde ihn dir vor der Nase wegschnappen.« Doch nach einer kurzen und dramatischen Pause, fügte er hinzu: »Nein, im Ernst, Schätzchen. Lass ihn nicht gehen, bevor er überhaupt richtig da war.«

Mit diesem Satz in meinem Kopf setzte ich mich genervt in mein Auto, wo ich den kleinen Spiegel ausklappte, um mir einen dezenten Lippenstift aufzutragen. Ausgerechnet diesen Moment suchte Draven sich aus, um mich anzurufen.

»Weißt du was, Valery?«, fragte er am anderen Ende der Leitung, ohne mich zu begrüßen. »Ich habe keine Lust mehr darauf, dass du immer so schnell beleidigt bist. Du bist und bleibst eine Zitrone.«

Bevor ich mich überhaupt rechtfertigen konnte, legte er auf. Damit ich nicht in Versuchung geriet, ihn zurückzurufen, ließ ich sofort die Kupplung kommen. Außerdem wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, wenn wir den Beginn des Filmes verpassten. Ich sagte mir, dass das der Grund war. Nicht mein Stolz. Auf keinen Fall.


»Reicht es nicht, den Idioten in der Schule zu sehen?«, beschwerte Amy sich.

Als ich dieses Mal mit meiner Freundin für das Popcorn anstand, drängte Timur ein Mädchen gegen einen Cola-Automaten und knutschte es ab. Seine neue Eroberung schien das sichtlich zu genießen, denn sie hatte ihre Hände in seinen Haaren versenkt.

Mit einem zufriedenen Gefühl stellte ich fest, dass der Anblick keine Panik in mir auslöste. Ich war froh, so klare Grenzen zwischen mir und Timur gezogen zu haben.

»Das kann ich mir nicht geben«, stieß Amy hervor und drehte sich weg.

Timur so zu sehen, war sicherlich sehr schwer für sie. Ihre Reaktion zeigte in gewisser Weise Stärke, schließlich hatte sie nicht angefangen zu weinen. Ich schloss Amy in eine Umarmung und zusammen blickten wir auf ein altes Titanic Poster.

»Ich bin stolz auf dich«, wisperte ich. »Im Ernst, Mäuschen, du hast was Besseres verdient.«

»Danke, Valery.«

Die Schlange vor uns wurde immer kürzer.

»Also groß oder mittel?«, erkundigte ich mich.

»Ich habe heute keine Lust auf Popcorn. Ich hol mir nur ‘ne Cola«, offenbarte sie. Ungläubig schaute ich sie an, als sie sich eine Diät-Cola bestellte.

In der Vorschau lief ein kurzer Spot, der Werbung für die kostenlose Friedensformel Countdown-App machte. Während des Films konnten wir uns vor Lachen kaum halten und zwischendurch erzählte Amy wieder leidenschaftlich von Paul, dem Postboten.

»Schon seltsam, dass mir immer nach einem gebrochenen Herzen wieder klar wird, dass ich den besten Typen direkt vor meiner Nase habe«, raunte sie mir irgendwann zu.

Sie schien ans Schicksal zu glauben.

Doch wie viel Schicksal hatte ein Mensch in seinem Leben? Genau eins, oder jedes Mal wieder ein neues, wenn ein neuer Kaktus seinen Platz auf der Fensterbank gefunden hatte?

Als ich zurück nach Hause kam, war es schon ziemlich spät und mein Vater war bereits schlafen gegangen. Entspannt ließ ich mich auf meinem Bett nieder und genoss einen Moment die Stille des Hauses.

Durch mein Fenster konnte ich die Sterne beobachten. Genau wie meinem Vater, war es mir nie möglich, den Blick von dem nächtlichen Himmel abzuwenden.

In den letzten Tagen hatte ich wenig geschlafen. Zwar entschuldigte das mein Verhalten nicht, aber Schlafentzug wirkt auf den menschlichen Körper ähnlich wie Alkohol. Ich wurde also irgendwie sentimental und musste an Draven denken und wie viel Spaß es gemacht hatte, mit ihm den Kuchen für Sarah zu backen. Beim Twister auf ihn zu fallen, war so ein gutes Gefühl gewesen.

