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Feldern

Es nahm ihm die Luft. Man hielt ihn für ein Monster.

Dr. Thomas Regler verordnete sich, gleichmäßig zu atmen. Er hatte den kleinen David auf dem Gewissen, glaubte alle Welt. Krista lag im Krankenhaus, daran war er wahrscheinlich auch schuld. Und wer weiß, woran sonst noch, wenn man nach dem ging, was die Polizei anzunehmen schien. Er hob die Hände vors Gesicht und sah mit zunehmender Fassungslosigkeit, daß sie zitterten. Sie waren gepflegt, wie immer. Der Schnitt an der rechten Hand war sauber verheilt. Die andere Hand sah zwar furchtbar aus, aber das würde schon werden. Doch daß sie zitterten, die Hände, ohne die er seinen Beruf an den Nagel hängen konnte...

Aber hing er da nicht längst?

»Wo waren Sie am Dienstag vor einer Woche?« hatte der Mann von der Kriminalpolizei vorhin gefragt. Nicht, daß man ihn verhören wolle – aber es gebe da einige, nun ja, also: Unklarheiten.

Kein Problem. Die beiden Beamten hatten gelächelt, er hatte gelächelt. Den letzten Dienstag wußte er auswendig. Den Tag würde er nie in seinem Leben vergessen.

Schon morgens hatte ihn die Küche empfangen, als wäre länger niemand dagewesen. Es roch nach Abwesenheit und Abfalleimer. Am liebsten hätte er Krista geweckt, um nicht allein frühstücken zu müssen.

Er hatte die Espressomaschine eingeschaltet und das Müsli aus dem Regal geholt. Draußen wartete die Finsternis eines Februarmorgens. Und wenigstens einer von ihnen beiden sollte ausschlafen dürfen.

Die Espressomaschine lärmte, aber kein Tropfen rann in die Tasse. Der Schacht für die Bohnen war leer. Und der Joghurt aus dem Kühlschrank – er hatte nur dran riechen müssen. Muffig. Frustriert ließ er Tasse, Müslidose und Joghurt auf dem Küchentisch stehen. Kauf doch mal wieder ein, Krista, hatte er noch gedacht. Du bist dran. Und mit kindischem Trotz hatte er die Küchentür geräuschvoll hinter sich ins Schloß fallen lassen.

Das Krankenhaus war hell und warm und im Vergleich geradezu einladend gewesen. In seinem Zimmer schlüpfte er aus Windjacke und Pullover, zog den Kittel über und fuhr sich vor dem Spiegel durch die Haare, die wieder mal nicht dem Haarschnitt, sondern irgendeiner Chaostheorie zu folgen schienen. »Dr. Thomas Regler« war auf die Brusttasche des Kittels gestickt. Damals, als er hier anfing, hatte er immer, wenn er den Schriftzug las, dieses Ziehen in der Brustgegend gespürt. Mußte wohl Rührung gewesen sein. An diesem Morgen saß das Ziehen in der Magengegend und ging in ein heftiges Brennen über, als er im Spiegel etwas auf dem Schreibtisch liegen sah. Er drehte sich zögernd um. Jemand hatte ihm eine Zeitung auf den Tisch gelegt, aufgeschlagen. Mit ein paar Schritten war er beim Schreibtisch. Das Bild. Die Schlagzeile. Damit war zu rechnen gewesen. Dennoch erwischte es ihn wie ein Schlag auf den Solarplexus.

»Könnte der kleine David noch leben?«

In hilfloser Wut hatte er das Blatt von der Platte gewischt. Dabei konnte er es den Journalisten noch nicht einmal verdenken. Der Tod David Ferbers gehörte zum Schlimmsten, was sich ein Kinderarzt vorzustellen vermochte. Das Unglück war keineswegs unabänderlich gewesen – aber er wußte auch heute noch nicht zu sagen, wie man den Tod des Kindes hätte verhindern können. Dem Jungen wurde der Blinddarm entfernt, eine Routineoperation, alles verlief normal. Und plötzlich lag der Kleine im Koma.

Ich habe getan, was ich konnte, dachte er. Wir haben getan, was wir konnten. Niemand hatte Anlaß, mit einem allergischen Schock zu rechnen. Vielleicht – wenn Zorko früher reagiert hätte? Er verachtete sich für den Gedanken, kaum war er gedacht. Wie könnte die mögliche Mitschuld eines anderen ihn jemals entlasten? Er war der operierende Arzt gewesen und der Narkosearzt sein Untergebener. Er trug die Verantwortung.

