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ОглавлениеKlein-Roda, im Winter
Er fühlte, wie ihm die Brust eng und das Atmen schwer wurde. Das Bild aus dem Traum, der ihn hatte aufschrecken lassen, war noch nicht verblaßt. Ein Zug Gefangener, graue, müde Gestalten, er mittendrin. Und dann das Geräusch – wie sie vorwärtsschlurften, im gleichen langsamen Takt. Jeder Schritt eine Qual.
Er öffnete die Augen. Ein milchiges Licht drang durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Wieder erklang das schlurfende Geräusch. Ein Hund bellte. Das Leben nahm Umrisse an: Die Kommode, der Stuhl, der Schrank. Und dann sah er, daß Nemax es sich bequem gemacht hatte auf seinem Brustkorb und sich putzte, die Hinterpfote mit den gespreizten Zehen elegant gen Himmel gereckt.
Er streckte sich, nahm das Katerchen in den Arm und setzte sich auf. Das schlurfende Geräusch, eigentlich mehr ein Schaben und Scharren, kam, wenn ihn nicht alles täuschte, von mindestens drei Seiten. Und ebenso wahrscheinlich wurde es von Marianne, Gottfried und Erwin verursacht, die den Schnee von der Straße schoben und zu Wällen rechts und links davon auftürmten, wie sie es seit dem Kälteeinbruch vor einer Woche jeden Morgen machten, egal, ob es nachts 50 Millimeter oder einen halben Meter geschneit hatte.
Bremer ließ das schnurrende Tier auf seiner Schulter balancieren und ging zum Fenster. Heute waren eindeutig mehr als 50 Millimeter gefallen, die Rosenbüsche glitzerten im weißen Pelz und die Schneedecke zwischen Haustür und Gartentor lag unberührt, noch nicht einmal eine Katzenspur oder das Muster von Amselkrallen war zu sehen.
Er kniff die Augen geblendet zusammen.
»Paul, tu was«, hatte Marianne gestern gesagt, die kräftigen Hände um den Stiel des Schneeschiebers gelegt. »Bei dir ist kein Durchkommen.«
Bremer hatte die Schultern gezuckt. Er weigerte sich, Furchen und Bahnen und Pisten in den frischen weißen Schnee zu ziehen.
»Aber der Gehweg!« Die blonden Locken fielen ihr ins gerötete Gesicht, ihre Augen glänzten. Sie sah aus wie eine nordische Gottheit.
»Wer bei Verstand ist, geht auf der Straße.«
Sie stritten sich bei jedem Wintereinbruch über den richtigen Umgang mit den Naturgewalten. Sie hatte alles gern so, wie es sich gehörte. Und er haßte die schmutziggrauen Eiswälle, die zwischen Grundstücksgrenze und Bordsteinkante gerade mal schmale Pfade frei ließen, meistens eisglatt. Ihm persönlich war es egal, ob der Postbote oder der Bäcker oder der Gaslieferant auf frischgeräumten Straßen einfahren konnten. Und denen im Zweifelsfall auch.
Nemax, der mit halb ausgefahrenen Krallen Pauls nackte Schulter knetete, sprang aufs Fensterbrett und blickte konzentriert einer Meise hinterher. Bremer zog Jeans und Pullover über und ging die Treppe hinunter, um die Zeitung zu holen.
Als er den Riegel zurückgeschoben hatte und die Tür aufzog, mußte er die Hand vor die Augen legen. Die kräftige Februarsonne war über Willis Scheune gekrochen und zündete Lichterketten auf der weißen Fläche. Während er in die Gummistiefel stieg, setzte Nemax vorsichtig eine Pfote auf die glitzernden Kristalle und sah mit gespitzten Ohren zu, wie sie tief einsank und weißbepudert wieder auftauchte. Dann hüpfte er in Bocksprüngen über die Schneedecke und war mit einem Satz auf dem Pfosten am Gartentor, wo er ein Bein nach dem anderen streckte und sorgfältig ausschüttelte.