Amys Worte, die sie mir bei der Verabschiedung gesagt hatte, hallten in meinen Gedanken nach: »Warum schreibst du ihn nicht einfach an? Ich bin mir sicher, dass er sich freut.«

Leise seufzte ich. So oft hatte ich Amy Tipps für ihr Liebesleben gegeben, vielleicht sollte ich da auch einmal auf sie hören. Völlig von Amys Worten und der ganzen Situation benebelt, machte ich mit meinem Handy ein Foto von Spaghetti und schickte es Draven mit der Nachricht: »Spaghetti kann gar nicht mehr aufhören, an dich zu denken. Wusstest du, dass sie manchmal Wasser mit einem Spritzer Zitrone bekommt?«

Als mein Versuch zu schlafen vollkommen scheiterte, wollte ich die Nachricht an Draven wieder löschen. Doch er hatte sie bereits gelesen. Geantwortet hatte er allerdings nicht. Die Kombination aus Liebesfilmen und gut gemeinten Ratschlägen von Amy hatte einen schlechten Einfluss auf mich.

Schon morgen würde ich mein Handy spenden und mir stattdessen eines dieser unzerstörbaren Steinzeithandys holen, die keine Internetverbindung hatten.


Spaghetti schlängelte sich um mich herum, während ich auf meinem Bett sitzend in meinen Geschichtsnotizen Jahreszahlen markierte, die mir wichtig erschienen.

Es war nicht so, dass wir nächste Woche einen Test schrieben. Es war auch nicht so, dass ich zu den Oberstrebern der Oberstreber aufgestiegen war. Mir war nicht einmal langweilig. Ich musste mich schlicht und ergreifend ablenken.

Ich schämte mich in Grund und Boden für die Nachricht, die ich Draven gestern Nacht noch geschickt hatte. Doch war das wirklich angebracht? Bis jetzt hatte er nicht auf meine Nachricht reagiert.

Heute konnte ich einfach keine normalen Dinge tun, die ich gerne an einem Sonntag getan hätte.

Ich hatte zwar mit George Pfannkuchen gegessen und mit ihm gemeinsam anhand der Anordnung des Puderzuckers neue Sternbilder erfunden und ich war auch kurz spazieren gewesen, doch nun war es bereits 15:00 Uhr und ich fragte mich, was ich den ganzen Tag Großartiges getan hatte. Nicht wirklich viel.

Spaghetti schlängelte sich ein weiteres Mal um meine Hüfte. Ich fragte mich gerade, seit wie vielen Jahren mein Vertrauen zu dieser Schlange über meine Vernunft ging, da klopfte es an meiner Tür.

Es gab drei Möglichkeiten: Entweder es war mein Vater, der eine besonders pädagogische Phase hatte. Aber eigentlich kam der immer einfach so herein. Oder es war Amy, aber die hätte sich wahrscheinlich vorher angekündigt. Die dritte Möglichkeit kam mir am realistischsten vor: Mein Vater hatte uns einen Roboter angeschafft. In meiner Vorstellung klopften Roboter immer an Zimmertüren. Ja, das musste es sein. Als das Geräusch noch einmal ertönte, reagierte ich schließlich. »Herein.«

Fast schon rechnete ich damit, dass R2-D2 in mein Zimmer kam, doch wen ich vor mir sah, kam mir noch unwirklicher vor. Schon wieder.

»Hi, Draven.« Es gelang mir nicht, meine Verwirrung aus der Stimme zu verbannen.

»Hast du keine Angst, dass Spaghetti dich erwürgt und dann auffrisst?«, fragte er.

Da er meine Begrüßung überging, ignorierte ich seine Frage.