Wir haben getan, was wir konnten. Wie oft er das in diesen Tagen und Wochen wiederholt hatte. Er sah Sonja Ferber vor sich, das breite, blasse Gesicht unter den matten Haaren, die Augen rot geschwollen. »Mein Kind ist tot! Und Sie tun, als ob ... als ob...«

Was sagt man einer trauernden Mutter? Mir geht es auch ziemlich dreckig, weil ich mir lange vor dem ärztlichen Eid geschworen habe, niemals zuzulassen, daß einem Kind etwas passiert, wenn ich es irgend verhindern kann?

Er hatte auf sie eingeredet mit Engelsgeduld und Engelszungen. Davids Tod war ein bedauerliches Unglück, schrecklich, aber nicht abzuwenden. Fast hätte er sogar sich selbst endlich überzeugt. Dann stand Berti Ferber in der Tür, hochrot im Gesicht. »Lassen Sie meine Frau in Ruhe!« Mit ein paar Schritten war er neben ihr, seine Finger schienen sich in den Oberarm der Frau zu graben. Thomas war zurückgewichen.

Ferber war aggressiv und betrunken gewesen. Und diesen Mann hatte die Trauer offenbar unempfänglich gemacht für irgendeinen Zweifel – gar noch an sich selbst. Berti Ferber kannte kein bedauerliches Unglück, keine Verstrickung ungünstiger Umstände, keinen folgenschweren Zufall, kein Schicksal. Der Mann wußte sofort, wer schuld war am Tod seines Sohnes. Die pädiatrische Abteilung des Heiliggeistkrankenhauses und Oberarzt Dr. Thomas Regler.

Alle, die man auf Schadensersatz verklagen kann, dachte Thomas bitter.

Damals hatte er Verständnis für Berti Ferber gehabt – was sagt und tut ein Vater nicht alles, dessen Kind tot ist? Und wer war er, Thomas Regler, daß er einen Fehler würde ganz und gar ausschließen können?

Aber heute glaubte er zu wissen, daß Ferber zu den Leuten gehörte, die das Leben grundsätzlich ungerecht finden und die Schuld dafür immer bei anderen suchen. Berti Ferber hatte die Presse alarmiert, Anwälte für eine Klage mobilisiert. Wahrscheinlich lebte er mittlerweile von den Spendengeldern, für die man ihm ein Konto eingerichtet hatte.

Am Dienstag vor einer Woche, am Tag, an dem das Leben aus den Fugen geriet, hatte er noch gedacht: Laß Berti Ferber seine Trauer auf seine Weise verarbeiten. Und solange die Abteilung hinter dir steht...

Aber wer hatte die Zeitung auf den Tisch gelegt?

Im Hinausgehen war sein Blick zu den beiden Kunstdrucken an der Wand gegangen, die Schwester Ayse dort hingehängt hatte. Er hatte die Bilder noch nie gemocht, sie zeigten zwei Kinder mit buntbemalten Clownsgesichtern, das eine zog die Mundwinkel hoch zu einem störrischen Grinsen, das andere ließ sie mit übertriebenem Mißmut hängen. An jenem Tag kamen sie ihm wie boshafte Racheengel vor.

Als er auf den Flur trat, fuhren Ayse, Schwester Annett und Schwester May auseinander und lächelten verlegen. Er lächelte zurück, obwohl ihm nicht danach zumute war, und ging ins Ärztezimmer zur Morgenbesprechung.

Es war nicht viel los gewesen an diesem Tag, die zweijährige Simra wurde zur Nachuntersuchung erwartet und die Mutter von Marie wollte vor der Operation beruhigt werden. Während der Visite verströmten alle gute Laune, sogar Zorro (der normalerweise treffende Spitzname von Assistenzarzt Zorko Kos) – bis, ja bis die kleine Marie bei Reglers Anblick zu weinen begann und ihre Mutter schützend den Arm um das Kind legte.

In dem Moment war es wieder dagewesen, das Ziehen in der Magengrube. Und als er Schwester Ayses Gesicht sah, die es fertigbrachte, schuldbewußt und vorwurfsvoll zugleich zu gucken, so als wollte sie sagen: Siehst du! Alle Kinder haben Angst vor dir! – da wußte er, daß nicht nur er und Berti Ferber an ihm zweifelten. Seine Abteilung stand nicht hinter ihm. Jedenfalls nicht alle.

