Читать книгу Schneesterben - Anne Chaplet - Страница 14

8

Оглавление

Frankfurt am Main

»Frau Kollegin?« Oberstaatsanwalt Zacharias schaute mit übertrieben hochgezogenen Augenbrauen zu ihr hinüber. »Ich war mir sicher, Sie hätten zum angesprochenen Sachverhalt noch etwas Zielführendes beizusteuern.«

Karen verließ nur ungern ihren Tagtraum, um in die Wirklichkeit und ins Zimmer des Abteilungsleiters zurückzukehren. OStA Zacharias tippte sich mit dem Füllfederhalter gegen die Vorderzähne und schaute beifallheischend in die Runde. Wenzel guckte amüsiert, Kollegin Daun gelangweilt, und H2O, wie alle hier StA Hermano Ortiz-Soto de Ortega nannten, aber nur hinter seinem Rücken, lächelte überheblich. Es war, meinte sie sich zu erinnern, in der Konferenz bis eben noch um die Sauberkeitsstandards der Reinigungsfirma gegangen, die sich nicht, meinten jedenfalls einige der Kollegen, auf dem durchschnittlichen mitteleuropäischen Niveau befänden.

Und das sagen ausgerechnet diejenigen, die zu Hause nicht wissen, wie der Staubsauger aussieht, dachte sie. »Mir ist nur wichtig, daß mein Schreibtisch nicht durcheinandergebracht wird.«

Alle lachten.

»Das würde niemand wagen!« Wenzel grinste.

»Wir sind schon etwas weiter, ähm, werte Kollegin. Es geht um den Dienstplan, nun, da Kollegin Buddensiek sich verabschiedet hat in den, nun ja...«

»Mutterschaftsurlaub«, sagte Eva Daun mit zusammengebissenen Zähnen. Es war das Wort für Mehrarbeit – für die anderen.

Karen Stark nahm die neue Arbeitsteilung zur Kenntnis und ließ sich dann wieder von der Wolke tragen, auf der sie seit ein paar Monaten saß. Seit Weihnachten, genauer gesagt. Ich bin verliebt, dachte sie, noch immer erstaunt darüber wie am ersten Tag. Das erste Mal seit... ach was, seit viel zu vielen Jahren, ganz einfach.

»Und wenn sich die geschätzte Kollegin Stark wieder uns und der Welt zuwendet, dann wären wir für heute durch.« Karen fühlte, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. Jemand lachte. Sie mußte rot geworden sein. Hoffentlich sah ihr niemand an, an was sie soeben gedacht hatte.

Sie hastete zurück ins Büro. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Akten und Laufmappen, mittendrin thronte ein Bund gelber Mimosen. Das mußte ja wirklich jedem auffallen. Sie hielt die Nase in die flauschigen duftenden Blütenbälle. Und dann die SMS, die während der Sitzung mit dem üblichen lauten Posthornklang auf ihrem Handy gelandet war.

Der Justizwachtmeister hatte den Aktenstapel, den ihr die Buddensiek eingebrockt hatte, obendrauf auf das Chaos gelegt. Als sie nach der Computertastatur griff, kam der Papierberg ins Rutschen. Sie legte den Unterarm auf den Stapel und warf dabei den Becher mit dem Kaffee von gestern um. Um die Tastatur vor irreparablen Schäden zu retten, mußte sie den Arm heben, dabei entglitt ihr der Aktenberg, rutschte über die Schreibtischkante hinweg und verteilte sich auf dem Boden. Karen ließ sich in den Schreibtischsessel fallen, atmete tief durch und lachte dann los.

»Daß man sich so freuen kann über ein zusätzliches Paket von allgemeinen Strafsachen unter Ha-Hn (ohne Hi), obwohl man doch eigentlich schon genug mit R (ohne Ra), Sa-Sal zu tun hat!« sagte eine spöttische Stimme von der offenen Tür her. »Und dann diese innovative Ablagemethode!«

»Spar dir deinen Spott, Manfred Wenzel«, sagte Karen und prustete wieder los.

»Vor allem, wo man doch weiß, daß der hormonbedingte Ausfall der Kollegin Buddensiek mit dem Mutterschaftsurlaub kein Ende finden wird. Daß sie ihn verlängern wird und verlängern wird, ohne deshalb auf die Privilegien ihrer Planstelle zu verzichten, Gott bewahre. Und daß also ihre Stelle vakant bleiben wird, zumal wir aller Welt beweisen werden, daß wir die Mehrarbeit wie durch ein Wunder auch ganz alleine bewältigen können.«

Karen sah den Kollegen im Türrahmen lehnen, das rechte Bein elegant angewinkelt und im Gesicht den Ausdruck gefaßter Schicksalsergebenheit. Sie lachte ihn an. »Also komm und hilf.«

Sie hockten sich nebeneinander. Nach zehn Minuten saß Wenzel auf dem Teppichboden, an den Schreibtisch gelehnt, die Beine ausgestreckt, und durchblätterte gebannt den neuen »Manufactum«-Katalog, während Karen in der »Brigitte« nach dem Jahreshoroskop suchte.

