Читать книгу Die Friedensformel - Annabelle Laprell - Страница 8

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Es war Samstag und ich hatte eine anstrengende Woche hinter mir. Das lag nicht an dem zu einfachen Chemietest, für den ich im Nachhinein viel zu viel gelernt hatte. Sondern vielmehr an Amy, die sich im Laufe der Woche auffällig geschminkt hatte. Das bereitete mir einige Sorgen.

Den Postboten Paul schien sie nun vollkommen vergessen zu haben. Stattdessen erzählte sie mir stundenlang von Timurs mandelförmigen Augen und davon, wie verflucht sexy sein spanischer Akzent war.

Wenn das wenigstens schon alles gewesen wäre. Zu allem Überfluss setzte mein Herz immer aus, wenn ich Draven begegnete. Ich ignorierte ihn jetzt nicht mehr in der Schule, jedoch ließen wir den peinlichen Moment, den ich gedanklich mit TA – Twister-Augenblick – abkürzte, unerwähnt.

Amy war der Meinung, dass es kein Jahr mehr dauerte, bis ich mit Draven verheiratet wäre. Für sich selbst hatte sie ebenso konkrete Pläne. Ein bisschen verrückt? Definitiv.

In sage und schreibe siebenundzwanzig Textnachrichten hatte sie mich angefleht, ihr Make-up für den großen Abend zu machen. Dabei schickte sie mir fünf Links zu YouTube-Videos mit Tutorials. Auf meine Frage, wie ich ihr denn gleichzeitig Smokey Eyes und ein Paradiesvogel Make-up machen solle, war ihr jedenfalls keine Antwort eingefallen.

Stattdessen hatte sie mich kurzerhand angerufen.

»Ich war ja total überrascht, dass Timur mich gefragt hat, ob wir zusammen zur Party wollen.« Sie stoppte kurz, um Luft zu holen. Eine Begrüßung gab es wohl nicht. »Ich meine, er hat mich schließlich nach meiner Handynummer gefragt und wir schreiben ja auch regelmäßig, aber trotzdem. Ich schätze, mein Selbstbewusstsein muss sich erst einmal an so viel Aufmerksamkeit gewöhnen.«

Heute war also der große Tag. Hibbelig saß Amy vor mir und wartete darauf, dass ich sie schminkte.

»Hast du dich denn jetzt für einen Look entschieden?«, erkundigte ich mich.

Sie nickte und während ich all die Pinsel hervorkramte, die wir benötigten, erzählte Amy, dass sie sich mit Timur um acht Uhr vor dem »Lights and Lollis« treffen wollten.

Man konnte dort nicht nur Filme anschauen und die völlig überteuerten hausgemachten Lutscher kaufen. Zweimal im Jahr stieg in der Location eine Party, die sich wirklich sehen lassen konnte.

Als ich alle Utensilien zusammen hatte, legte ich los.

»Nein, noch dunkler«, bat Amy mich ein paar Mal. »Ich bin so aufgeregt, Valery.«

»Halt still. Sonst wird dein Lidstrich schief«, meckerte ich. »Die Funktionsgleichung stellt annähernd den Verlauf von Amys Lidstrich dar. Berechnen Sie, an welcher Stelle Amy Valery abgelenkt hat.«

»Dein Vater hat echt einen schlechten Einfluss auf dich«, warf Amy mir vor.

Obwohl ich natürlich wusste, dass es scherzhaft gemeint war, antwortete ich leise: »Mein Vater hat einen besseren Einfluss auf mich als sonst irgendjemand.«

Eingehend betrachtete ich Amy und ließ meine Augen zufrieden auf- und abwandern. Das Make-Up war ein Meisterwerk geworden – das musste Timur einfach toll finden. Und die Kombination des glitzernden Oberteils mit dem Schal sah wirklich sehr hübsch aus.

Prüfend warf ich einen letzten Blick in den Spiegel.

