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Bremer hatte ruhig und traumlos geschlafen und wurde erst von der Sonne geweckt, die durch die dünnen Gardinen vor dem Schlafzimmerfenster drang. Er räkelte sich noch eine Weile im Bett, bevor er aufstand, um zum Briefkasten zu gehen. Katzenfährten durchkreuzten die Schneedecke im Garten, und unter den Meisenringen lagen Körnerreste. Auf der Kreuzung vor Bremers Haus war das halbe Dorf versammelt. Überwiegend die männliche Hälfte, besser gesagt.

Er sah den Friedhofsweg hoch, dorthin, wo das Haus der Reglers lag. Keine Rauchfahne über dem Haus. Wahrscheinlich war Regler wieder nach Hause gefahren. Oder endlich zum Arzt gegangen.

Bremer holte die Zeitung aus dem Briefkasten und lehnte sich ans Gartentor.

»Sie ist doch noch ein Kind!« Mariannes Stimme klang abwehrend. Irgend jemand antwortete ihr, ein Mann, er konnte die Stimme nicht mit einer Person verbinden. Marianne hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt, die blonden Locken sträubten sich auf ihrem Kopf. Unsere kampfbereite Löwin, dachte Paul. Ausgerechnet der sonst so schüchterne und seiner Sabine und den drei Kindern völlig ergebene Alexander wagte ihr jetzt zu widersprechen, leicht nach vorn gebeugt, die Hände in der Jackentasche versenkt, eine Mütze mit heruntergeklapptem Ohrenschutz auf dem Kopf.

»Sie ist ein frühreifes, verwöhntes Balg! Und die Eltern sind nicht besser!«

»Die Weiber rechnen immer mit dem Schlimmsten. Dabei weiß man doch, daß das Mädchen eine Herumtreiberin ist!« Und das mußte Sascha mit der Dieter-Bohlen-Welle sagen, der auch nicht gerade als Chorknabe galt.

Marianne sah von einem zum anderen. »Und was war mit Vanessa? Was mit Manuela?« Das waren die Trümpfe. Die beiden Mädchen waren keine koketten Herumtreiberinnen gewesen. Aber jemand hatte sie aufgelesen, verschleppt, vergewaltigt, ermordet.

»Das ist etwas anderes!« Alexander schien wieder geschrumpft zu sein.

»Wie auch immer: Ich jedenfalls kann nicht bei jedem Scheiß nachts durch den Schnee waten, danach alle halbe Stunde von Sohnemann aufgeweckt werden und pünktlich um 5 Uhr ins Auto nach Frankfurt steigen! Ich mach den Zirkus nicht mehr mit!« Sogar Christines Mann Jan wagte die offene Rebellion.

»Annamaria will, daß wir nach Frankfurt fahren, wenn mal was ist mit den Blagen – nur wegen der Zeitungsberichte über diesen Dr. Regler. Dabei ist dem Mann doch gar nichts nachzuweisen!« Annamarias Gatte wurde rot im Gesicht, während er sprach. Er redete selten.

»Willst du künftig jeden Sonntag auf den Friedhof gehen, um deinen Sohn besuchen zu können?« fragte plötzlich eine Stimme, mit der man Tischtücher zerschneiden konnte. Christine stand hinter Jan und funkelte ihn vorwurfsvoll an.

Keiner wagte mehr etwas zu sagen.

»Tamara ist wieder da«, sagte Gottfried schließlich, »ihre Mutter ist beruhigt, und euch allen hat der Marsch durch die frische Luft nicht geschadet. Lieber einmal zuviel als einmal zuwenig.«

»Wir hätten uns bis ans Ende aller Tage Vorwürfe gemacht, wenn wirklich etwas passiert wäre«, murmelte Zafer. Dazu fiel niemandem mehr etwas ein.

Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Tamara ließ sich vorsichtshalber nicht blicken im Dorf. Die drei Hüter der freien Straße kehrten weiterhin jeden Tag, egal, ob es schneite oder nur rieselte. Eines Tages lag eine Ansichtskarte aus Kuala Lumpur in Bremers Briefkasten. Von Anne. Von irgendeinem Weltkongreß für Weltverbesserung. Die Arbeit am Buch näherte sich ihrem Ende. Nemax hatte eine Vorliebe für Spaghetti mit Parmesankäse entwickelt. Der Deutsche Aktienindex legte zu und drehte wieder ins Minus. Carmen wurde aus dem Krankenhaus entlassen, ließ das Kind bestaunen und sagte: »Klar heißt du Schooon, gell, Möpselchen?«

Und eines Abends...

Nemax war schon seit Stunden unruhig. Alle naselang wanderte das Tier zum Fenster, lief unschlüssig zur Katzenklappe und wieder zurück oder schnüffelte an der Haustür. Schließlich hatte Bremer ein Einsehen und ging mit dem Kater vor dem Schlafengehen noch einmal hinaus. Nemax trat von einem Bein aufs andere, tupfte die Vorderpfote in den nicht mehr ganz so frisch aussehenden Schnee, stieß ein ungeduldiges Quarren aus und streckte das Näschen in die Luft. Eine Windbö fegte über das Gemüsebeet. Bremer bückte sich und griff in den Schnee. Er war schwer und naß. Am Himmel rasten die Wolken vor einem blendenden Mond.

Bremer grüßte hinauf und ging wieder ins Haus. Er lauschte auf das Knacken der alten Balken und Dielen des Hauses, dachte an Anne, fragte sich, was Thomas Regler machte und wieso dessen Frau sich nicht mehr blicken ließ und ging ins Bett.

Er schlief unruhig. Der Sturm wiegte das Haus, und irgendwann begann es zu regnen. Als er am nächsten Morgen die Haustür öffnete, stand das Wasser auf der Straße und die Meisen schimpften im Apfelbaum. Der Schnee auf dem Gemüsebeet war zu schmutziggrauen Flecken zusammengeschnurrt, die Schneewälle am Straßenrand eingefallen. Er sah zu, wie braunes Wasser in den Gully stürzte, vor dem sich eine zerquetschte Coladose, ein Kinderstrumpf, die Reste einer toten Ratte und mehrere Zellophanhüllen von Zigarettenschachteln angesammelt hatten.

Am Nachmittag fuhr Ortsvorsteher Wilhelm mit der Kehrmaschine durchs Dorf.

Am Tag darauf fiel ein Kind unter großem Geschrei aus dem Kinderwagen, während sein pflichtvergessener Vater auf der Straße stand und mit den Nachbarn die kommende Fußballsaison diskutierte.

Am Abend hörte Bremer von Gottfried, daß Krista Regler schon seit einer Woche im Krankenhaus lag. Die Bekannte des Neffen eines befreundeten Züchters war Aushilfsschwester dort. Man hatte Krista im Wald gefunden, im Auto sitzend, fast erfroren. Niemand durfte sie besuchen, auch nicht ihr Mann.

Und am Tag darauf kam die Polizei.

Schneesterben

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