Bei einem völlig harmlosen Anlaß, als einem Vierjährigen der Verband entfernt werden sollte, explodierte die Situation. Ayse hielt ihm das Skalpell hin, mit dem er einen verkrusteten Teil der Binde abheben wollte, wie immer so, daß er blind danach greifen konnte. Aber irgend etwas mußte sie abgelenkt haben, in der letzten Sekunde zog sie die Hand zurück. Er faßte in die scharfe Schneide. Und obwohl sie sich bemühte, das Blut zu stillen und sich fast untertänigst entschuldigte, war ihm endlich der Kragen geplatzt.

»Was ist hier eigentlich los? Funktioniert diese Abteilung noch, oder entwerft ihr gerade die nächste Zeitungsschlagzeile?« Man mußte ihn bis zu Abteilung III am anderen Ende des Flurs gehört haben.

Zorko klammerte den Schnitt in die empfindlichen Kuppen von Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Thomas sah ihn vor sich, den rötlichen Schopf des Assistenzarztes, durch den die Kopfhaut schimmerte.

»Wird wohl nichts mit der OP morgen«, hatte er zu ihm gesagt. Ein Fünfjähriger, Emre, der Liebling der ganzen Abteilung, sollte am Darm operiert werden. Eine nicht sehr schwierige, aber auch nicht sehr einfache Sache.

»Sieht nicht gut aus«, murmelte Zorko, ohne aufzusehen.

Thomas seufzte. »Was geht hier vor, Zorro, alter Kumpel?« fragte er endlich.

»Die Nerven liegen ein bißchen blank, sonst ist nichts.« Zorko räusperte sich, bevor er weitersprach. »Nach dem ersten Medienaufschrei wird sich das schon legen. Und die Untersuchung – was können sie dir schon vorwerfen?«

Ja, was können sie mir vorwerfen, hatte er sich noch in aller Unschuld gefragt. Niemand hatte wissen können, daß der Junge so empfindlich reagieren würde. Und seine eigenen Zweifel gingen keinen Untersuchungsausschuß etwas an.

»Weißt du, Zorro...« Ob der andere verstand, was ihn quälte? Welche Selbstzweifel, welche Gewissensbisse? Thomas hatte aufgesehen, direkt in die Augen Zorkos. Und erst nicht glauben können, was er in ihnen sah: Schadenfreude. Dann senkte der andere den Blick.

So war das also.

»Ich geh wohl besser.« Er hatte gehofft, daß der Kollege das Zittern in seiner Stimme nicht hörte.

»Erhol dich«, murmelte Zorro. »Ich komm’ schon klar.«

»Da bin ich mir sicher.« Thomas ging in sein Zimmer.

Sollte er Krista anrufen? Er hob die Zeitung vom Boden auf und warf sie in den Papierkorb.

Wozu.

Dann zog er sich um und verließ die Abteilung – seine Abteilung. Es hatte, glaubte er heute, sich damals schon irgendwie endgültig angefühlt.

Das Auto stand auf dem Parkplatz, unter einer weißen Schneehaube. Er fegte mit dem Stadtplan von Frankfurt die Scheiben frei. Es schneite sanft und leicht, wie nebenbei. Es schneite beharrlich. Im nachhinein kam es ihm vor, als ob es über Wochen und Monate, als ob es immer geschneit hätte.

Thomas verschränkte die Arme vor der Brust. Ihm war kalt.

»Wenn Sie das Krankenhaus um elf Uhr verlassen haben, dann hätten Sie doch spätestens um elf Uhr dreißig zu Hause gewesen sein müssen«, hatte der junge Polizist gesagt. Gümüs, Kriminalkommissar Atilla Gümüs. »Wie Gemüse, nur mit zwei ü und ohne e.« Thomas hatte sich bemüht, über den Witz zu lächeln. Der zweite Beamte, ein wesentlich älterer Mann, groß, schlank, fast dürr, mit Boxernase und zerknittertem Gesicht, sagte gar nichts, aber schrieb alles mit.