Im Gegensatz zu Amy hatte ich mein Styling schlicht gehalten. Meine hellblaue Bluse hatte eine schwarze Schleife auf Halshöhe. Das Oberteil hatte ich mit einer grau gestreiften Hose mit schwarzen Quadraten kombiniert, in der ich mich immer ein bisschen wie Sheldon Cooper fühlte, nachdem mein Vater mir diese Ähnlichkeit klargemacht hatte. Ich mochte diesen schlichten Look, den ich nur mit ein wenig Wimperntusche vollendete.

Meine beste Freundin sollte einen wunderschönen Abend haben. Heute wollte ich ihr nicht die Show stehlen. Schließlich würden viele Leute von der JRA dort sein. Was noch wichtiger war: Timur, der im Moment der Mittelpunkt von Amys kleinem Universum war, würde da sein. Darauf musste ich Rücksicht nehmen.

Als wir fertig waren, verabschiedeten wir uns noch von meinem Vater, der uns beiden sagte, dass wir hübsch aussähen. Er selbst hatte an diesem Abend eine Verabredung mit seinem Kollegen. Sie wollten zusammen in ein Planetarium fahren, um sich über die Fehler der Show lustig zu machen. So würde sicher jeder von uns einen schönen Abend verbringen.


In der Menschenmenge vor dem »Lights and Lollis« konnte ich Timur nicht ausmachen. Als ich schließlich bemerkte, wie Amy aufgeregt auf- und ab hüpfte, war mir klar, dass sie ihn entdeckt hatte.

Er umarmte sie zur Begrüßung, woraufhin Amy ganz aus dem Häuschen zu sein schien. Sie formte mit ihrem Mund die Buchstaben »OMG«, sodass nur ich es sehen konnte.

»Hi, Timur«, sagte sie schüchtern.

Allerdings sank Amys Stimmung, als Timur uns zu seinen »amigos« führte. Eine Gruppe bestehend aus zwei Typen, die Sonnenbrillen trugen – lächerlich, wenn man bedachte, dass die Party drinnen stattfand –, und drei hübschen Mädchen, die in knappen Shorts steckten. Eine hatte ein Oberteil mit einem so tiefen Ausschnitt an, dass sie genauso gut auch nackt hätte rumlaufen können.

Ihren Ärger schien Amy bereits wieder heruntergeschluckt zu haben, als Timur ihr den Eintritt bezahlte. Sie lächelte glücklich. Dann beugte sich Timur zu mir herunter.

»Hola, chica«, flüsterte er.

Ich biss die Zähne zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Du glaubst auch, dass keine deinem spanischen Akzent widerstehen kann, oder?«

Timur lachte leise, während sich ein selbstsicheres Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. »So ist es auch.«

»Was ist so?«, erkundigte sich Amy neugierig.

Timur schaute sie verführerisch an und verkündete: »Dass du heute wunderschön aussiehst.«

Bei seinen Worten bekam ich einen Brechreiz und mich beschlich ein böses Gefühl. Das Gefühl, dass Timur möglicherweise ein Kaktus war.


Skeptisch ließ ich Timur nicht aus den Augen. Während ich meine Cola trank, tanzten Timur und Amy scheinbar verliebt miteinander. Womöglich war ich mit meinem Urteil etwas vorschnell gewesen.

Die Atmosphäre war aber auch zum Verlieben. Das Kino besaß alte Tapeten sowie purpurne Vorhänge, die im Takt der Musik hin- und herschwangen. Die meisten Kinosessel waren herausgeräumt worden, um den Gästen das Tanzen zu ermöglichen. Und was die Kronleuchter anging, war ich leider ein ganz typisches Mädchen.

Mir entging nicht, dass Timur gerade einer seiner Begleiterinnen, die auf die Toilette ging, nachschaute.

»Ich bringe ihn um«, flüsterte ich und trank einen großen Schluck meiner Cola. Wie eine angepisste Königin wippte ich mit meinem Bein im Takt und beobachtete die Szene weiterhin genau.

»Meinst du mich?«, fragte eine bekannte Stimme neben mir.

Erschrocken blickte ich Draven an, der sich gerade gegenüber in einen Sessel plumpsen ließ.

»Ich wusste gar nicht, dass du hier bist«, ging ich der Frage aus dem Weg.

