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»Michael Hansen – tot?« Die Schlagzeile der »Bild«-Zeitung forderte Aufmerksamkeit. Bevor Bremer nach dem Blatt greifen konnte, kam ihm eine Hand zuvor. Erika, des Apothekers eckiges Eheweib, lächelte anzüglich, während sie »Entschuldigung« murmelte. Du bist dir doch sowieso zu fein zum »Bild«-Lesen, wollte sie damit wohl sagen. Es war das letzte Exemplar im Regal gewesen. Bremer nahm sich die »Süddeutsche«, die daneben lag. Auch die letzte. Die wenigen Zeitungsleser im Landstrich waren früher wach gewesen als er.

Seltsam, wie sehr ihn erschütterte, daß man Hansen für tot hielt. Dabei war damit schon seit Jahren zu rechnen gewesen. Ihm eilte der Ruf voraus, keiner Gefahr aus dem Weg zu gehen, im Gegenteil: er war stets pünktlich zur Stelle, wenn irgendwo die Luft bleihaltig wurde. Bremer überflog den kurzen Bericht auf der ersten Seite. Hansen wurde seit einer knappen Woche vermißt, seit er zur Verleihung eines Preises nicht erschienen war, mit dem sein Einsatz für den Frieden und die Völkerverständigung oder so ähnlich gewürdigt werden sollte. Erst hatte man sich darüber nicht weiter gewundert. Die einen fanden es vorstellbar, daß der Mann mit Absicht nicht erschienen war zur Zeremonie. Lobhudelei und salbungsvolle Reden paßten nicht zu ihm. Die anderen spekulierten, er habe sich Hals über Kopf wieder in ein Krisengebiet begeben.

Michael Hansen. Kriegsberichterstatter. Reporter ohne Grenzen. Furchtloser Kämpfer für die Wahrheit. Ein Gesicht wie Harrison Ford, jüngere Ausgabe, die Haare länger, als Mode war – so kannte man Hansen aus dem Fernsehen und aus der Zeitung. Auf Seite drei der »Süddeutschen«, neben einem Bericht über Hansen, der fast die ganze Seite einnahm, sah man ihn neben einer Rakete stehen, die aussah wie eine Karnevalsattrappe, umringt von Männern mit Bärten und Turban.

Vielleicht hatte er einen Hinweis auf die Mörder dieses pakistanischen Obermuftis erhalten – wie hieß er noch gleich? -, war überstürzt nach Pakistan geflogen und dann... »Das ist nun mal der Job«, hörte Bremer ihn nuscheln.

Er hatte sich damals gewundert, daß ein so bekannter Autor ausgerechnet nach Pfaffenheim kam, um sein neues Buch mit Kriegsreportagen vorzustellen – in einer Buchhandlung, in die gerade mal zwanzig Zuhörer hineinpaßten. Das sah man bei den Damen der »Wendeltreppe« wohl ähnlich, denn die Lesung war ins Kino verlegt worden, wo es nicht schöner, aber etwas geräumiger war. Die Voranmeldungen überstiegen alle Erwartungen, insbesondere die Frauen rissen sich um Karten. Krista Regler, die häufig in der Buchhandlung aushalf, hatte Bremer eine zugesteckt, dafür, daß er ihr beim Umgraben der kleinen Parzelle in der Feldflur geholfen hatte, auf der sie alte Kartoffelsorten anbauen wollte.

Im Kino roch es nach Popcorn und Bier. Die wenigen Männer standen verlegen in der Ecke beim Tisch mit den Weinflaschen. Die Frauen schwatzten aufgeregt durcheinander. Doch als Hansen vorne zum Tisch ging, auf dem, wie es sich gehörte, das Glas Wasser unter der schwarzen Leselampe stand, schienen alle den Atem anzuhalten.

Was war dran an Hansen? Er sah durchschnittlich gut aus. Braungebrannt vom Kriege- und Krisenbeobachten in südlichen Ländern. Breitschultrig, schlank. Gerade Nase, schmale Lippen. Kein Lächeln auf denselben.

Aber dann hatte er gelesen. Eher: erzählt und gelesen. Auf den Gesichtern der Frauen sah man, daß sie bereit gewesen wären, Kriegsreporter wie ihn für die letzten modernen Helden zu halten, zumal Hansen versuchte, diese Legende im Keim zu ersticken.

»Die meisten von uns sind Alkoholiker, asozial und bindungsunfähig.«

Ein Raunen ging durch den Saal.