Bevor Bremer am Gartentor angelangt war, verstummte das Geräusch der Schneeschieber. Auf der Kreuzung vor ihm, dort, wo der Friedhofsweg von der Hauptstraße abzweigte und leicht anstieg, standen Marianne, Gottfried und Erwin, die eine links, der andere geradeaus, der dritte rechts, alle drei das Kinn auf die Hände gestützt, die sie um den Stiel der Schneeschippe gelegt hatten. Wie die Hüter des Schatzes, dachte Bremer.
Im Blickfeld der drei regungslosen Figuren, mitten auf der Kreuzung, stand der Stolz des Dorfes: seine fruchtbaren Frauen und ihr Nachwuchs, letzterer in einem Fuhrpark, der vom antiken Korbwägelchen bis zum neuesten Leichtmetallgefährt alle Kinderwagenmodelle versammelte, die gut und teuer oder gerade angesagt waren.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« sagte Christine laut. Ihre Augen blitzten, die Wangen unter der Kapuze waren gerötet. Sie war das selbsternannte Alarmsystem des Dorfes, diejenige, die als erste wußte, welche Lebensgewohnheiten und welcher Umweltskandal die Gesundheit aller, vor allem die der Kinder, bedrohten.
Eine stämmige Brünette schob die schicke schmale Sportkarre, mit der man beim Kinderlüften joggen konnte, gemächlich um die Ecke. »Die und laufen! Der kann man beim Gehen einen Knopf annähen!« hatte Marianne kürzlich gesagt – mit aller Verachtung einer Bäuerin, die morgens nach dem Schweinefüttern ihre sechs Kilometer lief und abends noch Fahrrad fuhr, wenn nicht gerade überall Schnee lag.
Bremer holte die Zeitung aus dem Briefkasten, verbeugte sich in Gedanken vor dem alten Herrn, der sie auch heute wieder pünktlich ausgeliefert hatte und lehnte sich ans Gartentor. Die Mütter standen sichtlich erregt im Schnee, neben, vor und hinter ihnen, im Kinderwagen oder Oililly-Jäckchen, nuckelnd, nölend oder am Daumen lutschend, neun rotbackige Kleinkinder. Gemessen an der Einwohnerzahl, hatte Gottfried auf dem Weihnachtsfest im Dorfgemeinschaftshaus vorgerechnet, war Klein-Roda das Dorf mit der stärksten Geburtenrate weit und breit. Gottfried, Züchter preisgekrönter Zwergwyandottenhühner und Edelkaninchen, kannte sich aus mit erfolgreicher Fortpflanzung. »Noch nicht einmal die Italiener machen mehr Bambini!« Der Nachbar hatte stolz das Kinn gereckt und dann Klein-Roda zum Vorbild für ganz Europa erklärt.
Paul winkte zu Marianne und Gottfried hinüber – Erwin wirkte betäubt, wahrscheinlich vom gestrigen Vollrausch – und studierte den ungewohnten Menschenauflauf. Seine Nachbarin hatte ihm an vielen Vormittagen beizubringen versucht, welches Kind zu welcher Mutter und welcher Mann zu welcher Frau gehörte. Christine zu Sascha und Maxima? Oder zu Marcus und Laura? Oder...
Die ganz vorne kannte er gut: Kathrinchen. Sie hatte die Unterlippe zwischen die Zähne genommen, die dunklen Brauen zusammengezogen und die Hand auf den Buggy gelegt, in dem die kleine Nicole schlief. Rechts davon, die Frau, die den Tränen nahe schien, mußte Annamaria sein. Sie nickte im gleichen Rhythmus mit dem Kopf, mit dem sie den Kinderwagen schaukelte, in dem ein pummeliger Blondschopf Anzeichen für einen Wutausbruch erkennen ließ. Supermutter Christine hielt ihr Töchterchen an der Hand, das, unbemerkt von der auf die Versammlung einredenden Mutter, nach der Mütze ihres kleinen Bruders griff, der mit hochrotem Kopf halb aus dem Kinderwagen hing. Und dann sagte Sabine (ein Dreijähriger, ein Zwillingspärchen, ein Jahr alt): »David hätte noch leben können, wenn dieser Arzt nicht gewesen wäre.«
Alle nickten.