Er zuckte mit den Schultern. »Du hast mich ja auch nicht gefragt.«

Da hatte er natürlich recht. Ich ließ Amy und Timur nicht aus den Augen.

»Du bist eine gute Freundin«, sagte Draven plötzlich, dabei betrachtete er die beiden genau wie ich.

Deswegen wusste ich auch nicht, ob er Amy und mich oder uns beide meinte.

»Danke«, entgegnete ich trotzdem.

»Ich kann den Kerl nicht leiden«, gab Draven mit dem Blick auf Timur gerichtet zu. Damit sprach er meine Gedanken aus.

»Ich habe dich eben aus der Ferne gesehen«, begann Draven. »Und habe mich gefragt, ob –«

Lachend unterbrach ich ihn: »Ich werde nicht mit dir tanzen, Draven.«

»Ob du vielleicht diesen Lollipop haben möchtest?«

Beeindruckt von der Tatsache, dass er nicht das zweideutige Wort »Lutscher« verwendet hatte, nahm ich den Lolli entgegen.

»O wie lieb«, meinte ich ehrlich. »Kirsche ist meine Lieblingssorte.«

»Das weiß ich doch«, antwortete er schlicht.

Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch.

»Nach den Aussagen meiner kleinen Schwester hattest du am Wochenende nur Augen für die Kirschgummibärchen. Sonst natürlich für mich.«

Ich schnaubte. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich mich offensichtlich so großzügig an dem Süßigkeiten-Buffet bedient hatte. Anscheinend hatte es sogar ein siebenjähriges Mädchen bemerkt.

»Ich hatte keine Augen für dich«, versuchte ich mich zu verteidigen, nachdem ich wusste, dass hinsichtlich des Kirschgeschmacks eine Diskussion hoffnungslos war.

Um mich davon abzuhalten, mich weiter um Kopf und Kragen zu reden, steckte ich mir den Lolli in den Mund.

»Ist klar«, entgegnete Draven. »Du hast mich wahrscheinlich nur angeschaut, um zu überlegen, wie schwierig es wäre, meine Leiche verschwinden zu lassen.«

»Haha«, sagte ich. »Obwohl ich liebend gern weiter mit dir über Süßigkeiten quatschen würde, muss ich mal zur Toilette. Wegen des Lollis … Danke, Draven.«

Dieser schien über die Alliteration zu lächeln und winkte mir zu.

Schnurstracks lief ich auf die Toilette zu. Gerade kam Ella Rodgers aus der Tür zum Damen-WC. Ihre Wimperntusche war verlaufen und ihre Augen geschwollen. Bestimmt hatte sie dort geweint.

Unschlüssig beobachtete ich sie einen Moment. Sie holte ihr Handy aus ihrer Tasche hervor, schüttelte den Kopf und brach weinend auf dem Boden zusammen.

Viele Menschen warfen ihr zwar besorgte Blicke zu, kümmerten sich aber nicht um sie. Anscheinend mussten sie sehr dringend zur Toilette, oder es war ihnen einfach egal.

Ella war keine Freundin von mir. Genau genommen bezeichnete ich nur Amy als meine Freundin. Ella war die Art von Mädchen, die ich nett begrüßte und wir versicherten uns online unter Fotos, wie wunderschön wir waren. Eigentlich war sie sehr beliebt, dazu noch gutaussehend, weswegen es mich wunderte, dass keiner außer mir reagierte.

Ohne etwas zu sagen, fasste ich sie sanft unter den Armen und setzte sie vorsichtig auf den nächstgelegenen Kinosessel. Geistesabwesend nahm ich meinen Lolli aus dem Mund.

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte ich.

Sie reagierte nicht darauf, es musste also etwas Ernstes sein.

»Was ist los, Ella?«, fragte ich sie mit behutsamer Stimme und strich ich ihr sanft über ihren Arm.

Geräuschvoll schniefte sie in ein Taschentuch, das so zerfetzt aussah wie die Lumpen eines Straßenkindes.