»Wer hat dich reingelassen?«

Er verdrehte die Augen. »Ich bin eingestiegen. Was denkst du denn? Natürlich dein Vater!«

»Mist! Ich bringe ihn um«, seufzte ich.

Wenn ich nicht in einer Schlange verknotet auf dem Bett gesessen hätte, wäre ich vermutlich einfach geflüchtet.

Draven lächelte mich an. Dabei fiel mir auf, dass seine haselnussbraunen Locken heute aus irgendeinem Grund anders aussahen. Irgendwie geordneter.

»Ich weiß nicht, ob ich mit einem Mädchen ausgehen möchte, dass so viel flucht.«

Damit hatte er sich ein Lächeln meinerseits verdient.

»Spaghetti hat mich gestern vermisst?«, erkundigte sich Draven mit ernster Stimme.

»Oh, ja«, meinte ich schlicht. »Sie konnte gar nicht aufhören, an dich zu denken. Da hat sie sich mein Handy gemopst.«

Ich strich ihr über ihren wohlgeformten Kopf.

»Tja, ich wollte einen zweiten Versuch wagen und mit Spaghetti schwimmen gehen. Hätte sie da denn Lust drauf?«

»Da musst du sie wohl selbst fragen.«

Draven sah Spaghetti in die kleinen Augen und erkundigte sich: »Na, hast du heute schon was vor?«

Als ob sie ihn wirklich verstanden hätte, bewegte sie ihren Kopf auf und ab.

»Zu dumm, dass sie heute schon planschen war«, meinte ich.

Draven nickte. »Dann muss ich mich wohl mit dir begnügen.«


Draven hatte sich Lukes Toyota geliehen. Es war ihm anzumerken, dass er froh war, ausnahmsweise mich herumfahren zu können.

Mein Vater verabschiedete uns mit einem Augenzwinkern und wir machten uns auf den Weg zum Schwimmbad. Mittlerweile hingen an jeder zweiten Straßenecke Plakate mit der Aufschrift: »Der erste Juni – machen Sie sich bereit für die Friedensformel«.

Auch, wenn ich die Intention verstehen konnte, schüttelte ich über diese Plakate den Kopf. Wie sollte man sich auf so eine große Veränderung vorbereiten? Wahrscheinlich war das gar nicht möglich.

»Eigentlich wollte ich schon früher bei dir sein«, riss Draven mich aus meinen Gedanken.

Beim Klang seiner Stimme begann mein Herz schneller zu schlagen. Hatte ich in meinem Alter vielleicht eine frühzeitige Herzrhythmusstörung?

»Aber ich wollte etwas für dich backen. Das ist ziemlich schiefgelaufen.«

»Wieso das denn?«, erkundigte ich mich. Es freute mich, dass er sich so viel Mühe für mich gegeben hatte.

»Das ist nicht von Bedeutung«, lachte er. »Auf jeden Fall hat es beim dritten Versuch zum Glück geklappt.«

»Dann bin ich mal gespannt«, gab ich zu. »Aber besser nachher. Denn du weißt ja: Geh nicht direkt nach dem Essen ins Wasser.«

»Du bist so eine Besserwisserin«, lachte Draven.

Wir fuhren zu meinem Stammbad.

»Weißt du, was mir hier so gut gefällt?«, fragte ich ihn, nachdem er sich ein Ticket gekauft hatte. Ich besaß eine Jahreskarte.

Er schüttelte den Kopf.

»Es gibt hier keinen Whirlpool«, erklärte ich.

»Ist das nicht eher ein negativer Aspekt?«, wollte Draven wissen.

»Natürlich nicht! Ich würde sonst aus dem entspannenden blubbernden Wasser nicht mehr herauskommen.«

Wir hatten die Umkleiden erreicht.

»Ich mag das Schwimmbad nicht«, meinte Draven.

Fragend zog ich eine Augenbraue nach oben.

