Читать книгу Schneesterben - Anne Chaplet - Страница 12
6
ОглавлениеKlein-Roda
Der Besuch von Atilla Gümüs war das Ereignis des Tages. Die meisten kannten Atilla von klein auf – »als du gerade mal eben sooo hoch warst«, pflegte Gottfried zu sagen, wenn er den großgewachsenen Mann sah, und hielt dabei die Hand in Kniehöhe. Aber wenn er in amtlicher Funktion kam, wie Marianne es vornehm ausdrückte, war das etwas ganz anderes. Mit Gümüs’ Besuch wurde es offiziell: Krista Regler lag im Krankenhaus, und Thomas Regler war nicht aufzufinden.
»Vielleicht hat er sich etwas angetan?« Marie hatte den Straßenbesen an die Mauer gelehnt und sich auf die Bank unter der Linde gesetzt.
»Ach komm, Mariechen.« Gottfried tätschelte die Schulter seiner Frau mit liebevoller Belustigung.
»Der?« Christine legte tiefe Verachtung in die Stimme und zog das widerstrebende Töchterlein fest an sich heran.
»War die Post schon da?« Katja kam aus dem Nachbarhaus geschossen.
»Hast’ wieder was bestellt?« Gottfried lächelte scheinheilig. »Und was sagt die Haushaltskasse dazu?«
Katja stieg die Röte ins Gesicht. »Also Oppa«, sagte Marie und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.
In diesem Moment bog das gelbe Auto von Jens um die Ecke.
»Habt ihr schon gehört?« rief er durchs geöffnete Wagenfenster.
»Klar. Thomas Regler ist verschwunden. Gemüs’ war gestern da.«
»Stimmt. Aber das ist noch nicht alles.« Jens sortierte die Post und reichte Gottfried einen großen Umschlag und eine Postkarte durchs Fenster. Dann stieg er aus und öffnete die Ladeklappe.
»Mach’s nicht so spannend«, sagte Marianne, die mit einem leeren Eierkarton in der Hand hinzugekommen war.
»Man hat eine Leiche gefunden.«
Regler, dachte Bremer, und plötzlich tat ihm der Mann entsetzlich leid.
Katja nahm das große Paket in Empfang, das Jens aus dem Auto hob, und lief mit niedergeschlagenen Augen zurück ins Haus. »Hab’ ich’s nicht gesagt?« Gottfried lächelte anzüglich. Marie guckte strafend.
»Wo?« fragte Marianne.
»In einer Feriensiedlung bei Usingen. Der Mann muß schon eine ganze Weile da gelegen haben, unter dem Schnee.« Jens gab sich keine Mühe, zu verbergen, wie aufregend er die Vorstellung fand.
»Du meinst – tiefgefroren?« Auch Marianne schien die Idee anzuregen.
»Weiß man, wer es war?« Nicht Regler, wenn die Leiche schon länger dort lag, dachte Bremer. Andererseits – man hatte Regler seit gut einer Woche nicht mehr gesehen. Und Jens übertrieb gern.
Der Postbote zuckte die Schultern. »Die werden das schon noch rausfinden.« Er knallte die Heckklappe zu und stieg ein.
»Und was ist mit mir? Keine Karte, kein Brief, kein nichts?« Bremer war enttäuscht. Er wartete auf Post von seiner Lektorin, der er das letzte Kapitel geschickt hatte. Und eigentlich war längst wieder eine Karte von Anne fällig. Sie war, wenn er sich richtig erinnerte, zur Zeit in Rom. Bei einer Konferenz über... Na, was auch immer.
»Niente. Nada. Nix. Und tschüß.« Jens startete und fuhr los.
»Ich sag’ ja, er hat sich was angetan.« Wenigstens Marie schien die Vorstellung, daß es Thomas Regler sein könnte, der da einsam unterm Schnee gelegen hatte, zu erschüttern. Christine hatte ihr plärrendes Kind an die Hand genommen und außer Hörweite gebracht. Das Mädchen zeigte sich auf beunruhigende Weise interessiert am Thema »Tiefgefrorene Leiche«.
»Wir wissen doch gar nicht, ob er es wirklich ist!« Aber Gottfried sah nicht aus, als ob er das bezweifelte.
»Und seine Frau liegt im Krankenhaus und erinnert sich an nichts!« Marie schüttelte den Kopf.
Das, fand Bremer, klang im Lichte der Neuigkeiten noch eigenartiger. Warum lag Krista Regler im Krankenhaus? Hatte Regler ihr etwas angetan und dann sich selbst? Der Mann hatte so merkwürdig geklungen, als er ihn nach Krista fragte, damals, in der Nacht, in der er vor Bremers Haustür gestanden hatte. Und die Hand – sieht so eine Hand aus, die man sich beim Holzhacken verletzt?
Er verscheuchte die Gedanken. Ein Toter war gefunden worden und mehr wußte man nicht.
Bremer ging ins Haus und setzte Teewasser auf, irritiert von einem Anflug schlechten Gewissens. Er sollte Krista besuchen. Eine Zeitlang hatten sie sich oft gesehen, im Sommer, als sie ihr Haus ausbaute. Ihre Kunstfertigkeit beim Umgang mit Holz und Farbe hatte ihm gefallen. Es schien kaum etwas zu geben, was sie nicht konnte und was sie nicht wußte. Manchmal fragte er sich, warum es ihr zu genügen schien, sich als Frau eines Kinderarztes hier und da nützlich zu machen. Warum sie keine Kinder hatte, keinen Beruf ausübte, warum sie nicht wenigstens malte. Oder schrieb.