»Ich habe gerade erfahren«, schluchzte sie, »dass mein Cousin heute erschossen wurde.«

Wie schrecklich! Ich durchsuchte mein Gehirn nach Informationen und dem Klatsch der Schule, aber ich konnte mich an keine Neuigkeiten erinnern. Es musste gerade erst passiert sein.

Vorsichtig nahm ich Ella in den Arm. »Mein herzliches Beileid. Darf ich fragen, wie es dazu gekommen ist?«

Sie schien sich durch meine tröstende Umarmung ein wenig zu beruhigen, ihre Atmung wurde wieder regelmäßiger.

»Er ist vor ein paar Monaten als Soldat eingesetzt worden.« Ella schüttelte den Kopf, als ob sie das alles nicht fassen konnte. »In Syrien.«

Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was für ein schwerer Schicksalsschlag es sein musste, einen geliebten Menschen zu verlieren. Dass ich nicht immer die empathischste Person war, wusste ich selbst und da ich mit der Situation schlicht überfordert war, sagte ich nur leise: »Es tut mir wirklich leid.«

Ella nickte bloß. »Weißt du, er war nicht immer einfach. Als Jugendlicher hat … hat er seinen Eltern viele Sorgen bereitet«, stotterte sie. »Er war immer sehr un … unhöflich und grob, aber ich … ich habe …«

»Ihn geliebt?«, half ich etwas verspätet weiter.

Sie nickte schlicht.

Während sie erzählte, wie ihr Cousin sie als Kind manchmal heimlich abgeholt hatte, um Ausflüge zu machen, schluchzte sie zwischendurch laut auf. »Meine Eltern haben sich auch immer total die Sorgen gemacht, wo ich war. Aber die Ausflüge waren es echt wert.«

Schweigend hörte ich mir an, was sie zu sagen hatte und ich kramte schließlich eine Packung Taschentücher hervor, die ich Ella gab. Wie ein hilfloses Kind reichte sie mir daraufhin ihr vollgerotztes Tuch. Wortlos steckte ich es ein.

»Soll ich vielleicht deinen Freund anrufen?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Ella nahm ein weiteres Taschentuch aus der Packung und schnäuzte sich die Nase. »Meine Mommy holt mich ab.«

Ich stützte sie und brachte sie zum Ausgang des »Lights and Lollis«, da ihre Mutter dort auf sie warten würde. Auf dem Weg warf ich einen von Timurs Kumpels einen vernichtenden Blick zu, da er einen Finger auf Ella richtete und lachte. Zum Glück bekam sie das nicht mit.

Draußen wartete ich noch, bis Ellas Mom angefahren kam; auch sie kämpfte mit den Tränen. Jetzt mussten die beiden mit ihrem Schmerz allein sein.

Ich konnte ihr Leid nicht ansatzweise nachfühlen. Keiner der Menschen, die ich liebte, arbeitete in einem Kriegsgebiet. Überhaupt wirkte so etwas in den Nachrichten immer sehr fern. Als ob diese Katastrophen nur im Fernsehen passierten.

Aber es war Realität. Ella Rodgers war es widerfahren. Bestimmt fragte sie sich jetzt, warum ihr Cousin nicht bis zu Alfred Simons Friedensformel durchgehalten hatte.

In Gedanken sah ich George vor mir, der in einem blutgetränkten Hemd auf dem Boden lag. Wenn ihm irgendetwas zustieße, wäre ich völlig verzweifelt. Wahrscheinlich hätte ich das ganze Kino zusammengeschrien, bevor ich zusammengebrochen wäre.

All dies ging mir durch den Kopf, als ich das »Lights and Lollis« wieder betrat. Nach Feiern war mir nicht mehr zumute, doch ich durfte mich von solchen Dingen nicht runterziehen lassen. Wenn man alle schlimmen Geschehnisse der Welt in sich aufnähme, säße man nur noch deprimiert in der Ecke. Das konnte die Menschheit wirklich nicht gebrauchen.

Außerdem durfte ich mir meine gedämpfte Stimmung vor Amy nicht anmerken lassen. Erstens wollte ich ihr den Abend nicht verderben, zweitens ging Ellas Verlust nur sie selbst etwas an.