»Na, ist doch logisch. Hier gibt es nur Einzelkabinen.«

Für diese Aussage boxte ich Draven auf die Schulter, eilte in eine Kabine und zog mich um. Darin hatte ich natürlich Übung, weshalb ich sehr schnell war. Auf die Badekappe verzichtete ich heute. Wenn ich ehrlich war, wollte ich Draven beeindrucken. Ein winziges bisschen wenigstens.

Die Duschkabinen hinter mir lassend, stellte ich erleichtert fest, dass er auch keine Badekappe trug. Als ich den Blick schweifen ließ, bemerkte ich überrascht, dass es heute gar nicht so leer war wie sonst. Wir teilten uns ein Schließfach und Draven erklärte sich bereit, den Schlüssel zu nehmen.

»Ich habe den tatsächlich mal im Wasser verloren«, erzählte ich, als wir uns auf den Weg zu den Duschen machten. »Die Bademeisterin war super sauer. Ich habe drei Stunden gebraucht, um ihn wiederzufinden. Er klemmte in einem Filter fest.«

»Also mir ist das noch nie passiert«, prahlte er und stemmte seine Hände in die Hüften. »Ich erwarte, dass du mir dafür nächstes Mal eine Urkunde überreichst.«

»Aber sicher«, sagte ich trocken, bevor wir uns kurz trennten.

Nach dem Duschen war unsere heitere Stimmung ein wenig angeschlagen. Ich trainierte seit fünf Jahren allein. Deswegen war ich mir nicht sicher, wie ich mich verhalten sollte.

Doch Draven, der mich kurzerhand in das Becken schubste, lockerte die angespannte Situation schnell wieder auf. Da störte es auch keinen von uns beiden, dass die Bademeisterin ihn böse anschaute und auf das »Bitte nicht vom Beckenrand springen«-Schild, zeigte.

Eine Zeit lang schwammen wir einfach nebeneinander her.

»Sollen wir vielleicht unser damaliges Wettrennen wiederholen?«, schlug ich schließlich vor.

Draven schüttelte den Kopf.

»Warum nicht? Hast du Angst zu verlieren?«, zog ich ihn auf.

»Es gibt drei Gründe, die dagegensprechen«, erklärte er. »Grund Nummer eins: Wir tragen keine Badekappen und du hättest mit deinen langen Haaren einen Nachteil. Grund Nummer zwei: Das Schwimmbad ist relativ voll. Wir müssten anderen Schwimmern ausweichen, was unfair wäre. Grund Nummer drei: Es wäre der totale Stimmungskiller.«

»Ein Stimmungskiller?«, erkundigte ich mich. »Das ergibt doch gar keinen Sinn!«

Erst, als ich mit dem Kopf gegen den Beckenrand stieß, wurde mir bewusst, dass ich mich nicht wie üblich an dem Fleck an der Decke orientiert hatte. Kurz war ich davon verwirrt, sodass Draven die Situation nutzte, um mich gegen die Wand zu drängen.

Auf einmal klopfte mein Herz sehr schnell und ich war mir hundertprozentig sicher, dass er das durch den Badeanzug sehen konnte.

»Natürlich wäre das ein Stimmungskiller. Schließlich könnte ich dich jetzt küssen. Da ist Konkurrenzverhalten fehl am Platz«, meinte Draven, während er sich langsam nach vorne lehnte.

Doch dann stieß er sich mit den Händen vom Beckenrand ab und wiederholte die Worte, die ich an dem Abend gesagt hatte, als Timur so aufdringlich gewesen war: »Aber das wäre der schlimmste erste Kuss der ganzen Welt. Ich meine, die Romantik eines Schwimmbads hat ehrlich ihre Grenzen.«


Nachdem wir über drei Stunden mit Planschen verbracht hatten, schlug ich vor, noch in den Park zu gehen.

»So gefällst du mir echt viel besser«, sagte Draven, als ich mir die Haare föhnte. Seine Locken waren wie durch ein Wunder bereits trocken.

»Wie meinst du das?« Jetzt hatte er mich doch neugierig gemacht.