»Sie hätten also...«

Hätte. Hätte. Der erste Stau hielt ihn schon am Stadtausgang fest. Ein Kleintransporter war bei einem Überholmanöver auf der Gegenfahrbahn gelandet und blockierte die Spur. Vor der Abzweigung zum Schloß lag ein BMW im Graben – hinter einem havarierten VW-Bus. Und so ging es den Rest der Strecke weiter. Im Radio las eine gutgelaunte weibliche Stimme minutenlang Staumeldungen vor. Er hatte kaum hingehört. Seine Hand tat weh. Nur der Gedanke, daß er sich so bald eine Operation nicht würde Zutrauen dürfen, tröstete ihn.

Wer nichts macht, macht auch nichts falsch.

Auf der Bundesstraße fuhren die Autos im Schrittempo. Thomas lenkte sich ab mit dem Gedanken an ein warmes, hellerleuchtetes Wohnzimmer, an ein Glas Malt-Whisky und ein Zigarillo. Und an Krista.

Als er endlich in den Eulenweg eingebogen war, kam es ihm so dunkel vor wie früh im Morgengrauen. Der Nachbar hatte den Schnee zur Seite geschoben und zu einem grauweißen Wall aufgeschichtet – bis direkt vors Gartentor der Reglers.

Thomas fühlte beim bloßen Gedanken daran ohnmächtigen Zorn in sich aufsteigen. »Lieber Herr Langer, wir wohnen hier«, hatte er dem alten Herrn noch am Tag zuvor gesagt. »Sie können doch nicht unser Haus verbarrikadieren!«

»Bei Ihnen ist doch nie jemand zu Hause! Und Sie könnten auch mal...«

Schneeschippen. Die Straße kehren. Die Hecke schneiden. Die Mülleimer von der Straße räumen. Das Auto in die Garage fahren. Die Vorhänge zuziehen.

»Ob und wann wir zu Hause sind, geht Sie überhaupt nichts an!« Thomas war laut geworden. Der liebe Nachbar hatte fein gelächelt und ihm den Rücken zugekehrt. Was der wohl der Polizei erzählt hatte? Die Wahrheit? Denn es stimmte ja. Wann war schon jemand zu Hause? Thomas nicht. Und Krista auch nicht.

Die kalte Nässe war ihm in die Schuhe gekrochen, während er sich den Weg zum Haus bahnte. Der Schnee bedeckte den Gartenweg, verhüllte die Büsche, hatte dem Briefkasten eine Kappe aufgesetzt. Das Haus wirkte so wie Stunden zuvor – unbelebt.

»Krista?« Er lief die Treppe hoch und öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Sie war nicht da, der Raum roch ungelüftet. War sie in der Nacht überhaupt zu Hause gewesen? Als er die Treppe wieder hinunterging, langsamer diesmal, sah er die Spuren seiner nassen Schuhe auf dem Treppenläufer und auf dem Parkett. Wie egal ihm das plötzlich war.

Er griff sich den Stapel Briefe vom Flurtisch und ging wieder in die Küche. Im Kühlschrank lag eine letzte Flasche Bier. Er drehte die Heizung hoch, setzte sich an den Küchentisch, goß sich ein und blätterte durch die Post. Die Telefonrechnung. Der Bittbrief einer karitativen Organisation. Die Mahnung vom Schornsteinfeger. Nachricht von seinem alten Kollegen Becker, die er erst jetzt bewußt wahrnahm, obwohl er den Briefumschlag schon gestern aufgemacht haben mußte. Er hatte sich zurückgelehnt und einen tiefen Zug aus dem Bierglas genommen.

Krista, wo bist du? Er war drauf und dran gewesen, nach ihr zu rufen. Komm her. Sei bei mir.

Und dann hatte er sich vor seinem Selbstmitleid in Wut geflüchtet. Warum war sie eigentlich nicht da, wenn er sie brauchte? Was war wieder einmal wichtiger? Mitgliedsbeiträge einsammeln für die Freiwillige Feuerwehr? In der Buchhandlung aushelfen, sich mit anderen gebildeten Damen über die neuesten Bestseller austauschen? Hatte sie wieder jemand dazu überredet, eine Lesung zu organisieren oder einen Gesangsabend? Eine Benefizveranstaltung für die Diakonie oder eine andere würdige Organisation?

Immer engagiert, das ist Krista Regler. Und dann kommt ihr nichtsnutziger Ehemann auch noch verfrüht nach Hause und beklagt sich darüber.