»Tendenz: Abwärts. Sie sind nicht bei der Sache. Venus verwirrt Ihren sonst so klaren Verstand. Die Kollegen werden unruhig. Bringen Sie Ordnung in Ihre Angelegenheiten! Und vergessen Sie nicht: Glück in der Liebe ist nicht alles.«

Sie lachten noch immer, als H2O den Kopf zur Tür hereinstreckte, auf sie herabsah, ihn mißbilligend schüttelte und die Tür geräuschvoll zuschlug.

»So ist das also«, sagte Wenzel. »Das erklärt natürlich einiges.«

Er hatte einen weiteren opulent aufgemachten Katalog in der Hand und sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Das Messer der drei Tugenden«, deklamierte er. Karen versuchte, ihm den Katalog eines exklusiven Küchenversands wegzunehmen, aber er las weiter. »Die Wabocho mit ihrer nicht rostfreien Klinge, einem Griff aus dem Holz der Graumagnolie und der Zwinge aus Wasserbüffelhorn, Härte bis zu 66 auf der Rockwell-Skala, sind noch immer der Inbegriff japanischer Messer.«

»Gib her, verdammt!«

»Das lanzettförmige, einseitig geschliffene Yanagiba – auch für Linkshänder – außergewöhnliche Schnitthaltigkeit – Kostenpunkt ...«

»Wenzel! Was geht dich mein Privatleben an?«

Er reichte ihr den Katalog mit einer kleinen Verbeugung. »Ich dachte, du studierst die neuesten Entwicklungen auf dem Sektor der Mordwaffen!«

»Quatsch. Ich koche gern.«

Wenzels Augenbrauen gingen wieder hoch. »Seit wann das? Ich dachte immer, du ißt gern!«

Diesmal schlug sie nach ihm mit dem Katalog. »Deine neue Unernsthaftigkeit macht mir Sorgen, Kollege Wenzel. Hast du dich verliebt?«

Sie sah verblüfft, daß er errötete. Und dann errötete auch sie. Schon wieder.

»Und gut kochen kann er also auch?« fragte Wenzel sanft. Er legte behutsam den Katalog beiseite und richtete sich auf. »Vielleicht würde es den Negativtrend im Beruflichen umkehren, wenn wir den Krempel hier endlich aufgeräumt hätten.«

Schließlich lagen fünf Stapel auf dem Boden: fachfremde Kataloge und Zeitschriften, Fachliteratur (darunter das gerichtsmedizinische Standardwerk eines gewissen Dr. Gunter Carstens), Laufmappen und Aktendeckel. Und ein weiterer Stapel, den Wenzel »undefinierbar« nannte, darin unter anderem zwei Urlaubsfotos mit Marion, ein besticktes Taschentuch, ein Schweißband und eine benutzte Kinokarte, die sie ihm im letzten Moment aus der Hand nehmen konnte, als er sie schon in den Papierkorb befördern wollte.

Erst zum Schluß bemerkte sie den Aktendeckel, der unter ihren Schreibtisch gerutscht war und sich hinter der Aktentasche versteckt hatte. Wenzel angelte ihn hervor. Ein Blick sagte ihr, daß es einer der Fälle war, die sie der lieben Kollegin Buddensiek zu verdanken hatte.

Manfred Wenzel stutzte und blätterte durch die Akte. Karen nahm sie ihm aus der Hand. Ein Leichnam war gefunden worden, in einem Wäldchen nördlich von Frankfurt. Der Leichnam war männlich, zwischen dreißig und vierzig, Verwesungszustand minimal, Fraßschäden an Körper und Kopf. Todeszeitpunkt: irgendwann vor dem Großen Schnee. Oder mittendrin. Der Schnee hatte die Leiche bedeckt, das Tauwetter hatte sie aufgedeckt. Nicht vermißt gemeldet.

Wer nicht vermißt wird, gehört selten zu den Teilen der Gesellschaft, auf die die Mehrheit wert legt. Sie tippte auf Erfrieren im Gefolge von Trunkenheit. Sie legte die Akte auf den Stapel rechts vorn. Vor dem Obduktionsbericht würde sie in dieser Sache nichts unternehmen müssen.

»Meinst du, du kämst mit dem Rest des Lebens allein klar?« fragte Wenzel.

Sie strahlte ihn an. »Danke«, sagte sie.

Schneesterben

Подняться наверх