Schon von weitem sah ich Amy, die mir fröhlich zuwinkte. Erst in diesem Augenblick realisierte ich, dass ich immer noch den Lollipop in meiner linken Hand hielt. Der Appetit war mir leider vergangen, schweren Herzens schmiss ich ihn in den Mülleimer. Zum Glück bemerkte Amy nicht, dass ich bedrückt die Schultern hängen ließ. Sie war sehr gut darin, Informationen aus mir herauszukitzeln.

»Timur holt mir gerade ein Bier.«

Ich runzelte die Stirn. »Ein Bier? Aber er ist doch erst achtzehn!«

»Mach dir mal keine Sorgen, er kennt schon die richtigen Leute.«

Was das für Leute waren, wollte ich mir besser nicht vorstellen.

Als Amy mich mit den Worten »Darf ich bitten?« zum Tanzen aufforderte, war ich sehr überrascht, gab ihr dann aber lächelnd meine Hand. Grinsend wiegten wir uns zu einem ruhigen Lied.

Ziemlich direkt erkundigte ich mich bei meiner Freundin: »War er denn auch nett zu dir, oder ist er dir zu nahegetreten?«

Amy hickste plötzlich. »Elllisch gesagt, kanna mir ga nisch nah genug sein. Er‘s so schööön.«

Sie machte übertriebene Gesten, mit denen sie einen imaginären Timur an sich heranzog und taumelte ein wenig.

»Wie viel hast du denn schon getrunken?«, fragte ich besorgt.

»Nur‘n halbes Bier«, beruhigte Amy mich.

»Na, wer es glaubt.«

Sicherheitshalber platzierte ich sie vorübergehend auf einem Sessel. Außerdem organisierte ich ihr Studentenfutter und ein Wasser, damit sie langsam wieder nüchtern werden würde. Doch bei nur 0,1 Promille Alkoholabbau pro Stunde dauerte das wohl noch etwas.

»Ich muss mal kurz auf Toilette«, sagte ich. »Aber ich bin gleich zurück.«

Amy lächelte mich glücklich an. »Timur is beschtimm au glei wieda da. Ach, komm. Jez halt mir kein‘n Vortag über‘n Alkohl … Alkoholkonsum von Jugenlischen, verdammt!«

Hatte sie mir überhaupt zugehört?

Mit ihrem Zeigefinger deutete sie auf die Toilette.

»Geh pinkeln, du Nonne«, gackerte sie.

Also machte ich mich auf den Weg zur Damentoilette. Meine Blase war kurz vorm Platzen. Die Schlange war ziemlich lang und es war laut und stickig. Im Spiegel kontrollierte ich meine Haare, die noch ganz gut aussahen.

Zurück im Saal, musste ich mich kurz orientieren, wo ich Amy zurückgelassen hatte. Hier war es plötzlich leer, doch auf der Partyfläche tummelten sich die Feiernden wie Sand am Meer.

Ah, da war sie ja! Entschlossen wollte ich mich auf den Weg machen, doch so weit kam ich gar nicht. Der offensichtlich betrunkene Timur lief auf mich zu, um an meiner Schleife zu zupfen. Daraufhin legte er seine Hand auf meine Schulter.

»Lass mich los, Idiot!«

Als er nicht auf meine Ansage reagierte, schlug ich ihm auf die Finger und wiederholte meine Anweisung auf Spanisch: »Suéltame, idiota!«

Statt auf meine Aufforderung zu reagieren, begann er nun meine Schulter zu streicheln. Angst stieg in mir auf und meine Knie wurden weich. Wieso fiel mir erst jetzt auf, wie groß und stark er eigentlich war?

»Wartet Amy nicht auf dich?«, versuchte ich an Timurs Gewissen oder Moral zu appellieren. Irgendetwas davon musste doch auch bei ihm vorhanden sein.

»Du siehst total heiß in diesen spießigen Klamotten aus. Das war übrigens super erotisch, als du deinen piruleta, du weißt schon, als du ihn abgeschleckt hast«, sagte er erstaunlich klar. Dann glitten seine Finger hoch zu meinem Hals.