»Na ja… Wenn ich das erklären muss, bist du vielleicht derart verlegen, dass du nicht mehr so wärst. Deswegen bleibt das jetzt mein Geheimnis.«

»Na gut.« Auch wenn es nicht einfach war, diesem Gedankengang zu folgen, ergab es Sinn. Irgendwie.

Wir machten uns zu Fuß auf den Weg in den nahegelegenen Park, der voller Palmen und Zitrusfrüchte war.

»Hat Sarah eigentlich noch einen Vogel bekommen?«, erkundigte ich mich.

Ein vergnügtes Lächeln schlich sich auf Dravens Gesicht. Ungefragt griff er nach meiner Hand. In der ersten Sekunde war es ein komisches Gefühl, doch dann drückte ich sanft zu.

»Meine Mutter war explizit gegen die Anschaffung eines Vogels.«

»Also ja.«

»Na klar«, erwiderte Draven schadenfroh. »Ich bin schon in der folgenden Woche mit ihr zu dem Zoogeschäft gefahren und sie hat sich einen grünen Wellensittich ausgesucht, den sie Kapitän Jack Sparrow genannt hat.«

Das freute mich für Sarah. »Deine Schwester war mir von Anfang an sympathisch«, gab ich zu.

»War ich dir das etwa nicht?«

»Natürlich nicht!«, erwiderte ich. »Du hast meine Ehre verletzt, mich genervt, mich mit einer sauren Frucht verglichen und meinen Vater um den Finger gewickelt!«

»Ich habe George um den Finger gewickelt?«

»Auf jeden Fall«, bestätigte ich. »Er ist kurz davor, dich zu adoptieren.«

»Auf keinen Fall würde ich wollen, dass du meine Schwester bist«, stellte er klar. »Das könnte ich nicht aushalten.«

»Wäre ich zu nervig?«

»Ja, definitiv zu nervig«, meinte Draven, wobei er mir tief in die Augen schaute.


Im Park angekommen, breitete sich eine wunderschöne Kulisse vor uns aus, wie ein ausgerollter Teppich. Kinder spielten Verstecken und Fangen, Hunde brachten ihren Herrchen Stöckchen zurück und einige Pärchen spazierten umher oder picknickten.

Um uns diesem entspannten Bild der Freizeit gut anzupassen, entschlossen wir uns, eine Runde Schach zu spielen. Auf einem kleinen Hügel gab es ein cooles Schachspielfeld mit kniehohen Figuren. Das Feld selbst war aus wunderschönem Marmor gepflastert. Ringsherum blühten einzelne Blumen. Gerade die Tatsache, dass der Rasen hier nicht perfekt gemäht war, mochte ich sehr.

»Welche Farbe willst du?«, fragte er höflich.

»Weiß beginnt, schwarz gewinnt«, war meine Antwort.

Er nickte und stellte sich auf die weiße Seite. »Du denkst echt immer nur ans Gewinnen. Dabei entgehen dir viele Sachen. Zum Beispiel die Tatsache, dass die weiße Dame große Ähnlichkeit mit dir hat.«

Ich hatte mich nun auch auf meiner Seite platziert und machte zum Spaß ein paar Kniebeuge und dehnte meine Beine, um mich aufzuwärmen.

»Du spinnst doch«, widersprach ich. »Die Figuren haben doch nicht einmal Gesichter.«

»Du musst genauer hinsehen, Valery. Ich bin mir sicher, dass mir Damen-Valery sehr viel Glück bringen wird.«

Ich schnaubte. »Das werden wir sehen!« Kurze Zeit später setzte ich Dravens König matt und war total stolz.

»Du willst im Schachclub gewesen sein?«, zog ich ihn auf. »Es war auf jeden Fall nicht gerade clever, die Dame zu retten, anstelle deines Königs.«

»Ich konnte doch meine Damen-Valery nicht im Stich lassen.« Er umarmte die Figur kurz, wodurch er befremdliche Blicke der Spaziergänger auf sich zog. »Lust auf eine Revanche?«

»Auf keinen Fall!«, rief ich und machte einen kleinen Freudentanz, weil ich als Gewinnerin aus dem Duell hervorgegangen war.