»Und dann möchte ich endlich wissen, warum Carmen noch immer im Krankenhaus liegt – ausgerechnet in der Abteilung von diesem Kerl!«
Christine machte hinter das letzte Worte drei Ausrufezeichen. Die anderen jungen Frauen schaukelten die Kinder heftiger.
»Und was ist los mit dem kleinen Ssssien?« Das junge Mädchen, das sich nicht zwischen Sorge und Neugier entscheiden konnte, mußte Katja sein.
»Schoooon!« riefen Sabine und Annamaria.
Seit Tagen schon hing vor dem Haus der Beckers eine Wäscheleine mit Strampelhöschen und Sabberlätzchen, darüber ein Bettlaken, auf dem »Willkommen Sean!« stand. Und seit Tagen war das Dorf in zwei Lager zerfallen – die einen sagten locker »Sssien«, die anderen rollten die Augen gen Himmel und bestanden auf »Schooon«.
»Siehste, das kommt davon, wenn man den Kindern keine vernünftigen Namen gibt!« kommentierte Gottfried diese Debatten mit selbstzufriedenem Lächeln, bis Carmens Mann Zafer protestierte.
»Ist mein Name vielleicht nicht vernünftig?«
»Naja.« Gottfried guckte listig. »Bestimmt. Im wilden Kurdistan.«
»Du kannst doch Anatolien nicht von Australien unterscheiden, du altes Schlitzohr«, hatte Zafer beinahe zärtlich gesagt und dem Alten auf die Schulter geklopft.
Jetzt redeten alle durcheinander. Fasziniert beobachtete Bremer, wie sich der Rhythmus anglich, in dem die Frauen die Kinderwagen in Schwingungen versetzten; immer schneller wurden die Kleinen geschaukelt, von denen einige Anstalten machten, sich darüber zu beklagen. Noch nicht einmal Annamaria kümmerte sich um ihren Sohn, der tief Luft zu holen schien.
Aber es war Kathrinchen, die plötzlich laut wurde. Kathrinchen, die bis heute kein Wort darüber verloren hatte, wer der Vater der kleinen Nicole war, mit der sie schwanger wurde, als sie vierzehn war. Und die im Frühjahr heiraten würde – den Vater ihres ungeborenen zweiten Kindes, Wolle. Ein braver Junge, wie alle sagten. Aus dem Nachbarort. Aber vor allem hatte er einen Arbeitsplatz.
Auch Kathrinchen packte den Griff des Kinderwagens fester. Aber sie stand stockstill, während die anderen immer erregter wippten. Bremer sah, wie sie den Kopf hob, den dunklen Haarschopf nach hinten schüttelte, einen verächtlichen Blick in die Runde warf und hoheitsvoll: »Ihr spinnt doch« sagte. »Ihr tickt nicht mehr richtig. Ihr habt ja alle ’ne Meise.« Dann schritt sie davon.
Niemand sah ihr hinterher. Die Kinder hatten endlich die Aufmerksamkeit der Mütter erzwungen, die einen schimpften, die anderen umgurrten sie. Und schließlich verließen alle die Bühne, die einen gingen nach links, die anderen nach rechts, und die drei stummen Gestalten mit den Schneeschiebern bewegten sich wieder, als ob jemand eine Spieluhr in Gang gesetzt hätte.
Er winkte noch einmal zu den Nachbarn hinüber und ging ins Haus. Als er sich einen Tee gekocht und die Zeitung aufgeschlagen hatte, war ihm klar, warum die Jungmütter heute so aufgeregt waren. Der Fall David Ferber hatte es auf die erste Seite des Lokalteils gebracht.
