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ОглавлениеKlein-Roda in der Rhön
Paul sah und fühlte und roch, wie das Unheil sich zusammenbraute. Der Himmel sah geschunden aus, am südwestlichen Horizont bildeten sich schmutzigbraune Wirbel, von dort ertönte ein unentschlossenes Grollen. Er stand vor der Haustür, einen Becher Tee in der Hand, den Geruch von kaltem Holzfeuer in der Nase, und sah der Stille vor dem Sturm zu. Die Meisen, Finken und Spatzen hatten sich verkrochen, nur die Mauersegler fegten noch zwischen den Häusern hindurch. Zwei Katzen schnürten mit eingezogenem Schwanz und gesenktem Haupt ganz dicht an der Hauswand entlang, und selbst Gottfrieds Zwerghühner gaben ausnahmsweise mal Ruhe. Er spürte, wie sein Haar knisterte und sich aufstellte. Dann fuhr der erste Windstoß in die Kronen der Bäume und versuchte, Bremers Hochstammrosen flachzulegen.
Er schloß die Haustür und ging nach oben, in sein Arbeitszimmer, von dem aus man zusehen konnte, wie die schwarze Wetterwand heranraste. Blitze verzweigten sich auf dem dunklen Himmel, das scharfe Licht ließ die Umrisse des Dorfs aschweiß erscheinen – wie eine Stummfilmkulisse. Auf die Blitze folgte in immer kürzeren Abständen das scharfe, trockene Reißen und Peitschenknallen des Donners. Das Gewitter rollte heran, Regenwände rasten auf das Dorf zu, barsten und prasselten auf die dampfende Straße. Nach einer halben Stunde war der Sturm über sein Haus hinweggetobt und drehte nach Nordosten ab. Paul sah den nassen Asphalt glänzen. Hörte das triumphierende Regenlied der Amseln. Und lief nach unten, um in die Gummistiefel und die Windjacke zu steigen und draußen die frische feuchte Luft einzuatmen.
Als er vor die Haustür trat, grollte es nur noch von ferne. Von Südwesten her wurde es heller. Bremer schlurfte über das vom Regen blank geputzte Pflaster zum Gartentor. Aus der Zisterne vor dem Haus murmelte und gurgelte es. Die grüne Gartenpumpe glänzte in der Nässe. Gelbbraun schäumendes Wasser strömte den Rinnstein entlang zum nächsten Gully und stürzte sich hinein. Wie Schiffchen auf dem offenen Meer tanzten kleine, silbrig glänzende Tüten auf den Bächen am Straßenrand: Zigarettenschachtelüberzieher. Was sonst.
Er ging den Friedhofsweg hoch auf Gottfrieds Hof zu, dem immer breiter werdenden hellen Streifen am Horizont entgegen. Rechts lag Erwins Haus, umgeben vom gepflegtesten Rasen weit und breit. Aus dem Fenster im ersten Stock flakkerte das Licht vom Großbildfernseher, auf den Erwin mindestens so stolz war wie auf den Minitraktor, den Marianne irgendwann einmal zur allgemeinen Erheiterung seinen »begehbaren Rasenmäher« genannt hatte. Auf der Straße vor Erwins Rancherzaun, dort, wo ein rachitischer Rosenstrauch vergeblich gegen Blattläuse und Mehltau kämpfte, lag etwas, was dort nicht hingehörte. Ein schmutzig-weißes, nasses Bündel. Als er näherkam, erkannte er Gefieder. Einen roten Schnabel. Blaßgelbe Stelzen mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen. Paul drehte das Tier mit der Stiefelspitze um. Er sah und roch versengte Federn.
Die Amsel sang lauter. Und um die Ecke schoß der Bernhardiner von Bauer Müller, bremste schweifwedelnd vor Paul und legte ihm ein weiteres schmutzig-weißes Bündel vor die Füße. »Brav, Bello, brav«, sagte er und hoffte, das erwartungsvoll zu ihm aufschauende Tier würde nicht etwa auf die Idee kommen, ihm die riesigen nassen Pfoten auf die Schultern zu legen.