In hilfloser Frustration hatte er die verbundene rechte Hand auf die Tischplatte fallen lassen. Der Schmerz fuhr ihm durch alle Nervenfasern. Nur mühsam kämpfte er die Übelkeit nieder. Er kippte das Bier hinunter, holte die Flasche Balvenie vom Regal und schenkte sich einen Whisky ein.

Es gab keinen Grund für seinen Zorn. Krista konnte nicht wissen, daß er schon so früh nach Hause kommen würde. Und daß er keine Ahnung hatte, wo sie sein könnte, lag nicht an ihr. Er interessierte sich selten für ihre Aktivitäten. Wenn er für den Nachtdienst eingeteilt war, sahen sie einander oft tagelang nicht. Und manchmal vergaß er sogar, daß sie hatte verreisen wollen – zu ihrer Mutter. Oder...

Oder – sie war ins Häuschen gefahren, in das kleine Bauernhaus auf dem Land, das sie sich in den letzten beiden Jahren hergerichtet hatte. Und um das sie sich liebevoller kümmert als um unser Haus hier, hatte er gedacht – angesichts der vertrockneten Primeln auf dem Tisch und der Kaffeeflecken an der Wand neben dem Ausguß.

Aber was ging das die Polizei an? Nichts. Und erst recht nicht, daß er dem Bier und dem ersten Glas Whisky noch eins hinterhergeschickt und dann vergeblich nach ihr gefahndet hatte. Das Handy war ausgeschaltet. Und die paar gemeinsamen Freunde hatten auch nichts von ihr gehört.

Wann er sich beruhigt hatte? Keine Ahnung, Herr Kommissar. Irgendwann jedenfalls hatte er sich die wasserfesten Stiefel über die Jeans gezogen und die Lammfelljacke aus dem Schrank geholt. Es schneite wieder – oder immer noch -, als er sich ins Auto setzte. Naiv hatte er angenommen, man habe geräumt oder gestreut, nicht nur auf den Autobahnen, auch auf den Nebenstrecken in die Berge. Dann fuhr er los.

Im Auto endlich hatte er sich umhüllt gefühlt von Wärme und Vertrautheit. Das Licht von Armaturenbrett und Radiokonsole erhellte das Wageninnere wie ein verglühendes Kaminfeuer. Und es roch nach Krista. Normalerweise fuhr sie den Jeep und er das Kabrio, aber wegen des Schnees hatten sie die Autos getauscht – er mußte täglich zur Arbeit, und bei diesem Wetter war der Jeep sicherer. Er schaltete den CD-Spieler an. Eric Satie. Das war ihre Musik. Hastig schaltete er um auf das Radio. Nur nicht sentimental werden. Die Nachrichten – von Schneekatastrophen war zu hören, von Staus auf den Autobahnen im Süden und Südwesten, von Erfrorenen in Polen und Rußland, von einer Hitzewelle mit Buschbränden in Australien -, die Nachrichten ließen ihn ungerührt. Doch dann, irgendwann, spielten sie ein Lied, ein uraltes Lied, das er als Kind geliebt hatte und das damals schon ein Oldie war.

God only knows. God only knows what I’d be without you.

Er preßte sich in den Autositz und sehnte sich nach Krista.

Vielleicht hatte es am Schneetreiben gelegen oder an dem langsamen Tempo, zu dem ihn der Verkehr auf der Bundesstraße zwang. Oder am Schmerzmittel, daß er zu Hause noch eingenommen hatte. Obendrauf auf Bier und Whisky. Jedenfalls verpaßte er die Abfahrt nach Klein-Roda. Und fast hätte er im dichten Schneetreiben auch noch die nächste Abzweigung übersehen.

Den Weg über Ulrichshain kannte er nicht. Alles war ihm fremd hier. Und die Schneeflocken standen wie eine graue Wand vor der Windschutzscheibe. Die schmale Straße, die durch den nächsten Ort führte, war von meterhohen Schneewällen eingerahmt, man fuhr wie durch einen Tunnel. Nur wenige Lichter brannten vor den Häusern, man sah sie kaum im Schneegestöber. Am Ortsausgang überlegte er für ein paar Sekunden, ob er an der Gabelung rechts oder links fahren sollte. Er fuhr rechts.

