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Am nächsten Morgen blinkte die Uhr am elektrischen Backofen, und die Heizung war wieder angesprungen. Es schneite ausnahmsweise nicht. Die Nachbarn hatten sich in ihre Festungen zurückgezogen, aus denen Rauchzeichen in den blaßblauen Himmel aufstiegen. Die Meisen hingen an den Futterringen und ignorierten Nemax, der sich auf dem Pfosten neben dem Gartentor postiert hatte und so aussah, als stehe er kurz vor dem ersten Flugversuch. Bremer ging ins Haus, warf den Computer an, erledigte alle E-Mails, studierte ratlos die Kontoauszüge und machte sich an die Arbeit. Irgendwann hatte er keine Lust mehr, zog sich warm an und ging hinaus.

Noch war es hell. Unter den Stiefeln knirschte der Schnee. Die Kälte stieg ihm in die Nase, als er den Weg hoch zum Wäldchen ging. In der Ferne standen Windräder unbewegt vor dem blassen Himmel. Auf dem Schnee sah man die Spuren von Hasen, Rehen und Krähen, aber noch immer wirkte die Landschaft wie in Unschuld gekleidet. Der Schnee deckte alles zu.

Was man wohl finden würde, wenn es taute? Das Übliche – Bierdosen, Tempotaschentücher, Kondome, die Reste von Silvesterraketen, Kinderspielzeug, verlorene Handschuhe. Als er aus dem Wäldchen auf die Anhöhe hinaustrat, breitete sich vor ihm ein blendendweißes Tuch über die Landschaft, bis zum Horizont. Auf der anderen Seite des Tales stand ein Rehbock und schien zu ihm herüberzusehen. Zwei Krähen flatterten einem Greifvogel hinterher, noch ohne die im Frühjahr wachsende Angriffslust. Und auf der Koppel vor ihm hatten sich Maulwürfe durch die Schneedecke gewühlt und dunkle Erdhaufen ins Weiß geschaufelt.

Es war noch immer beängstigend ruhig. Kein Hund bellte, keine Kirchenglocke läutete, kein Auto kam vorbei. Über den Häusern von Groß-Roda standen die dünnen weißen Rauchsäulen fast senkrecht. Kein Traktor heulte, kein Kind schrie. Selbst die Meisen, die in der Hecke mit den Schlehen und Wildrosen hausten und lärmend aufstiegen, wenn man sich näherte, schienen eine Schweigeminute eingelegt zu haben. Und dann erklang die Feuerwehrsirene von Klein-Roda. Es war ein ferner, fast sehnsuchtsvoller Ton, in den sich die Sirene von Heckbach hineinschmiegte. Und jetzt schloß sich die von Ottersbrunn an. Bremer zählte mit. Nein, es wurde weder zur Übung gerufen noch zum gemeinsamen Besäufnis. Es war ernst.

Er kehrte um. Vielleicht brannte es – womöglich gar in Klein-Roda. Erwins Bruchbude stand auf der Liste der gefährdeten Bauwerke ganz oben. Oder es hatte einen Unfall gegeben. Er ging schneller.

Als er in den Feldweg nach Klein-Roda einbog, sah er sie auf der Straße stehen, die Nachbarn. Die Männer in leuchtend orangefarbenen Jacken wirkten verlegen, jeder hatte eine junge Frau neben sich, die auf ihn einredete. Nur Jens stand allein, etwas abseits. Der Briefträger schien immer dazusein, wenn was los war, als ob er eine Antenne dafür hätte.

Marianne winkte Bremer an ihre Seite. »Tamara«, flüsterte sie. »Sie ist seit gestern abend nicht zu Hause gewesen.«

Bremer kannte Tamara. Alle kannten Tamara, ein verzogenes Balg aus dem Nachbarort, die Tochter einer Cousine von Marianne. Tamara war oft bei ihr zu Besuch, wenn die Eltern gerade etwas anderes vorhatten. Tamara mit den langen seidigen Haaren, die sie mit gekonntem Kopfschwung hinter sich warf, wenn sie auf der Dorfstraße aufreizend langsam hin- und herschlenderte. Selbst Gottfried ließ sich noch in Verlegenheit bringen von so viel zur Schau gestellter Jungmädchenschönheit.

»Sie ist doch erst dreizehn«, hatte Marianne im letzten Herbst gesagt, als Christine mit hektischen roten Flecken im Gesicht angekommen war und die Kleine beschuldigte, hinter ihrem Mann herzusein.

»Aber frühreif wie sechzehn«, hatte Gottfried gebrummelt.

Marianne verteidigte Tamara wie eine Mutterhenne. Nur, daß die Kleine kaum etwas von dem anrührte, was sie morgens, mittags und abends auf den Tisch brachte, das gefiel ihr nicht.

»Dann verhungert sie eben!« sagte Bremer, wenn Marianne sich wieder einmal darüber beschwerte, daß Tamara nichts aß, keine Frikadellen, keine Schweinekoteletts, keinen Rosenkohl und keine Torte. Tamara war, natürlich, dünn wie ein Bleistift und wollte Model werden. Was sonst.

»Und sie hat auch nicht angerufen.« Marianne sah aus, als ob das besonders besorgniserregend wäre.

»Seit gestern abend? Und da regt ihr euch schon auf?« flüsterte Bremer zurück. Tamara tat, was sie wollte. Wahrscheinlich hockte sie bei irgendeiner Freundin und probierte die Lippenstifte aus der Kosmetiktasche der Mutter aus.

»Und die Polizei tut nichts!« Marianne machte große, vorwurfsvolle Augen. »Es ist noch zu früh, hat Walter gesagt!«

Bremer gab dem Revierleiter von Bad Moosbach recht.