Bremer wußte nicht, was er von der Sache halten sollte. Der Junge war während einer Operation im Kreiskrankenhaus Feldern gestorben, die als Routine galt, weshalb man auf Betreiben der Eltern eine Untersuchung angeordnet hatte. Die Felderner Allgemeine, deren Mitarbeiter verständlicherweise nicht immer nur über die Bullenschau mit Preiskrönung oder den in Ehren ergrauten Jubilar berichten wollten, hatte den tragischen, aber an sich nicht skandalösen Vorgang in eine Schlagzeile gefaßt, der den Verdacht, den auch die Mütter von Klein-Roda hegten, auf den Punkt brachte: »War es Pfusch?« Was die Untersuchung erst erweisen sollte, ahnte das Käseblättchen und wußten die besorgten Frauen schon jetzt: Da mußte etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Der verantwortliche Arzt hieß Dr. Thomas Regler. Regler, der zurückhaltende, ruhige Typ, dessen Frau ein paarmal im Monat in ihrem kleinen Wochenendhaus in Klein-Roda auftauchte.
Bremer räumte den Frühstückstisch ab und wischte Nemax hinterher, der in das Schälchen mit Katzenmilch getreten war. Früher, ach was: noch vor hundert Jahren, nahm man schicksalergeben hin, daß ein Kind den unzähligen Gefahren des Lebens, den Seuchen und Krankheiten, den Unfällen, dem Hunger, den Men sehen und den wilden Tieren, dem Leben eben, erlag. Heute ist das unvorstellbar geworden – wo doch alle ärztliche Kunst der Welt zu haben ist. Wo alles als möglich gilt. Und wo man gelernt hat, daß das Schicksal besiegt werden kann. Auch bei einem Kind. Vor allem bei einem Kind.
Bremer nahm die zweite Kanne Tee mit nach oben und setzte sich an den Schreibtisch. Sollte er neidisch sein? Er hatte nicht zu den überbehüteten Kindern gehört. Eine Zeitlang hatte er geglaubt, niemand würde sich grämen, wenn er eines Morgens tot im Bett liegen würde. Vielleicht war er ein Findling? Mit dem zarten Körperbau und den bernsteinbraunen Augen sah er ganz anders aus als Vater. Das sagten alle. Und heute fand er das auch. Fotos zeigten Vater als breitschultrigen grimmigen Riesen mit kurzgeschorenen blonden Haaren und blassen Augen. Bremer war noch immer schmal und nicht sehr groß, und bevor seine Haare vorzeitig weiß wurden, waren sie dunkelbraun, fast schwarz gewesen.
Manchmal fragte er sich, ob er jemals Eltern gehabt hatte. An das erste Kinderheim von vielen erinnerte er sich nicht. An das letzte schon. An das dunkle Haus mit den Schlafsälen, in denen sich jede Nacht ein anderer Horror abspielte. Henry war der schlimmste gewesen. Wer da nicht mithalten konnte oder gar weinte, hatte keinen friedlichen Moment mehr. Bremer schüttelte die Erinnerung ab. Großonkel Wallenstein hatte ihn herausgeholt, als er schon glaubte, die Anstalt für ungeliebte Kinder nicht mehr lebend zu verlassen. Er hatte mehr Glück gehabt als andere.
Als unten die Glocke anschlug, war es bereits früher Nachmittag. Er hatte wundersamerweise Seite um Seite heruntergeschrieben, ohne die Überredungsrituale, mit denen er sich sonst jeden Satz abrang. Als er noch der Werbeindustrie diente, hatte er das nicht gekannt – Schreibhemmung. Damals war jedes Wort ein Schuß. Aber mit jedem Buch schien die Schwelle höher zu liegen.
Vor der Tür stand Kathrinchen. Ihr Besuch überraschte ihn nicht. Er war in den letzten Jahren vom Stadtflüchtling, den man mit leisem Argwohn betrachtete, zum guten Onkel des Dorfes geworden; der, den man fragt, wenn man die Antwort der anderen fürchtet. Als sie ihren schon sanft gerundeten Bauch durch die Tür geschoben hatte, sah er hinter ihr Nicole, Daumen im Mund, die nach Nemax Ausschau hielt.
Kathrinchen brauchte einen großen Milchkaffee, einen Lebkuchen und drei Anläufe, bis sie endlich mit dem rausrückte, was sie beschäftigte.