»Lass mich los!«, schrie ich ihn an, während er sich mir weiter näherte. Ich schaute an ihm vorbei und bemerkte, dass die Party-Security auf uns aufmerksam geworden war und auf uns zueilte.

Timur beugte sich zu mir hinunter, als ob er mich küssen wollte. »Du bist viel heißer als deine Freundin.«

Meine Beherrschung hatte ein Ende. Ich trat Timur zwischen die Beine, während ich ihm gleichzeitig in den Bauch boxte. Schmerzerfüllt schrie er auf und ließ sofort von mir ab und augenblicklich beruhigte sich mein Puls etwas.

Endlich kam der stämmige Mann von der Security an und packte den wimmernden Timur an den Schultern. Mit der freien Hand bediente er sein Walkie-Talkie und rief eine Kollegin zu sich.

Während der Mann Timur nach draußen manövrierte, fragte mich die Frau: »Haben Sie irgendwelche Verletzungen?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte meine Atmung zu kontrollieren. »Ich denke, ich stehe nur etwas unter Schock.«

Die Frau nickte verständnisvoll. »Wollen Sie etwas trinken oder soll ich Ihnen etwas anderes holen?«

»Nein, danke.« Ich setzte mich hin und nahm zehn tiefe Atemzüge. Nach und nach sank mein Adrenalinspiegel und ich wischte meine schwitzigen Hände an der Hose ab.

»Wenn Sie Anzeige erstatten wollen, kann ich gern die Polizei für Sie rufen.«

Erneut schüttelte ich den Kopf. »Das ist nicht notwendig. Vielen Dank.«

Ich richtete mich wieder auf und bemerkte, dass Draven auf mich zugeeilt kam. Ihn jetzt auf mich zukommen zu sehen, beruhigte mich etwas.

Ganz außer Atem erreichte er mich und sah mich besorgt an. »Was ist passiert, Valery? Ich habe nur mitbekommen, dass die Security Verstärkung gerufen hat.«

»Draven, fahr mich bitte nach Hause«, forderte ich ihn auf.

»Sind Sie sicher, dass ich nichts mehr für Sie tun kann?«, fragte mich die Frau mit einem Blick auf Draven gerichtet. »Ich kann Ihnen auch ein Taxi rufen, wenn Sie das wünschen.«

»Nein, vielen Dank. Ich bin jetzt in guten Händen.«


»Jetzt sag schon, was passiert ist.« Dravens Stimme war ungewohnt dominant.

»Lass mich erstmal eine Sekunde durchatmen.« Wie um mir ein Gefühl von Sicherheit zu geben, schnallte ich mich an, obwohl wir noch nicht fuhren. Dann berichtete ich: »Als ich aus der Toilette kam, hat Timur mich bedrängt.«

Sofort riss Draven die Augen auf und legte seine Hand auf meine. Im Gegensatz zu Timurs fühlte sich seine Hand sehr gut an und meine Unruhe tropfte allmählich von mir herunter wie Regen.

»Zum Glück konnte ich ihn aufhalten, bevor es zu schlimm wurde. Gut, dass mich George damals zu diesem Selbstverteidigungskurs gezwungen hat.«

»Das tut mir so, so leid.«

»Da kannst du doch nichts für. Schließlich begleite ich dich auch nicht zur Toilette.«

»Wie geht es dir jetzt?«, fragte er bedächtig.

Ich seufzte leise auf. »Natürlich stehe ich unter Schock, aber es geht mir gut. Ich bin jetzt einfach etwas zu durcheinander, um zu fahren.«

»Natürlich bringe ich dich nach Hause.« Dravens Blick verließ meinen für einen Augenblick. »Wenn das Timurs Betreuungslehrer vom Austausch mitkriegt, kann er sich warm anziehen. Ich wusste die ganze Zeit nicht, was ich von ihm halten soll. Offensichtlich war es vernünftig von dir, ihn und Amy wie eine Verrückte zu stalken.«

»Amy!«, rief ich aus. »Ich bin so eine schlechte Freundin. Ich habe sie einfach auf der Party gelassen, ohne etwas zu sagen.«