Dann rollte er die zweite Gans mit der Schuhspitze neben die erste. Zwei auf einen Streich. Er blickte nach oben zum Himmel, der jetzt von einem müden Hellblau war. »Erlaubst du dir einen Scherz, alter Knabe?« murmelte er.
»Es geschehen Zeichen und Wunder!« Gottfried war aus seinem Hoftor getreten und kam über die Straße. In der linken Hand hielt er, an den Stelzen gefaßt, eine dritte tote Gans.
»Weißwangengänse.« Er legte sie neben die beiden anderen. »Schade um die schönen Tiere.«
»Blitzschlag?«
»Sieht so aus.«
Bello umtänzelte sein Herrchen und wuffte. Bauer Müller war kopfschüttelnd aus dem Haus getreten. Auch Erwin, den das Spektakel da draußen vom Fernseher geholt und der sich neugierig aus dem Fenster gelehnt hatte, kam hinunter. »Bei mir im Hof liegen zwei.« Er zündete sich eine Zigarette an.
»Allmächtiger«, sagte Gottfried. »Was sind das für Zeiten, in denen es Gänse vom Himmel regnet?«
»Und auch noch gebraten, wie es sich doch eigentlich nur für Tauben gehört!« Pauls Bemerkung trug ihm einen tadelnden Blick ein.
Willi und Marianne kamen über die Straße. Sie hatten zwei tote Gänse auf ihrer Terrasse gefunden. Ortsvorsteher Wilhelm kam um die Ecke gebogen und sah, wie üblich, besorgt aus.
»Man müßte sie präparieren«, sagte Gottfried. »So schöne Tiere.«
Die Männer hatten die Hände in den Hosentaschen versenkt und starrten auf den Haufen aus nassen Federn und Gebeinen, der ihnen zu Füßen lag. »Kerle«, murmelte Marianne. Wilhelm hatte das Gesicht in Denkfalten gelegt. Aber selbst ihm fiel offenbar nichts Kluges oder gar Beruhigendes ein. Die Beckers und ihre Kinder flatterten wie aufgeschreckte Hühner herbei. Alle schraken zusammen, als die alte Martha auf ihrem Fahrrad um die Ecke bog, mit wehendem Haar und erhitztem Gesicht. Wie eine Rachegöttin, dachte Paul.
»Die Zeit ist gekommen!« rief sie der Versammlung der Ratlosen zu. »Macht euch bereit!«
»Martha! Fahr vorsichtig!« Wilhelm hätte fast nach ihr gegriffen.
»Der Tag des Herrn ist gekommen!« Sie raste an den Männern vorbei die leicht ansteigende Straße hoch, Richtung Friedhof.
»Martha, um Himmelswillen!« Wilhelm lief ihr nach. Der Schwung, der sie bis fast oben hin getragen hatte, verließ sie, das Fahrrad rollte aus, und die alte Frau stieg ab, legte es neben sich auf die Straße und senkte das Haupt mit der wilden weißen Mähne. Als Wilhelm sie beim Arm nahm, ließ sie sich zur Bank unter der Linde vor Gottfrieds Haus führen. Der Ortsvorsteher zog die Öljacke aus und breitete sie auf die nassen Holzplanken. Als die anderen näher kamen, saß Martha mit gesenktem Kopf auf der Bank und knetete ihre Hände.
Paul sah Gottfried an, der die Handflächen nach oben drehte und die Schultern hochzog. Irre und Heilige sind manchmal so, schien seine Geste zu sagen.
Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, blickte sie ihn plötzlich aus weit aufgerissenen Augen an und sagte mit einem Grollen in der Stimme: »Mach dich bereit!«
»Martha!« Wilhelm legte ihr beschwörend die Hand auf den Arm, die sie ungeduldig abschüttelte. Die alte Frau richtete sich auf, erhob sich von der Bank, glättete ihre Schürze, hob die Arme und breitete sie aus. Sie schien plötzlich viel größer geworden zu sein. Ihr Blick ging ins weite Nirgendwo, und wie mit fremder Stimme begann sie zu predigen. Man konnte das nicht anders nennen, dachte Paul. Sie sprach mit fremden Zungen.
Vom Weltuntergang, der nahe sei. Von der Rache der gequälten Kreatur. Von der Notwendigkeit, Buße zu tun und Einkehr zu halten. Marthas Stimme wurde immer lauter, immer tiefer, ihre Augen blickten immer ferner.