An einem warmen Sommerabend, an dem die Dämmerung sich in Königspurpur über der Flußaue wölbte, hatten sie hinter Kristas Haus auf der Bank gesessen, den Bachstelzen zugesehen, die über die Wiese ruckten, und erzählt. Über Kindheit, Jugend, Erwachsenwerden. Fast so wie ein Liebespaar in den ersten Wochen des Kennenlernens. Und für einen Moment hatte er gedacht... Aber nein. Sie war verheiratet, mit einem, soweit er das beurteilen konnte, netten, zurückhaltenden, gutverdienenden Mann. Der sich selten in dem verwunschenen Fachwerkhaus in Klein-Roda blicken ließ und nicht viel Worte machte, wenn er es einmal tat.
Irgendwann hatte sie ihm von ihrer ersten Liebe erzählt, er erinnerte sich daran, es hatte ihn berührt. Jung war sie damals gewesen, noch auf der Schule, ebenso wie ihr Freund. Und der schrieb ihr täglich, Briefe mit Gedichten, Geschichten, Liebesschwüren.
»Ich habe den Briefen entgegengefiebert. Ich habe mich in seine Worte verliebt.« Sie hatte ihn nicht angesehen dabei, und ihre Stimme war leise geworden. »Ich habe mich immer in Worte verliebt. Ich habe mein Leben lang geglaubt, daß der richtige Mann kommen wird und ich ihn daran erkenne, daß er die richtigen Worte spricht. Und ich habe nicht glauben wollen, daß man auch mit schönen Worten, auch mit guten, wahren, wahrhaftigen Worten lügen kann.«
Womit sonst, hätte er sie gefragt, wenn sie ihn nicht so gerührt hätte. Und wie paßte Thomas ins Bild?
Sie hatte den Kopf gehoben und ihn verlegen angelächelt, als ob sie wüßte, was er sie nicht gefragt hatte. »Hat Thomas die richtigen Worte gewußt? Nein. Als ich ihn kennenlernte, war ich im vorübergehenden Zustand der Vernunft.«
Dann war sie aufgestanden, ins Haus gegangen und mit einer Flasche Wein zurückgekehrt.
Bremer nahm den Tee mit zum Schreibtisch und versuchte vergebens, sich auf das nächste Kapitel zu konzentrieren. Schließlich gab er nach und griff zum Telefon.
Kaum taucht irgendwo eine Leiche auf, fällt dir Karen ein, dachte er, während er dem Freizeichen zuhörte. Andererseits: War das nicht ihr Job? Und sollten Staatsanwälte nicht auch mal im Büro sitzen, in der Nähe ihres Telefons? Schließlich legte er auf, mit einem Gefühl der Frustration. Irgendwie hatte ihr Verhältnis in den letzten Monaten gelitten. Worunter? Keine Ahnung. Sie war noch immer seine beste Freundin. Kunststück, sagte eine boshafte Stimme. Sie ist schließlich die einzige.
Vielleicht lag es daran, daß sie sich verliebt hatte. Frauen konnten bekanntlich nicht zwei Dinge auf einmal – Freundschaft halten und verliebt sein. Wer war noch der Glückliche? Sie hatte ihm die Geschichte erzählt, kurz nach Weihnachten, atemlos. So, als ob sie die Neuerfindung des Rads zu verkünden hätte.
Ein Gerichtsmediziner, richtig. Wie hilfreich.
Du bist eifersüchtig, sagte er sich.
Ach was. Sie hatten sich auseinandergelebt, ganz einfach. Er auf dem Land, beschäftigt mit der einsamsten Beschäftigung überhaupt, mit dem Bücherschreiben, und dabei allmählich verbauernd. Und sie in der Stadt, Sportwagenfahrerin, treue Besucherin im Fitneßstudio und gerade mal fähig zur Bedienung einer vollautomatischen Espressomaschine.
Bremer streichelte gedankenverloren Nemax, der auf den Schreibtisch gesprungen war und es sich auf dem Notizblock bequem gemacht hatte. Es war mal anders gewesen – aber heute waren Karen und er so unterschiedlich, wie man eben ist, wenn man gegensätzlich lebt.
Freundschaft vergeht. Es gibt Schlimmeres, dachte er und fühlte sich miserabel.
Als ob er ihn für seine treulosen Gedanken bestrafen wollte, fuhr ihm der Kater mit den ausgestreckten Krallen über den Handrücken. Nemax hatte die Ohren nach hinten geklappt und sah ihn von unten aus gelben Augen an.
»Erwischt«, murmelte Bremer und lutschte an seiner Hand. »Ich werde nie wieder Nachteiliges über deine alte Freundin denken, du Gedankenpolizist.« Die Wahrheit war: Er vermißte Karen. Und er glaubte nicht an ihr Glück an der Seite eines – wie hieß er noch?
Nemax klappte die Ohren wieder nach vorn, setzte die Wir-gehen-jetzt-aus-Miene auf und sprang vom Schreibtisch. Ohne sich umzublicken, marschierte er zur Tür. Er wußte, daß sein Mensch ihm folgen würde.