Draven drückte meine Hand etwas fester. »Du bist keine schlechte Freundin. Du stehst unter Schock. Möchtest du, dass ich sie hole und auch nach Hause fahre?«

Vorsichtig schüttelte ich den Kopf. »Ich bin glaube, ich bin noch nicht dafür bereit, mich mit Amy auseinanderzusetzen. Die Nachricht wird sie total treffen, aber gerade brauche ich selbst meine Ruhe.« Nachdenklich biss ich auf meiner Unterlippe herum. »Ihre Mutter macht sie fertig, wenn Amy sie anruft, um abgeholt zu werden.«

»Mein Kumpel Luke fährt sie bestimmt nach Hause«, schlug Draven vor.

»Echt?«, fragte ich.

»Ja, ganz bestimmt. Mach dir da keine Gedanken. Der ist echt anständig!«

Ich stimmte zu und war froh, dass Draven im Gegensatz zu mir noch den Überblick behielt. Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und tippte erst eine kurze Nachricht, die offenbar an Luke ging.

»Ähmm, brauchst du Amys Nummer?«, fragte ich, froh darüber nicht selbst mit ihr reden zu müssen.

Draven grinste kurz und schüttelte den Kopf. »Die hat sie mir schon längst gegeben.«

»Natürlich«, murmelte ich. »Ich vergaß, von wem wir reden.«

Draven nickte, wählte ihren Kontakt und stellte das Handy auf Lautsprecher. »Hallo, Amy? Ich bin‘s, Draven.«

Ich ließ ihn machen. Schließlich hatte ich mich gerade verteidigt und musste mich erst einmal richtig beruhigen.

Zuerst fasste Draven die Lage zusammen und schlug ihr vor, dass Luke sie nach Hause fuhr und beschrieb, wo er auf sie warten würde. Am anderen Ende der Leitung war nur noch ein Weinen zu hören.

»Ist Valery okay?«, fragte sie schließlich.

Draven schaute mich kurz fragend an und ich nickte ihm bloß zu. »Ja, sie ist okay. Ich fahre sie jetzt nach Hause, damit sie sich von ihrem Schock erholen kann.«

Ein paar Sekunden kam nichts, dann flüsterte Amy: »Ich wusste von Anfang an, dass du kein Kaktus bist, Draven.«


Draven schien sich an den Weg in die Pampa zu erinnern. Anscheinend war ich nicht die Einzige, die sich gern Details merkte. Stumm lauschte ich den Geräuschen und seinem Atem, der sich langsam beruhigte, als wir die Stadt verließen. Die Landschaft zog an uns vorbei und in mir wuchs das Bedürfnis, etwas zu sagen.

»Danke, Draven«, flüsterte ich irgendwann.

Er nickte nur.

»Nein, ernsthaft«, beharrte ich. »Ich bin froh, dass du jetzt für mich da bist.«

Draven lächelte mich beim Fahren an. »Für dich doch immer.«

Meine Gedanken kreisten weiterhin um Timurs Übergriff. Laut dachte ich nach: »Stell dir vor, ich hätte ihn nicht aufgehalten. Wer weiß, was er noch probiert hätte. Das wäre der schlimmste erste Kuss der ganzen Welt geworden.«

»Glaub nicht, dass ich dir das abnehme«, entgegnete er ungläubig lachend.

»Wieso denn nicht?«

Draven schüttelte den Kopf, nur, um kurz darauf zu nicken. »Du hast recht. Ich glaube eher dir, als dem Jungen, der mir in der Sportumkleidekabine erzählt hat, dass er mit dir im Biologiesaal rumgeknutscht hat. Mann, war ich eifersüchtig, als er damit angegeben hat.«

»Wer?«, schnaubte ich.

»Keine Ahnung, wie der heißt. Aber von solchen Gerüchten darfst du dich nicht runterziehen lassen.«

Ich seufzte hörbar auf. »Glaubst du, dass ich mich durch diese Geschichte besser fühle?«

»Tut mir leid«, murmelte er. »Aber ich war schon immer ehrlich zu dir.«

Nach diesem Gespräch schwiegen wir, doch es war ein angenehmes Schweigen. Die Ruhe und die monotonen Motorgeräusche waren sogar entspannend.


Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn der Wagen war schon geparkt, als ich meine Augen wieder öffnete.

»Ich finde es ziemlich gruselig, dass du mich beim Schlafen beobachtest«, warf ich Draven an den Kopf. Ich würde ihm bestimmt nicht erzählen, wie sicher ich mich mit ihm fühlte.

Er lachte auf.

»Sag mir jetzt nicht, dass du das Schlafen faszinierend findest, weil Vampire nicht schlafen«, forderte ich.

Draven grinste mich an und stieg sofort ein: »Natürlich! Es dürstet mich nicht nur nach deinem Blut, sondern auch nach der Zuneigung deiner Schlange.«

»Du bist verrückt«, stellte ich klar.

»Und du bist ganz normal«, entgegnete Draven trocken.

»Ich habe jetzt echt Hunger«, gab ich mit der Hand am Türgriff zu.

»Soll ich dir einen Kuchen backen?« Er zwinkerte aufmunternd.

»Nur über meine Leiche.«

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, deswegen bat ich Draven erst einmal rein. In den letzten Wochen war ich sicherlich unhöflich rübergekommen und wenn ich ehrlich war, wollte ich jetzt nicht allein sein.

Dieses Mal war es beinahe natürlich, ihn mit ins Haus zu bringen. Wir zogen unsere Schuhe aus und ich steuerte in Richtung Küche. Mein knurrender Magen brachte mich dazu, eine Schüssel Cornflakes zu essen. Draven lehnte dankend ab.

Ich war immer noch etwas neben der Spur. Das bemerkte ich, als ich plötzlich in meinem Zimmer stand und mich nicht einmal daran erinnerte, die Treppe hochgegangen zu sein. Mit meiner Stärkung legte ich mich bäuchlings auf mein Bett. Eine bekannte Umgebung würde mich wieder aufbauen.

Draven setzte sich wie selbstverständlich auf den Boden vor Spaghettis Terrarium.

»Das ist mein Lieblingsplatz in deinem Zimmer«, erklärte er, als er meinen fragenden Blick bemerkte.

Überrascht lachte ich. »Ich habe auch schon eine Top-Ten- Liste an Lieblingsplätzen in deinem Haus gemacht. Top one ist –«

»Mein Bett?«, erkundigte er sich. »Sorry, solche Witze kannst du jetzt wohl nicht gebrauchen.«

Während ich die letzten Löffel von meinen Cornflakes aß, gab ich schnippisch zurück: »Nein, Platz eins ist direkt vor dem Schrank, in dem ihr eure Süßigkeiten aufbewahrt.«

Die leere Schüssel stellte ich auf meinen Nachttisch. Dann rutschte ich näher an das Fenster, das direkt über meinem Bett war. Draußen war es schwarz. Rabenschwarz.

»Die Nacht ist kohlrabenschwarz«, flüsterte ich.

Für heute war es geschafft, hier war ich in Sicherheit. Doch in der Dunkelheit geschahen jeden Augenblick schreckliche Dinge.

»Vielleicht hätte ich ihm die Nase blutig schlagen sollen, statt ihn in dem Bauch zu boxen«, überlegte ich.

»Warum das? Schließlich war das ziemlich effektiv.«

Ich nickte zustimmend. »Das stimmt schon, aber mit einer blutigen Nase, hätte er jedem die nächsten paar Wochen erklären müssen, woher er die hat.«

»Da hast du natürlich recht. So weit habe ich jetzt gar nicht gedacht.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich das hinkriegen würde. Aber es gibt auf YouTube bestimmt ein Erklärungsvideo dafür.« Durch diese Vorstellung gut gelaunt, lachte ich Draven an.

»Ist doch schön, dass du wieder Witze machen kannst.«

»Das war kein Witz. Ich möchte wirklich wissen, ob ich das kann.«

»Zu Demonstrationszwecken würde ich mir von dir jederzeit die Nase blutig schlagen lassen«, versprach er.

Wie romantisch.

Die Friedensformel

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