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Klein-Roda, im Herbst

Diese Blicke. Paul Bremer kam sich vor wie ein Kind mit Eimerchen und Schäufelchen, das sich beim Betreten eines fremden Spielplatzes unter den mißtrauischen Augen der anderen Kinder duckt. Gunda und Wally standen bei der Wassertonne, die grünen Gießkannen in der Hand, und reckten die Hälse. Ihre Gesichter ließen erkennen, daß sie nichts davon hielten, wenn ein junger Kerl wie er in den geheiligten Bezirk eindrang. Der Friedhof gehörte den Witwen. Auch in Klein-Roda sterben die Männer vor den Frauen.

Ein kühler Lufthauch wehte den Duft welkender Blumen zu ihm herüber. Nach einer Weile nickten die beiden alten Tanten und setzten ihr Gespräch fort. Nach frommem Gedenken an die lieben Dahingegangenen sah das nicht aus. Bremer schlug den kiesbestreuten Weg nach links ein, den Eimer mit dem Rosenstock in der einen Hand, in der anderen den Spaten. Auf dem Friedhof tratschte man über die Lebenden, über nichtsnutzige Enkel und eitle Enkelinnen, über verschwenderische Schwestern und undankbare Neffen. Er hatte weder den einen noch die andere und schon deshalb hier nichts zu suchen.

Von der Friedhofskapelle löste sich herbstrot leuchtendes Weinlaub. Das Grab lag zwischen der Ruhestätte des vorvorigen Ortsvorstehers – künstlerisch wertvoller Gedenkstein, der Bremer an eine Art geborstenen Bypass erinnerte – und der barock bröckelnden Familiengruft derer von Solms. Bis vor zwei Jahren war es das Grab einer Frau gewesen, über deren Unglück die Älteren im Dorf noch immer bewegt erzählen konnten. Sie hatte sich einst im Löschteich ertränkt, nachdem ihr kleiner Sohn tödlich verunglückt war. Ihr Grab verkam im Laufe der Zeit und wurde zum öffentlichen Ärgernis, vor allem bei den Familien, die ihre Gräber links und rechts vorbildlich in Schuß hielten. Dann wurde es geräumt. Und nun ruhte da wieder jemand, dessen Unglück überlieferungswürdig war.

Paul schob mit der Schuhspitze ein vertrocknetes Gebinde beiseite, das der Wind von einem nicht mehr ganz frischen Grab herübergeweht hatte. Er fühlte sich auch ohne die Blicke von Wally und Gunda fehl am Platz.

»Man möchte meinen, du hättest was geerbt, so wie du dich aufführst«, hatte Marianne gestern gespottet, als er ihr die Rose zeigte, die er fürs Grab gekauft hatte.

»Einer muß sich ja kümmern.« Als ob er sich entschuldigen müßte.

Marianne schwieg ausnahmsweise. Aber er konnte sich denken, was sie dachte. Daß so jemand früher außerhalb der Mauern des Friedhofs verscharrt worden wäre. Und schon gar nicht eine Rose – ausgerechnet eine Rose! – aufs Grab verdient hatte.

Er lockerte den Boden mit der Hacke, entfernte die angegilbte Thuja und die Reste zweier Begonien. Dann setzte er den Spaten an, vorsichtig, so als ob er zu tief geraten und das da unten stören könnte. Das, was in der schlichten Kiste lag, die man an einem bleischweren Spätsommertag in die Tiefe hinabgelassen hatte – in das Loch inmitten der Matten aus künstlichem Gras, die den Anblick mildern und dafür sorgen sollten, daß niemand im Schlamm steht, falls es regnet. Der Pfarrer war da. Die alte Hilde, die kam zu jeder Beerdigung.

Und er.

Zwei Zeilen oberhalb des Grabes fuhr eine Maschine an. Willi hob das Loch für den alten Johann aus, der war vorgestern hinübergegangen, ganz wie es sich gehörte. Er war im Schlaf gestorben, lebenssatt, mit 92 Jahren. So, wie wir alle sterben wollen, wenn es denn sein muß, dachte Bremer und setzte den Spaten ein weiteres Mal an. Dann nahm er den Rosenstock aus dem Eimer und stellte ihn in die Grube, krümelte Erde zwischen die feinen Wurzeln und goß an, bis alles vom Schlamm umhüllt war. Er wartete eine Weile, bevor er das Loch mit der restlichen Erde auffüllte.

Hätte man die Katastrophe verhindern können? Wäre das alles nicht geschehen, wenn ... Es waren müßige Fragen. Unwillkürlich verkrampften sich Bremers Hände um den Spatenstiel. Nichts hätte man verhindern können.

»Eine Rose«, sagte eine Stimme neben ihm. Willi hatte eine unangezündete Kippe im Mundwinkel, kratzte sich die dunklen Locken unter dem lappigen Anglerhut und schüttelte den Kopf. »Also wenn du mich fragst...«

Bremer lockerte den Griff um den Spatenstiel. »Blüht wie von selbst, macht keine Arbeit, sieht immer nach was aus«, sagte er schließlich.

»Verstehe«, sagte Willi, ein Mann mit Sinn für Ökonomie. Und, nach einer Weile: »Denk’ nicht mehr dran. Was hättest du schon tun sollen. Bei so was kann man gar nichts machen.«

Bremer faßte den Spaten wieder fester. Dann nickte er.

Das Drama hatte im Winter seinen Anfang genommen, vor acht Monaten, um genau zu sein. Und ebenso genau erinnerte sich Paul Bremer an den Tag, an dem alles begann. An einen Traum und ein Geräusch. Und an ein Gefühl.

Schneesterben

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