Den Triumph wollte ich auskosten und zwar in vollen Zügen. Voller Übermut warf ich meine Hände in die Luft. Dabei sprang ich laut jubelnd umher. Plötzlich stolperte ich über einen Stein und kippte um. Zum Glück reagierte Draven schnell und fing mich rechtzeitig auf. Viel zu schnell löste er seine Hände wieder von meiner Taille, doch sie ließen dort ein Kribbeln zurück.

»Danke«, murmelte ich, wobei mir mein Freudentanz und der Sturz etwas peinlich waren. »Versprichst du, das niemandem zu erzählen?«

»Ich verspreche es«, gelobte Draven kichernd. »Wollen wir uns setzen, bevor du dir noch ein Bein brichst?«

Ich verdrehte meine Augen und folgte seinem Blick. Auf dem Hügel befand sich eine Holzbank, daneben stand stolz eine rustikale Straßenlaterne, die mit ihrem Charme den märchenbuchartigen Ort abrundete.

»Na gut«, stimmte ich zu und eilte los, weil ich nicht auf der Seite des Mülleimers sitzen wollte.

Nachdem er sich lachend zu mir gesetzt hatte, zog er völlig überraschend eine Brotdose aus seiner Sporttasche. Als er zwei kleine, aber wunderschöne Muffins herausholte, war ich begeistert.

»Du solltest Konditor werden«, freute ich mich.

»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, stellte Draven mit einem kleinen Lächeln klar. »Es sind Kirsch-Muffins.«

Noch während ich das Gebäck betrachtete, lief mir das Wasser im Mund zusammen.

»Die sind echt fantastisch«, gab ich zu, nachdem ich sie probiert hatte.

»Bekomme ich dafür ein High-Five?«, fragte Draven.

Als ich einschlug, wurde mir etwas klar: Wenn Amy die Muffins gebacken hätte, hätte sie auf eine Umarmung, nicht auf ein High-Five bestanden. Aber ich hatte seine Umarmungsversuche schließlich oft genug verschmäht.

Nach und nach verließen die meisten Familien den Park. Unser kleiner Hügel wurde in orangerotes Licht getaucht, während die Sonne unterging. Nur der Geruch der Zitrusfrüchte und der Lärm der Möwen drang noch zu uns durch. Ihr Kreischen bildete eine merkwürdige Geräuschkulisse für das Gespräch über außerirdisches Leben, das ich mit Draven führte.

»Also ich finde die Vorstellung von Außerirdischen in Filmen immer absolut unrealistisch. Alf zum Beispiel«, meinte ich.

»Was hast du gegen Alf?«, beschwerte er sich. »Der hat zwar nicht so einen Leuchte-Finger wie E.T, aber ist trotzdem ziemlich cool.«

In diesem Moment ging die Laterne neben der Bank an und tauchte uns in einen warmen Lichtkegel.

Einige Sekunden sagten wir gar nichts und ich ließ meinen Blick über die idyllische Landschaft schweifen, die sich nach und nach in der Dunkelheit auflöste.

»Das ist jetzt aber doch romantisch. Ziemlich romantisch sogar.« Draven flüsterte das so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es mir vielleicht eingebildet hatte.

»Warum legst du eigentlich einen so großen Wert auf Romantik?«, zerstörte ich die Stimmung mit meiner typischen Rationalität.

»Einer von uns muss es ja tun«, war Dravens schlichte Erklärung, während er wieder nach meiner Hand griff.

In meinem Bauch begann es zu brodeln. So stellte ich mir immer das Brodeln einer Gerüchteküche vor. Andauernd und nicht zu ignorieren.

»Mein Vater hat mich auf gewisse Weise zum logischen Denken erzogen«, gab ich zu.

Überrascht von mir selbst, rutschte ich ein Stück näher zu Draven. Wann hatte ich mich dazu entschieden, das zu tun?