»Die spinnen alle. Die spinnen.«
Paul goß Kaffee nach.
»Die sind nicht ganz dicht.«
Kathrinchen schüttete Milch in den Kaffee und schaufelte zwei Löffel Zucker hinein. »Die kennen ihn doch gar nicht. Keine Ahnung haben sie! Mir hat Dr. Regler damals geholfen. Er würde niemals zulassen...« Sie schüttelte den Kopf.
Paul Bremer griff nach Nemax, der vor der zupackenden Zärtlichkeit des Kindes aufs Küchenbüfett geflüchtet war. Er erinnerte sich, daß Kathrinchen damals zur Entbindung ins eine gute Stunde entfernte Krankenhaus von Feldern geschickt worden war, nachdem der Feldwaldundwiesenarzt aus Bad Moosbach ihr eine Abtreibung nahegelegt hatte.
Sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Er auch nicht. Er kannte Thomas Regler nur flüchtig, meist kam dessen Frau allein zu dem kleinen Haus hinter dem Friedhof, das sie sich liebevoll ausgebaut hatte. Krista war eine handfeste, kluge, lebendige Frau ohne Allüren. Und ihr Mann – er erinnerte sich an ein melancholisches Gesicht, an tiefblaue Augen und einen unordentlichen Schopf dunkler Haare – wirkte ebensowenig wie ein arroganter Halbgott in Weiß.
»Kathrinchen – wir wissen nicht, was passiert ist. Das muß alles gründlich untersucht werden. Und man kann es doch verstehen, wenn Eltern in ihrem Schmerz...« Seelendoktor Bremers heile Welt, dachte er und fand sich schrecklich altväterlich.
»Aber das ist es ja! Ausgerechnet Sonja Ferber! Die hat das Kind doch beim kleinsten Mucks angeschrien! Oder geschlagen!« Kathrinchen war den Tränen nah. Bremer betrachtete sie liebevoll. Aus dem Mädchen mit den großen dunklen Augen würde noch lange nicht Kathrin werden. Irgendwie war das tröstlich.
»Es wird eine Untersuchung geben, und dann wird man der Wahrheit schon näherkommen.« Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
»Und bis dahin machen sie ihn fertig! Die dummen Gänse sagen, man soll nicht mehr hingehen zu Dr. Regler! Die Kinder wären bei so einem nicht sicher!«
Bremer seufzte. Was immer die Mütter für Probleme mit dem Arzt haben mochten – für Kinder war er der richtige. Er erinnerte sich gut an die Sache mit dem kleinen Mädchen. Die Kleine – wie hieß sie noch? – hatte sich von ihrer Mutter losgerissen und war fröhlich quietschend auf Gottfrieds Hund zugelaufen, als ein Mountainbiker in voller Montur und mit beeindruckender Geschwindigkeit um die Ecke rauschte. Das Kind hatte die Gefahr wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen, wohl aber die entsetzten Schreie der Umstehenden. Jedenfalls war die Kleine hingefallen und hatte angefangen, entsetzlich zu brüllen. Der Regler, der das weinende Kind auf den Arm nahm und tröstete, war wie verwandelt. Das melancholische Gesicht sah plötzlich unbeschwert und fröhlich aus, und er flüsterte so lange auf die Kleine ein, bis sie zu lächeln begann und ihm an die Nase faßte.
Offenbar mochte der Mann Kinder, vielleicht sogar mehr, als für einen Kinderarzt selbstverständlich war. Für so jemanden wäre es eine Katastrophe, wenn wirklich ein Behandlungsfehler zum Tod des Kindes geführt hätte.
»Er hat Nicole zur Welt gebracht und jetzt... Ich sehe gar nicht ein ...«
Kathrinchen hatte die Hände um den Leib gelegt. Bremer lächelte erst sie an und dann ihren Bauch.
»Die anderen haben gesagt, das sei verantwortungslos gegenüber dem Kind, wenn ich wieder zu ihm gehe!«
Die Übermütter des Dorfes. Bremer schüttelte den Kopf und nahm Nicole auf den Schoß, damit sie Bleibeverhandlungen mit Nemax aufnehmen konnte.