Hansen hob die Augenbraue und schaute in die Runde. »Sie glauben mir nicht? Sie meinen wohl immer noch, in Kinshasa putzten sich meine Kollegen und ich die Zähne mit Whiskey, weil die Qualität des Wassers nicht gut genug ist? Und sie spülten ja nur, sie schluckten den Alkohol nicht runter?« Hansen brach in ein tiefes und ungemein männliches Lachen aus. »Aber Sie glauben ja sicher auch, daß wir das Haschischpfeifchen mit unseren afghanischen Gesprächspartnern nur deshalb rauchen, weil sie uns sonst ihr Vertrauen nicht schenken.«

Diesmal lachte jemand im Publikum, verschüchtert noch.

»Nein, wir sind keine Helden. Wer sich freiwillig in die Gefahr begibt, die ein Job in den Konfliktzonen der Welt mit sich bringt, hat meistens einen Grund dafür. Da gibt es Leute, die sich vor den Unterhaltszahlungen für ihre Kinder drücken wollen. Oder die ihre Frauen verlassen möchten. Die kein Geld haben, die sich langweilen. Die vor ihrer Vergangenheit fliehen. Seien Sie äußerst mißtrauisch, wenn unsere Edelfedern behaupten, sie wollten den Menschen und der Wahrheit dienen.« Hansen hatte das Gesicht spöttisch verzogen. »Die meisten von uns glauben keine einzige der gerade angesagten Wahrheiten. Sie glauben noch nicht einmal an das, was sie selbst erfunden haben. Es ist ihnen gleichgültig – so egal wie die Frage, ob sie leben oder sterben werden.«

»Aber wer sein Leben riskiert, um...« Man hatte dem Mann in der Jeansjacke angesehen, daß Hansens Zynismus ihn fassungslos machte.

»Sicher gibt es Helden unter uns. Die Hasenfüße. Die sind fast immer die Mutigsten.«

Zwei Frauen in der ersten Reihe guckten zum Mann in der Jeansjacke hinüber und nickten, als ob sie »Siehste!« sagen wollten.

Hansen lächelte beschwichtigend. »Natürlich ist der Job nervtötend – und zwar dann, wenn nichts passiert. Wer tagelang gewartet hat, im verdunkelten Hotelzimmer, wer wochenlang nichts tun konnte, sich nicht bewegen, nichts erleben durfte, der erfindet zur Not die Rührstory, auf die seine Redaktion und die Leute zu Hause gewartet haben.«

»Sie auch?« hatte ein ganz Vorwitziger unter den Männern gefragt.

»Ich schreibe keine Rührstories.«

Jetzt gab es Applaus.

Bremer erwachte aus seinen Erinnerungen an Michael Hansen, als ihm jemand den Einkaufswagen in die Hacken rammte. Man hätte ihm auch freundlicher mitteilen können, daß er im Weg war. Die Frau musterte ihn vorwurfsvoll, während sie den mit Fertig- und Tiefkühlgerichten beladenen Wagen an ihm vorbei Richtung Kasse schob. Was hat sie es denn so eilig? dachte Bremer. An der Supermarktkasse stand eine Schlange, wie fast immer um diese Tageszeit.

Er ging gemächlich hinter ihr her. Nach der Lesung von Michael Hansen war ein auserwählter Kreis noch mit dem Buchautor zur Pizzeria Montagne d’Ucello gegangen. Im Fortgehen hatte er Krista Reglers Gesicht gesehen, sanft gerötet, mit blitzenden Augen, wie sie auf Hansen einredete. Thomas Regler war seines Wissens nicht dabeigewesen.

Wieder blieb Bremer stehen und versperrte einer Mutter mit Kind den Weg. Er hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl.

Was war mit Krista? Gümüs hatte nicht viel erzählt, nur, daß Krista im Krankenhaus liege und Regler aus dem gemeinsamen Haus in Feldern verschwunden sei. Was war geschehen? Daß die Ehe nicht überschäumend glücklich war – nun, das war kaum zu übersehen. Sie war viel zu oft allein in ihr Häuschen gekommen, er habe keine Zeit, sagte sie, fragte man nach ihm, mit mildem Madonnenlächeln, so, als ob sie ihm das zu verzeihen hätte. Und Regler? Bremer sah sein weißes Gesicht unter dem dunklen Haarschopf vor sich, wie er »Krista!« murmelte, entgeistert, ungläubig. Und – zornig.