Die Straße schraubte sich über Serpentinen hoch und tauchte in einen Tannenwald ein. Kaum war er heraus aus dem Wald, legten sich lichtgraue Schwaden über die Landschaft. Er fuhr im dritten Gang weiter, voller Angst, von der Straße abzukommen. Und plötzlich war die Sicht wieder frei, tat sich eine weite Mondlandschaft aus sanft geschwungenen weißen Matten auf. Scheinbar endlos führte der Weg hoch, wieder in einen dichten, tief verschneiten Nadelwald. Er wußte, daß er sich verfahren hatte. Er mußte umkehren.

Über der Straße lag bereits wieder eine unberührte weiße Decke. Das Schneetreiben hatte nachgelassen, dafür war die Dämmerung in Nacht übergegangen. Seine Augen brannten, als er in Klein-Roda einfuhr.

Ganz kurz nur verloren die Räder des Jeeps den Kontakt mit der Straße, und für einen Moment fühlte er sich in einem Schwebezustand zwischen Himmel und Erde – als ob jemand zögerte, die Würfel fallenzulassen, mit denen über sein Leben entschieden wurde. Dann stampfte der schwere Wagen die Straße hoch bis zum Dorfende, an dem das Haus in einer Senke lag.

Er stellte das Auto hinter eine Schneewehe. Das ganze Dorf war finster, niemand war zu sehen. Immerhin hatte es aufgehört zu schneien. Der Schnee auf dem Weg zum Hauseingang war unberührt, er sank bei jedem Schritt tief ein. Die Tür war nicht verschlossen.

»Krista?« Er mußte sich ungeduldig angehört haben. Eifersüchtig. Er war eifersüchtig, er hatte es sich endlich eingestanden; eifersüchtig auf das Haus, gegen dessen Kauf er sich so lange gesträubt hatte. Es zog ihn nicht aufs Land. Erst recht nicht in diese Gegend. Insgesamt hatte er höchstens ein, zwei Wochen mit ihr verbracht, hier, wo sie sich zu Hause zu fühlen schien.

Und wo gehörte er hin?

Thomas sah Atilla Gümüs’ fragendes Gesicht vor sich.

Nirgendwo, wenn Sie mich fragen, Herr Kommissar. Nirgendwo.

Er hatte den Lichtschalter betätigt. Es blieb dunkel. Er erinnerte sich an seine Enttäuschung: Wenn sie den Strom abgeschaltet hatte, war sie nicht da. Und er wußte noch nicht einmal, wo der Sicherungskasten war – nur, daß im Wohnzimmer, vor dem Kamin, immer Streichhölzer lagen, daneben eine Kerze. Er tastete sich hinüber, fand beides am vermuteten Ort, zündete die Kerze an und lauschte ins Haus.

Krista?

Erst als er alle Räume durchschritten hatte, gab er widerwillig zu, was er längst spürte. Hier war niemand, er war allein. Keine Ahnung, wie lange er am Küchentisch gesessen und gewartet hatte, während die Kälte in ihm hochkroch. Hier war schon länger niemand mehr gewesen. Aber warum war die Haustür nicht abgeschlossen?

Und dann merkte er, daß er ein dreimal gefaltetes Stück Papier zwischen den Händen drehte, das auf dem Tisch gelegen hatte. Er faltete es auf und strich es im zitternden Kerzenlicht glatt. Es schien sich um einen Brief zu handeln. Um einen handschriftlichen Brief. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, wie ungewöhnlich das war. Alte Leute schrieben mit der Hand. Verliebte.

Als er fertiggelesen hatte, fühlte er sich so wie jetzt – leer. Und alt.

Krista. Warum, Krista.

Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Mit der Kerze in der Hand war er aus der Küchentür hinausgegangen in den Schuppen, in dem das Brennholz lag. Wie lange er sich mit dem Beil abreagiert hatte? Keine Ahnung. Erst als ein dicker Holzklotz ihm fast die linke Hand zerschmettert hätte, war er aufgewacht aus der Trance.

Reden Sie mit dem Nachbarn, Herr Kommissar. Fragen Sie Paul Bremer. Der hat mir die Hand verbunden. Im Dunkeln. Die Elektrizität war ausgefallen.

Sie haben Ihre Frau seit diesem Abend nicht mehr gesehen? Und nicht nach ihr gesucht? Die Polizei angerufen, die Krankenhäuser abtelefoniert?

Er sah immer noch Atilla Gümüs’ ratloses Gesicht vor sich, hörte ihn fragen, fragen, fragen. Aber was sollte er ihm sagen? Wenn Sie wüßten, Herr Kommissar?