Kathrinchen rührte im Kaffee, ohne einen Schluck zu nehmen. »Ich meine – man kann doch nicht jemanden verurteilen, wenn man noch gar nicht genau weiß, was wirklich passiert ist.«
»Traust du ihm?« Es war die einfachste Frage, die ihm einfiel.
Sie zögerte. Dann nickte sie.
Als Kathrinchen endlich Nicole auf den Arm nahm und ging, war es drei Uhr vorbei. Bremer aß den übriggebliebenen Lebkuchen und ging wieder an den Schreibtisch.
Er hatte eben den roten Faden wiedergefunden, als es erneut unten läutete. Auf Strümpfen lief er die Treppe hinunter und hätte beim Anblick von Gottfried fast schallend gelacht. Der Nachbar hielt in jeder Hand ein gerupftes und im Licht der Flurlampe schwindsüchtig aussehendes Suppenhuhn. Milde Gaben für das örtliche Orakel, dachte Bremer und nahm ihm die Kadaver ab. Gottfried folgte in die Küche. Nemax, der auf der Küchenbank geschlafen hatte, stellte die Ohren auf und hielt die Nase in die Luft.
»Und?« Bremer rückte dem Nachbarn einen Stuhl zurecht und zeigte fragend auf die Flasche mit dem Obstler.
»Aber nur...«
»Einen winzigen Schluck, wie immer.« Bremer goß das Wasserglas halb voll.
»Hast ja mitgekriegt«, sagte Gottfried nach einer Weile, in der er ausgiebig geseufzt und sich den Nacken massiert hatte.
»Hm.« Paul goß sich auch einen ein. An Arbeiten war eh nicht mehr zu denken.
Gottfried hob mit abwesender Miene das Glas. »Die Ferbers sind völlig aus dem Häuschen. Sie haben sich einen Anwalt aus der Stadt geholt.«
Aus der Stadt. Womöglich noch aus Frankfurt. Das bedeutete nichts Gutes.
»Sie verbreiten überall, der Regler hätte – naja – halt nicht alles so gemacht, wie es sich gehört. Und jetzt wird es eine Untersuchung geben.«
»In der Zeitung steht, daß David an einer allergischen Reaktion gestorben ist. Das hätte bei jedem Arzt passieren können.«
»Sicher«, sagte Gottfried und wiegte unschlüssig das Haupt.
Bremer fragte sich mittlerweile, ob man Thomas Regler eine Chance lassen würde – ihm und seiner Frau. Beide Mitte Dreißig. Keine Kinder.
»Was weiß man schon«, sagte Gottfried, kippte den Schnaps und erhob sich.
Keine halbe Stunde später war Marianne an der Tür. Das runde Bauernbrot, das sie ihm in die Hand drückte, war noch ganz warm. Sie hatte das Backhaus angeheizt – und das bei diesem Wetter. »Ach Marianne«, sagte er und küßte sie auf die Wange. Dann zog er sie in die Küche.
»Aber ich hab’ doch Gummistiefel an. Ich muß gleich noch in den Stall. Ich mach’ dir alles dreckig!«
Bremer guckte sie liebevoll an. Sie putzte jeden Tag. Er nicht.
»Und du kehrst ja nicht vor deinem Haus!« Marianne guckte an sich herunter. Die Gummistiefel trugen einen weißen Schneekragen.
»Na und? Es ist doch längst wieder zugeschneit.« Wenn das so weiterging, brauchten die Nachbarn gar nicht mehr aufzuhören mit dem Schneeschippen. Besser noch, sie fingen erst gar nicht damit an. Mit keimender Anteilnahme fragte er sich, wie hoch der Schnee draußen wohl schon lag und ob er noch trockenen Fußes zum Briefkasten gehen konnte, morgen früh. Und ob es dann überhaupt eine Zeitung geben würde.