»Und die Menschen werden vergehen vor Furcht und Erwartung dessen, was über den Erdkreis kommen wird, denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden.«
»Das Evangelium des Lukas, Kapitel 21, Vers 26«, sagte Erwin mit klarer Stimme. Paul sah ihn überrascht an.
»Amen«, sagte Gottfried. Und Bello gab ein heiseres Grummeln von sich.
Plötzlich kippte Marthas Stimme, ihr Gesicht, das bis dahin vor nahezu heiliger Strenge geleuchtet hatte, sank in sich zusammen. Ihre Augen waren mit einem Mal leer, sie stand mit erhobenen Armen wie verloren vor den Männern, die verlegen zu Boden guckten. Nur Wilhelm reagierte.
»Komm Martha.« Er nahm sie in den Arm. »Ich bring dich nach Hause.«
Alle, schien es Paul, waren verlegen. Kevin und Carmen hatten sich in die Arme ihrer Eltern geflüchtet, Marianne starrte auf den traurigen Haufen toter Gänse, und Gottfried tätschelte geistesabwesend Franz, den Hund.
»Man muß die Zeichen lesen«, sagte der Bauer Müller. »Bei Rottbergen hat's neulich einen Angler erwischt. Völlig verbrannt isser.«
Ausgleichende Gerechtigkeit, dachte Paul. Wer gegen die Kreaturen des Wassers sündigt, wird mit Feuer bestraft.
»Blitzschlag?« fragte Gottfried.
Bauer Müller schüttelte den Kopf und zündete sich umständlich seine Pfeife an. »Der Idiot hat auf dem Bahnübergang mit seiner schicken neuen Karbonangel die Oberleitung berührt – 1500 Volt! Gegrillt hat's ihn!« Müller stieß Rauchwolken aus. »Und dann hat ihn auch noch der Eilzug nach Bad Moosbach erwischt!«
Marianne schüttelte sich. Plötzlich fiel allen irgend etwas ein, das man als Rache der geknechteten Kreatur deuten konnte:
»In Altenzell hat eine Krähe eine Frau und ihre beiden kleinen Kinder angegriffen!« Lieselotte Becker scharte ihre Brut um sich. Carmen und Kevin hatten vor Aufregung und Andacht den Daumen in den Mund gesteckt. Paul, der die beiden als Tierquäler in Verdacht hatte, traute ihnen auch klammheimliche Freude beim Gedanken an gegrillte Angler zu.
»Erst hat das Vieh auf ihrem Auto herumgehackt, und als sie es verscheuchen wollten, ist es im Sturzflug auf sie losgegangen.«
»Die Vögel«, murmelte Paul.
»Was?« fragte Willi.
»Von Hitchcock«, sagte Paul.
»Ach so«, sagte Willi.
Marianne hatte sich ganz nah neben ihren Mann gestellt. »Die Carola aus Heckbach, die ist ja eigentlich wegen ihrer Hunde umgekommen.« Alle nickten, die Sache war erst vor zwei Wochen passiert. »Wenn die beiden dummen Köter nicht auf die Fahrbahn gerannt wären …« Carola war ihnen hinterhergelaufen, auf die vielbefahrene B 27, war gestolpert, gestürzt und von einem Kleinlastwagen überfahren worden.
»Wenigstens hat es eine der beiden Tölen auch erwischt.« Der Hundebesitzer Müller legte Wert auf ein angemessenes Verhältnis zwischen Herr und Hund.
»Und kennt ihr die Geschichte mit der Eule?« fragte Karlheinz Becker.
»Und was ist mit den Fledermäusen, die Tausende von Rindern umgebracht haben?« Auch Erwin las die Zeitung, vor allem die Seite »Aus aller Welt«. Kevin und Carmen hörten mit großen Augen zu.