»Jetzt wird mir aber noch nicht vom Feierabend geträumt!« Die Kassiererin tat empört. Die Umstehenden lachten. Folgsam legte Bremer acht Flaschen Katzenmilch aufs Band, ein ansehnliches Sortiment von Döschen und Tütchen mit Futter für Nemax und zum Schluß, für sich, eine Packung Käse und ein halbes Brot. Und die Zeitung.

Die Gerüchteköche des Dorfes wußten auch nicht mehr. Krista liege im Koma, sagte Gottfried, das jedenfalls hatte die Bekannte des Neffen eines befreundeten Züchters erzählt. Nein, behauptete Marianne, Krista sei bei Sinnen, aber sie erinnere sich an nichts. Sie hatte das von einer Freundin, deren Tochter mit einem der Ärzte dort ausging. Der wußte auch, daß Thomas Regler schon seit einer Woche nicht mehr auf seiner Station im Krankenhaus erschienen war. Und das sei auch besser so, hatte der Arzt gesagt – vor allem für die Patienten.

Bremer schob den Einkaufswagen zum Auto und warf die Einkäufe in eine Klappkiste im Kofferraum. Zwei Autos weiter grüßte der bekannteste Lamawollpulloverträger des Landkreises, der Ex-Städter und deshalb geradezu fundamentalistische Landbewohner Moritz Marx. Er grüßte zurück und fuhr los. Beim Bahnübergang standen die Autos vor geschlossener Schranke. Im Radio meldeten sie neue Regenfälle.

Bremer griff nach der Zeitung, die er auf den Sitz neben sich geworfen hatte. Hansens Kollegen vermuteten, daß er ermordet worden sei, und zwar von Mitgliedern einer islamistischen Terrorgruppe, über die er kurz vor seinem Verschwinden berichtet hatte.

»Das ist nun mal der Job«, hörte Bremer Hansen sagen.

Hinter ihm hupte es ungeduldig. Er warf das Blatt beiseite, startete und fuhr los.

Als er die Haustür öffnete, schlug es zehn Uhr. Und die Post war noch immer nicht da. Er räumte das Katzenfutter ins Kellerregal und versuchte sich mit Abwasch, Schuheputzen und Staubsaugen abzulenken – erst vom Gedanken an Michael Hansen. Und dann von der Warterei auf Jens.

Schon vor einer Woche hatte er das letzte Kapitel nach München geschickt und die Lektorin hatte es endlich gelesen. Schon vorgestern wollte sie das Manuskript in die Post gegeben haben, versehen mit Fragen und Anmerkungen. Er hielt die Staubsaugerdüse in Nemax’ Richtung, der vor Schreck einen Satz machte, der ihn aus dem Stand fast auf den Küchentisch befördert hätte. Wo blieb Jens mit der Post?

Wahrscheinlich hörte er sich den neuesten Klatsch aus dem Nachbardorf an. Vielleicht gab es heute etwas ähnlich Aufregendes wie eine Leiche, vom Tauwetter freigelegt. Wenn man sich vor Augen hält, was so ein Postbote alles mitkriegt, dachte Bremer. Er machte den Staubsauger aus, entfernte den Beutel, durchsuchte ihn nach Katzenspielzeug, fand Nemax’ Lieblingsmaus – die mit der Rassel im Bauch – und öffnete die Tür.

Es war naßkalt draußen, die Meisen schaukelten auf den kahlen Ästen des Apfelbaums, Marianne hatte die Bettvorleger aus dem Schlafzimmerfenster gehängt. Er schlurfte in Hausschuhen zur Mülltonne und versenkte den Staubsaugerbeutel. Kurz vor der Haustür streifte ihn ein Sonnenstrahl, der sich im kahlen Gezweig des Apfelbaums brach. Hinter ihm öffnete sich ein Fenster.

»Hast’ gehört?« Mariannes Stimme klang, als ob es was zu lachen gäbe. Die einzige gute Nachricht wäre, wenn Jens und die Post endlich kämen, dachte Bremer und guckte hoch.

»Hat Gottfried nichts erzählt?«

Bremer schüttelte den Kopf.

»Heute haben sie Schlange gestanden auf der Bank.«

»Gibt’s da was gratis?«

»In einer Bank?« Marianne senkte die Stimme. »Nein – der Geldautomat ist kaputt.«

Aha, dachte Bremer. Soso. Der Geldautomat.

»Und weißt du, warum?« Ihre Augen blitzten.