»Doch jetzt …«, ich unterbrach mein klägliches Geständnis.

»Doch jetzt?«, ermutigte er mich, meine Erklärung fortzusetzen.

»Doch jetzt habe ich das Gefühl, dass meine schöne geordnete Welt kaputtgeht. All meine logischen Regeln scheinen nur noch wenig Sinn zu ergeben. Versteh mich nicht falsch, aber ich nehme dir das ein wenig übel.«

Draven lachte auf. »Willst du mir gerade auf komplizierte Weise klarmachen, dass ich dich durcheinanderbringe? Mann, Valery. Ich hätte in diesem Satz wenigstens noch eine doppelte Verneinung erwartet.«

Ich kicherte und verzog kurz darauf peinlich berührt mein Gesicht. »Ich hasse mein dämliches Kichern«, gab ich zu.

»Ich liebe es«, verkündete Draven. »Valery, nach diesem peinlichen Versuch, dich mit meiner Lyrik zu beeindrucken, habe ich immer wieder probiert, dir ein richtig schönes Gedicht zu schreiben. Aber ich schätze, ich bin einfach zu unbegabt.« Er rutschte nah an mich heran, sodass kein Blatt Papier mehr zwischen uns gepasst hätte. »Um die fehlende Romantik dank meiner Inkompetenz wieder auszugleichen, werde ich dir etwas ins Ohr flüstern.« Sein Mund näherte sich meinem Ohr, sodass ich seinen Atem hören konnte. »Ich verliebe mich jede Sekunde mehr in dich.«

Überrumpelt hielt ich den Atem an. Natürlich war mir klar gewesen, dass wir heute ein Date hatten. Aber war das möglich? Ergab das Sinn? Er schaute mich fragend an, als ob er auf eine Antwort wartete.

Hastig deutete ich in den Himmel, wo man bereits die ersten Sterne sehen konnte. »Wusstest du, dass es kein Sternbild des Mistelzweigs gibt?«

Er schüttelte den Kopf; schien nicht zu verstehen, was ich sagen wollte.

»Okay, Draven, noch offensichtlicher kann ich es dir nicht machen.«

Er runzelte die Stirn. »Kannst du mal bitte Klartext mit mir reden?«

Ich stöhnte auf und sagte dann sehr unbeholfen und unromantisch: »Ich bin auch in dich verliebt, Draven.«

Seine Augen leuchteten wie die Sterne in der Nacht. Im Bruchteil einer Sekunde, wusste ich, was passiert war. Diesen Moment konnte uns keiner mehr nehmen.

Ich machte nicht den ersten Schritt. Auch Draven blieb still. Doch plötzlich schauten wir uns nicht nur in die Augen. Ich war ihm so nah, dass ich ein paar kleine Sommersprossen auf seiner Nase sehen konnte, die mir vorher noch nie aufgefallen waren.

Ich hörte genau wie schnell er atmete und mir ging es nicht anders. Meine Haut kribbelte am ganzen Körper und ich war mir sicher, noch nie in meinem Leben so aufgeregt gewesen zu sein.

Was, wenn Draven nicht die Initiative ergriff? Ich merkte, wie sich meine Wangen rot färbten, als ich die letzte Distanz zwischen uns überbrückte, und unsere Lippen sich schließlich berührten.

Ein Feuerwerk der Gefühle explodierte in mir, während Dravens Hände zärtlich meinen Nacken streichelten. Ich dachte nicht an die vergangenen Tage, oder was nun kommen würde, sondern genoss nur diese ungewohnte Glückseligkeit, die er in mir auslöste.

Wären wir noch im Schwimmbad gewesen, wäre das Wasser in den Becken übergesprudelt, hätte sich zu einer Fontäne aufgebaut und wäre durch das Dach bis an das Tor des Himmels geschossen. So stark fühlten sich die Energie und Kraft unserer Gefühle an.

Die Friedensformel

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