Paul sah Willi an, der erschüttert wirkte. Konnte das sein, daß sogar Willi plötzlich die Rache der gequälten Kreatur fürchtete? »Willst du nicht wenigstens dein Schweine-KZ abschaffen?« flüsterte er, »sozusagen als praktische Buße?«
Der Blick, den Willi ihm zuwarf, erschütterte wiederum Bremer. Willi schien diesen Gedanken nicht mehr gänzlich abartig zu finden. Dann gab er sich einen Ruck. »Kein Behördenheini schlachtet mir meine Highlander ab. Jetzt erst recht nicht.«
Alle murmelten zustimmend. Man mußte die gequälte Kreatur schützen. Am besten die, die man persönlich kannte.
Bremer setzte sich hastig auf, als es an der Haustür klopfte. Er war auf dem Sofa vor dem Kaminfeuer eingeschlafen – mit dem halbvollen Rotweinglas in der Hand. Dabei war es erst neun Uhr abends. Er schüttelte benommen den Kopf, stellte das Glas ab und ging zur Haustür. Marianne, sah er im Schein der Gartenlampe, hatte Tränenspuren im Gesicht.
»Ist was mit Willi? Die Highlander?«
Marianne schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Es ist Alfred.«
»Was ist mit Alfred?« Er wunderte sich. Wegen Alfred weinte man nicht.
»Er hat sich aufgehängt.« Marianne schluchzte los. »Wegen Rosi.«
Paul atmete geräuschvoll aus. Alfreds Frau Rosi war vor fast einem halben Jahr gestorben. Herzversagen, lautete die offizielle Version. Im Dorf vermutete man etwas anderes. Man hatte Rosi schreien hören in der Nacht vor ihrem Tod. Gottfried hatte irgend etwas von schlafenden Hunden gemurmelt, die man nicht wecken sollte, als er ihn darauf angesprochen hatte. Niemand mochte Alfred. Aber die Seinen verriet man nicht: Im Falle des Falles hielt das ganze Dorf dicht.
Er folgte Marianne durchs Gartentor auf die Hauptstraße. Rechter Hand, kurz bevor die Hauptstraße auf die Landstraße stieß, stand Alfreds Haus, ein mit grauen Eternitplatten verkleideter Fachwerkhof mit großer Scheune. Vor der Scheune stand das halbe Dorf.
»Der Krankenwagen kommt gleich.« Marianne schniefte noch immer.
»Und wie?« fragte Paul.
»Mit einer Wäscheleine. Am Mittelbalken in der alten Scheune. Man hat einen umgestürzten Stuhl gefunden, dort, wo er hängt.« Marianne schluckte. »Kevin und Carmen haben ihn gefunden.« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Niemand im Dorf traute Kevin und Carmen. »Sie haben wohl nach dem Hund gesucht. Behaupten sie jedenfalls.«
»Und wieso ›wegen Rosi‹?«
»Er war's.« Marianne stellte das Weinen ein und hatte plötzlich vor Wut funkelnde Augen. Alle hatten Rosi gemocht, die liebe, runde, sanfte Rosi, die nie ein böses Wort über ihren Alfred gesagt hatte. Auch nicht, wenn er sie wieder einmal krankenhausreif geschlagen hatte.
»Woher weißt du das?«
»Ein Brief. Auf dem Küchentisch. Gottfried hat ihn gefunden.«
»Und?«
»Natürlich hat er sie wieder geschlagen. Deswegen ist sie umgefallen und hat sich den Kopf am Tisch aufgeschlagen. Nicht, weil sie einen Herzinfarkt hatte.«
»Überrascht dich das etwa?« Paul legte den Arm um Marianne. »Mich nicht!«
»Er hat die Zeichen am Himmel gelesen, steht in dem Brief.« Marianne tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Deshalb wollte er Buße tun. Und es täte ihm leid wegen der Rosi.«
»Ziemlich späte Reue.«
Marianne nahm seinen Arm und drückte ihn. »Ich hatte sie gern.« »Ich auch.«
Der Krankenwagen vom Malteser Hilfswerk bog um die Ecke. Paul kannte einen der beiden Sanitäter, Werner. Der hob grüßend die Hand und lief seinem Kollegen hinterher in die Scheune. Mit der zugedeckten Pritsche kamen die beiden Männer wieder heraus. Als Paul den Kopf wandte, sah er Kevin und Carmen, wie sie mit offenem Mund dem Abtransport ihrer ersten Leiche zusahen. Völlig hingerissen, dachte er. Die kleinen Monster.