Wenn Sie wüßten, was in dem Brief stand. Dann wüßten Sie auch, warum ich nicht nach ihr gesucht habe. Sucht man nach seiner Frau, wenn man ein paar handfeste Anhaltspunkte dafür in der Hand hält, daß sie einen verlassen hat?

Und können Sie mir vielleicht sagen, was man zu erwarten pflegt von einem Mann in einem solchen Fall? Was tun andere Männer, denen die Frau abhanden kommt? Die nächste Dorfkneipe aufmischen?

Ich nicht. Ich habe mich beim Holzhacken abreagiert, nach dem Besuch beim Nachbarn die Nacht im Haus verbracht, mich am nächsten Morgen ins Auto gesetzt und bin durch die Gegend gefahren. Wo ich war? Keine Ahnung. Und das ist die Wahrheit.

Sie nicken, Herr Kommissar. Ich weiß, was Sie denken. Das sagen sie alle, denken Sie. Und warum ich Krista nicht sofort besucht habe, als ich endlich erfuhr, daß sie im Krankenhaus liegt, fragen Sie.

Thomas Regler ballte die Hände und preßte die Fäuste gegen die Stirn. Dann ließ er den Kopf auf den Küchentisch sinken. Er saß in letzter Zeit verdächtig oft allein an Küchentischen.

Er wußte nicht mehr, wie oft er in den vergangenen Tagen im Krankenhaus angerufen hatte. Sie sei nicht ansprechbar, hieß es erst. Und dann verkündete eine nüchterne Männerstimme, sie wolle niemanden sehen.

Sie will mich nicht sehen. Thomas Regler hob den Kopf und versuchte, nicht zu stöhnen vor Schmerz.

Sag was, Krista. Was ist geschehen?

Er mußte zu ihr hinfahren. Er würde einfach in ihr Zimmer gehen, er war schließlich Arzt. Er würde...

Was würde er? Sie fragen, ob sie einen anderen hat?

Thomas Regler stand auf und schüttete den kalt gewordenen Kaffee ins Waschbecken. Er hatte der Polizei nichts von dem Brief erzählt. Er würde ihnen auch morgen oder übermorgen nichts davon erzählen. Denn sie würden wiederkommen. Mit immer den gleichen Fragen, in Columbo-Manier: »Mir ist da noch was unklar.«

Zum Beispiel: Warum ist Ihre Frau an diesem Abend mit Ihrem Auto gefahren und nicht mit ihrem eigenen? Was wollte sie im Wald bei Rottbergen? Warum saß sie auf dem Beifahrersitz, als man sie morgens fand, unterkühlt, fast schon erfroren, völlig verwirrt? Hatten Sie Streit? Warum will Ihre Frau Sie nicht sehen? Hatten Sie kürzlich einen Unfall mit Ihrem Wagen? Wo waren Sie, als es passierte?

Als ob er ihnen nicht bereits alles erklärt hätte.

Aber er würde es ihnen wieder und wieder erklären, sooft sie wollten. Er würde auf alle Fragen antworten. Er würde niemals darum bitten, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Er würde nicht ungeduldig werden, nicht abweisend, nicht zornig, nicht laut. Er würde noch nicht einmal darauf bestehen, endlich zu seiner Frau vorgelassen zu werden.

Darum.

Er hatte heute nacht wieder geträumt. Es war ein Traum, der ihm vertraut war, der immer wieder kam, seit Jahren, wie ein Feriengast mit festen Gewohnheiten. Er träumte davon, die Weberstraße hinunterzugehen, am Laden von Oma Friedrich vorbei. An der Kreuzung ging es links. Dann unter der Unterführung hindurch. Dann den versteckten Weg hoch zum Wäldchen. Fliegen summten. Es war heiß. Plötzlich schob sich eine feuchte Kinderhand in seine. Dann hörte er Hanni lachen, irgendwo hinter seinem Rücken. Du tust es ja doch nicht. Du traust dich nicht. Du kannst nur schwätzen.

Thomas Regler gab sich einen Ruck und stand vom Küchentisch auf. Alle Muskeln schienen zu protestieren, er mußte völlig verkrampft dagehockt haben all die Stunden über. Dann ging er ins Schlafzimmer und packte die Reisetasche.

Schneesterben

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