»Aber unsere Männer gehen jetzt raus! Alles wird durchgekämmt !«

»Unsere Männer« wirkten keineswegs überzeugt vom Sinn des Ganzen. Doch wenn die Heldinnen von Klein-Roda, seine Mütter, etwas wollten, dann parierte man. Und wenn es um Kinder ging...

Werner ergriff das Wort, der Fähnleinführer der Freiwilligen Feuerwehr von Groß-Roda, ein Mann mit tiefer Stimme und nicht dazu passendem Ziegenbärtchen. »Wir gehen durch den Wald hinter Klein-Roda über die Eulenhof-Wiese bis hinunter zur Flußaue und dann wieder hoch nach Groß-Roda!«

Bremer blinzelte in den Himmel. Es sah aus, als würde es gleich wieder schneien. Die jungen Männer traten unruhig von einem Fuß auf den anderen, der Mann von Katja – oder war es der von Annamaria? – schlug die Hände in den dicken Handschuhen gegeneinander, Christines Jan machte Lockerungsübungen.

»Das bringt doch nix!« Gottfried hatte sich neben Bremer eingefunden und schüttelte den Kopf. »Nachts hat es geschneit. Wenn ihr gestern abend etwas passiert ist, dann wird man keine Spuren mehr finden.«

»Und wenn ihr heute jemand etwas getan hätte, dann wäre er schön dumm, wenn er uns eine Fährte durch den Schnee gelegt hätte.«

Gottfried nickte. »Wenn überhaupt, dann muß man beim Loch suchen. Oder – im Tunnel.«

Das »Loch« war ein stacheldrahtumzäuntes Grundstück jenseits der Landstraße, in der Mitte ein Tümpel, umgeben von Tannen und anderen Nadelbäumen. Nur im Winter konnte man die Hütte erkennen und den großen Holzstapel davor und die Solarzelle auf dem Dach. Manchmal stieg Rauch auf aus dem Schornstein. Aber nie sah man jemanden. Ein Jäger aus Recklinghausen übernachte hier ab und an, hatte Wilhelm, der Ortsvorsteher, mal behauptet. Marianne bezweifelte das. Und was Marianne nicht wußte, das wußte auch kein anderer, vor allem nicht besser. Und der Tunnel...

Gottfried stieß ihm den Ellenbogen in die Seite und hob die Augenbrauen. Bremer sah ihm an, daß er die ganze Aktion für idiotisch hielt. Aber wenn es die Weiber beruhigte! »Besser, wir lassen die grünen Jungs nicht allein«, flüsterte er. Der Nachbar sah wetterfest aus, hatte den Hund bei Fuß und schien zu allem entschlossen. Bremer lief ins Haus und holte Fellmütze und Taschenlampe. Dann ging es los.

Mit fast militärischer Präzision bildeten die Männer eine lange Linie, die über die Anhöhe hinter Klein-Roda durchs Wäldchen schwenkte. Eine Weile hörte man nur das Knirschen schwerer Stiefel auf dem Schnee, das Knistern der Regenjacken, Atmen, Husten, Schneuzen. Einer murmelte etwas vor sich hin, das wie »Schwachsinn!« und »Weiber!« klang.

»Rechtzeitig eine hinter die Ohren, das hätte geholfen«, sagte Gottfried neben ihm. Bremer sah ihn von der Seite an. Der alte Herr würde dem kleinen Biest Tammy noch nicht einmal ein Härchen krümmen.

»Und wo ist die Olle von der Tammy?« rief Zafer halblaut.

»Beim Shoppen!« tönte es zurück.

»Stimmt nicht«, flüsterte Gottfried. »Sie war bei Marianne. Und die hat es der Frau von Werner erzählt. Und die...« Hatte bei ihrem Mann auf die Tränendrüse gedrückt. Und der erinnerte die Jungmänner des Dorfes an ihre Beschützerrolle. Und jetzt...

Wahrscheinlich war Tamara längst zu Hause. Und wenn ihr wirklich etwas passiert war? Bremer dachte an den Fall Vanessa. An die Entführung und Ermordung der kleinen Manuela. Fälle, die den Landkreis monatelang beschäftigt hatten, Fälle, die allen Eltern hier ins Gedächtnis gegraben waren.

»Alle kastrieren«, sagte eine Stimme neben ihm. »Die Schweine. Und dann lebenslänglich. Wegschließen, für immer.« Jens sprach mit einer Wut, die Bremer voreilig schien. Man wußte doch noch gar nicht, ob Tamara wirklich etwas passiert war. Und wenn, dann war unklar, was.

»Kleine Kinder umbringen. Erschlagen. Steinigen. Und dafür kassieren die ein paar mickrige Jahre Knast. Und dann werden sie wieder auf die Menschheit losgelassen. Die Schweine.«

Tamara war kein kleines Kind, sie war ein junges Mädchen, fast schon eine junge Frau. Bremer guckte zur Seite.

»Laß man«, flüsterte Gottfried neben ihm. »Der Jens hat so seine Geschichte.«

Die Männer stapften vorwärts. Sie taten es für ihre Frauen. Im tiefen Schnee für sie frieren war das mindeste, was sich gehörte. Bremer sandte einen zarten Gedanken an Anne. Männer, dachte er mit einem Anflug von Rührung. Männer sind so.

Nach Stunden kehrten sie zurück. Bremer war durchnäßt und verfroren und müde und unendlich dankbar für das bißchen Glut im Kamin. Als das Feuer wieder brannte, lehnte er sich in die Sofakissen und starrte in die Flammen.

Natürlich hatten sie Tamara nicht gefunden.

Schneesterben

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