Bremer goß ihr einen Schnaps ins Glas, ohne groß zu fragen. Klarer galt in Klein-Roda nicht als Alkohol, sondern als therapeutische Maßnahme oder soziales Gleitmittel. Er war froh, daß die Flasche fast leer war und er eine Entschuldigung hatte, wenn er nichts trank.
»Die Ferbers drehen durch.« Marianne prostete ihm zu und leerte das Glas in einem Zug. Sie klang, als habe sich Sonja Ferber über eine Fehllieferung vom Ottoversand beschwert.
Bremer erschreckte diese ungewohnte Kälte. »Und wenn es dein Kind gewesen wäre, das da auf dem Operationstisch gestorben ist?«
»Dann würde ich weinen um mein Kind, statt auf Schadensersatz zu klagen!«
»Aber wenn im Krankenhaus gepfuscht worden ist und wenn Thomas Regler ...«
Marianne schob ihm das leere Schnapsglas hin. »Thomas Regler ist in Ordnung. Der bringt sich ja halb um bei jedem Kind, das zu ihm kommt. Ärzte sind auch nur Menschen. Und manchmal will es das Schicksal eben nicht anders.«
Bremer starrte sie an. Die schöne Nachbarin schien die einzige zu sein, die nicht an die vollkommene Beherrschung des Lebens glaubte. Alle anderen taten so, als ob das Wort Schicksal ihnen nicht mehr geläufig wäre – oder gar so etwas wie Gottes Wille. Heutzutage hatte man kein Unglück, sondern einen Versicherungsschaden.
»Fragt sich nur, warum er selbst keine Kinder hat. Seine Frau hat doch sonst nichts zu tun.«
Das war nun wieder Marianne, wie er sie kannte. Nie um eine boshafte Bemerkung verlegen – vor allem, wenn es andere Frauen betraf.
Die Nachbarin hinterließ feuchte Spuren auf dem Fußboden und einen kühlen Lufthauch. Als er die Gläser ins Spülbecken gestellt hatte, ging das Licht aus. Der Kühlschrank röchelte noch einmal auf. Die Uhr am elektrischen Backofen erlosch, langsam, als ob sie sich wundere. Bremer sah aus dem Fenster. Auch die Straßenlampen waren aus. Zu seiner Verblüffung verspürte er eine kindliche Freude über die ungewohnte Dunkelheit. Lange würde er sie nicht genießen können, das Licht mußte jede Minute wieder angehen.
Aber es tat sich nichts. Schließlich griff er zu den Streichhölzern neben der Kerze auf dem Küchentisch und zündete sie an. Und als ob er, je länger der Ausnahmezustand anhielt, desto kindischer würde, bekam er eine Gänsehaut, als es unter dem Küchentisch grollte.
Dabei kannte er das Geräusch, obzwar er noch vor Monaten keiner Katze von der Statur des Katers Nemax einen solchen tiefen, markerschütternden Laut zugetraut hätte. Er hob die Kerze. Nemax trabte herbei, mit erhobenem Haupt und gestrecktem Schweif, im Maul ein dunkles Etwas.
Ihm ging der Anblick ans Herz. Das Raubtier mußte Giordano, die Hausmaus, erwischt haben. Die anderen Mäuse waren sicher, sie lebten draußen, tief unter dem Schnee versteckt. Nur Giordano hatte sich für den Winter etwas besonders Cleveres ausgedacht. Er hauste in der Küche, hinter dem Kühlschrank. Und nun hatte der dumme Kerl sich herausgetraut, hatte sich womöglich am Katzenfutter vergriffen, hatte den Mörder mit den Samtpfoten nicht kommen gehört.
Nemax ließ das Fellbündel fallen und schob es mit der Pfote hin und her. Giordano blieb still. Gut so, Kleiner, dachte Bremer. Aber dann vergaß die Maus alle Umsicht und lief hakenschlagend Richtung Haustür. Nemax hatte sie in Sekundenschnelle wieder am Genick – und knurrte wie ein Kettenhund.