»Mach’s nicht so spannend!«

»Der Automat ist voll-stän-dig ruiniert. Du wirst es nicht für möglich halten.«

»Hatte jemand seine Karte nicht dabei? Oder wollte Erwin seine Geldprobleme mit der Axt lösen?«

»Ach was!« Marianne machte eine Kunstpause. »Es hat jemand reingepinkelt.«

Das allerdings war ziemlich komisch.

Marianne fand das auch. »Und willst du wissen, wer es war?«

»Na hör mal!«

»Er soll auf dem Videoband klar und deutlich zu erkennen sein. Weil er kein Geld mehr aus dem Geldautomaten bekam, hat er sich die Hose aufgemacht und ...«

»Also wer?«

»Na, der Jens! Was glaubst du, warum die Post noch nicht da ist?«

Bremer stöhnte auf. »Und wann funktioniert die Briefzustellung wieder?«

»Heute früh haben sie ihn geholt. Keine Ahnung, wann sie ihn wieder gehen lassen. Und ob die Post ihn dann noch nimmt?«

»Sei nicht so schadenfroh, Marianne. Der Jens hat’s nicht leicht.«

Bremer hatte gar nicht bemerkt, daß Gottfried vor dem Gartentor stand, Franz an der Seite, dessen Schwanz mit seinem kleinen runden Hinterteil wedelte. Paul ging hinüber, ließ sich beschnuppern und kraulte dem Tier die weichen Ohren.

»Was heißt schon nicht leicht?«

»Du weißt doch. Bei der Familie.«

»Pflegen da alle auf das zu pinkeln, was sie stört?« Bremer glaubte, in aller Unschuld zu fragen. Aber Gottfried ließ sich kein Lächeln entlocken.

»Komm Oppa«, sagte Marie leise, die neben Gottfried aufgetaucht war, und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Jens’ Bruder Martin...« Gottfried stockte.

»Er ist vor seiner Geburt gestorben, und die Familie hat das nie verkraftet«, sagte Marie resolut. »Habt ihr schon gehört, daß Sophie Bachmann wieder durchgedreht ist?«

Sophie Bachmann wohnte ein paar Kilometer östlich, in Rottbergen, war mindestens sechzig und im Herzen immer noch ein Blumenkind, das ans Zeitalter des Wassermanns glaubte.

»Hat sie wieder bei Vollmond Fruchtbarkeitstänze aufgeführt?« Bremer hatte sie einmal auf der Kirmes tanzen sehen.

Marie kicherte. »Nein – sie hat auf dem Marktplatz gestanden und deklamiert. Klassisches Theater. Daher kommt sie ja.«

Wen das Landleben einfängt, den läßt es nicht mehr los, dachte Paul Bremer.

Gottfried war still geworden. »Du kannst wieder Eier haben, wenn du willst«, sagte er schließlich, ohne aufzusehen. »Die Hinkel legen schon ganz ordentlich.«

Wenn Gottfrieds Hühner wieder Eier legten, war das Frühjahr nicht fern. Bremer fühlte eine raumgreifende Sehnsucht in sich hochsteigen, Sehnsucht nach Licht und Wärme. Und nach Anne.

Dann hörte er das Auto. Aber es war nicht das gelbe Auto mit der Post, sondern der grüne Opel mit dem weißen Schriftzug. Atilla Gümüs stieg aus.

»Und?« Gümüs hielt Gottfried die breite Pranke hin. »Was macht dein Federvieh? Wieder eine Medaille gewonnen?«

Gottfrieds Gesicht klarte auf. Atilla war einer der wenigen, die sich auf dieses Thema verstanden. »Den zweiten Preis. Für meine Stallhasen.«

»Für deine Mecklenburger Schecken?«

»Nein. Diesmal sind’s die Deutschen Widder.«

»Was fütterst du?«

Während Gottfried jede einzelne Maßnahme zur Hervorbringung von samtweichen Kaninchenpelzen und glänzendem Gefieder mit der jeweils korrekten Farbtönung und -zeichnung erörterte, begleitet von Gümüs’ sachkundigen Kommentaren »Ah – ja«, »Ja dann« und »Ach so«, hatte der Hund den Gedanken an einen Spaziergang aufgegeben. Franz lag Herrchen zu Füßen, den schönen Kopf auf die braunen Pfoten gelegt, und Bremer schickte sich an, wieder an seinen Schreibtisch zu gehen.

Endlich holte Gümüs ein Foto aus der Brusttasche. »Habt ihr den Mann schon mal gesehen?«

Bremer kriegte einen trockenen Mund, als er das Foto sah. Er nickte.

Schneesterben

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