Das Spiel begann von neuem. Mach ein Ende, du kleines Raubtier, dachte Bremer und versuchte, das Knurren der Katze und das Quieken der Maus zu ignorieren. Bis er es nicht mehr aushielt. Nemax protestierte, fauchte sogar, als Bremer nach der Maus griff, aber er mußte sie gehen lassen. Der kleine pelzige Körper wand sich in Bremers Händen, während er hinaus und zum Schuppen lief. Dort ließ er das Tierchen frei.
Als er zurückkam ins Haus und seine nassen Socken auszog, spürte er einen Schmerz am Daumenballen. Giordano der Kämpfer hatte ihn gebissen. Seinen Retter. Bremer goß sich den mickrigen Rest aus der Schnapsflasche ins Glas, desinfizierte die Stelle und war fünf Minuten lang gründlich gerührt.
Vielleicht war das der Grund, warum er das Geräusch nicht hörte. Erst, als etwas gegen die Eingangstür polterte, sprang er auf.
Er kam sich vor wie der mißtrauische Wirt im mittelalterlichen Gasthof zum Alten Bock, als er mit hocherhobenem Kerzenleuchter die Tür öffnete. Draußen stand Thomas Regler, das melancholische Gesicht unter dem dunklen Haarschopf weiß, die beiden Hände hochgehalten, als wolle er sich der bewaffneten Übermacht ergeben.
»Ich schieße nicht«, sagte Bremer vorsichtshalber.
Regler lächelte nicht. »Ich brauche Hilfe«, sagte er. Das war nicht zu übersehen. Die rechte Hand war verbunden, weiß konnte man den Verband nicht mehr nennen. Und die linke Hand – Bremer schluckte. Das sah übel aus. Er hielt die Tür auf.
Bremer hatte Thomas Regler noch nie so gesehen. Der Arzt sah völlig entgeistert aus. Wie ein Kind saß er in Bremers Küche und hielt ihm die Hand hin. Gottlob war in der Hausapotheke noch alles Nötige vorhanden für einen provisorischen Verband.
»Sie sollten zum Arzt gehen.«
Regler schaute ihn traumverloren an.
»Ins Krankenhaus.«
Regler drehte den Kopf zum Fenster. Es schneite. Es schneite in dicken Flocken und ohne Pause. »Ein Gutes hat das alles«, sagte er schließlich. Er klang wie einer, der sich wundert über das Leben und seine Schachzüge. »Ich werde so bald nicht mehr operieren können. Kein Grund mehr zu Panik.« Und dann lachte er. »Wie hat mein Pathologieprofessor immer gesagt? ›Und wenn du noch soviel chirurgst, es kommt der Tag, an dem du murkst.‹«
Haben Sie denn gemurkst, wollte Bremer fragen. Was ist geschehen, während der kleine David auf dem Operationstisch lag? Aber Regler war schon aufgestanden. Er brachte ihn zur Haustür.
»Sie werden doch nicht mehr fahren?« Natürlich nicht. Er würde zum Haus gehen, dem kleinen Haus hinter dem Friedhof, dem Haus seiner Frau.
»Können Sie heizen? Haben Sie etwas zu essen?«
Regler hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»Ist Krista da? Kann sie nicht...«
Regler drehte sich um. Seine Augen schienen noch dunkler geworden zu sein, er preßte die Lippen zusammen. »Krista?« flüsterte er. »Krista?«
Bremer starrte ihm hinterher, bis der Mann in der Dunkelheit verschwunden war. Er horchte in die Nacht. Man hörte nichts, keines der üblichen Geräusche wie das leise Gebrabbel von Erwins Großfernseher oder das ferne Rauschen von der Bundesstraße. Kurz riß die Wolkendecke auf, und im Licht des Mondes lagen lange Schatten auf dem Schnee.
Bremer machte sich eine Flasche von seinem besten Roten auf. Als er endlich zu Bett ging, hüllte ihn die schwarze Melancholie ein. Anne würde nicht wiederkommen. Er würde bis ans Ende seiner Tage alleinbleiben.
Aber vielleicht hatte er auch nur ein Glas zuviel getrunken.