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Klein-Roda in der Rhön

Paul Bremer wog das Messer in der rechten Hand. Er zögerte einen Moment. Dann beugte er sich vor und zog die scharfe Schneide durch den schlanken, glänzenden Leib. Die sich windenden zwei Teile kickte er mit der Schuhspitze an den Rand des Gartenwegs. Er bückte sich wieder, stieß die Klinge zum Säubern zweimal in die feuchte Gartenerde und griff zum Paket mit dem Schneckenkorn. Ein Häufchen neben den Salat. Ein Häufchen neben den Rittersporn. »Verendet, ihr gefräßigen Ungeheuer«, murmelte er.

Er kannte vier sichere Arten, die Schnecken in seinem Garten umzubringen. Die Methode, sie einfach in der Mitte durchzuschneiden, war die schnellste und umweltfreundlichste. Nichts für jedes Gemüt. Die zweite Methode war auch nicht netter. Gestern abend war er durch den Garten gegangen, mit der Taschenlampe in der Hand, und hatte auf alle Schnecken, die er erkennen konnte, Salz gestreut. Und eine gehässige Befriedigung gespürt, während er zusah, wie die schlanken Tiere mit den eleganten Fühlern auf dem Kopf sich zusammenkrümmten, Blasen schlugen und langsam zerflossen. Grausam? Und ob. Aber auch Schneckenkorn, die chemische Keule, verhieß den Tieren keinen schnellen Tod. Und erst recht nicht die Bierfalle, das mörderische Maximum in Ökogartenfibeln.

Empfinden Schnecken Schmerz? Bremer war das mittlerweile ziemlich egal – spätestens, seit er eines Abends vor vielen Jahren in einer lauen Frühlingsnacht draußen im Garten gesessen und dabei zugehört hatte, wie ganze Bataillone von Schnecken mit ihren Sägewerkzeugen seinen Salat abraspelten. Am nächsten Morgen waren von zehn Salatpflanzen nur noch Stummel zu sehen gewesen. Ein trostloser Anblick. Seither wurde bei Bremer das Essen nicht mehr geteilt – jedenfalls nicht mit Schnecken, Blattläusen und Wühlmäusen.

Er ging zum Schuppen und stellte das Schneckenkorn wieder zurück ins Regal, in dem er ein Giftsortiment für alle erdenklichen Fälle aufbewahrte. Wo war der Wühlmausköder? Hinter dem Spritzmittel gegen Rosenrost und Mehltau, wo er nicht hingehörte. Unter den Glockenblumenbüscheln am Fliederbaum hatte er ein großes rundes Loch gesehen, wahrscheinlich der Eingang zu einem Wühlmaustunnel. Pfeifend zog er sich die Gartenhandschuhe an, nahm das Paket aus dem Regal und ging wieder in den Garten.

Es war nach einem kurzen Gewitterregen schwülwarm geworden, und man konnte den Salat, das Gras und den Rittersporn wachsen hören. Pfeifend schob er einen vergifteten Johannisbrotköder in die Tunnelöffnung und verschloß sie mit einem Stein. Wühlmäuse liebten angeblich Johannisbrot. Seltsame Vorliebe. Das Gift im Köder bewirkte innere Blutungen, an denen sie verendeten. Langsam, natürlich. Bremer schüttelte sich – aber er bereute nichts. Nur im Garten konnten sonst friedfertige Menschen hemmungslos ihre niederen Triebe ausleben. Morden, schneiden, sengen, vergiften, ertränken. Und das alles der paar Salatköpfe und Kohlrabi wegen.

Er war nicht der einzige, der, von Mordlust gepackt, Vernichtungsfeldzüge veranstaltete. Alle Bewohner von Klein-Roda zogen regelmäßig in die Schlacht, vor allem um diese Jahreszeit, wenn kleine, schwache Kulturpflanzen umzingelt waren von Freßfeinden oder »Dreck«, wie man hierzulande Unkraut nannte. Sein Nachbar Gottfried hatte sich einen Riesenkanister auf den Rücken geschnallt, in Schutzkleidung geworfen und lief mit konzentriertem Blick den Friedhofsweg hinunter, eine lange Spritzdüse in den behandschuhten Händen. Bremer konnte die Lust im Gesicht eines Mannes sehen, der sonst mit friedfertigen Dingen wie dem Züchten preisgekrönter Zwergwyandottenhühner beschäftigt war – die rachsüchtige Lust an der Vernichtung.

»Round up!« rief er zu seinem Nachbarn hinüber, dessen Dreiseitenhof mit der großen Linde vor dem Hoftor oben am Friedhofsweg stand. Paul wohnte unten, in einem unter die Traufe des Nachbargehöfts geduckten Haus, direkt dort, wo der Friedhofsweg auf die Hauptstraße traf. Gottfried hob mit siegesgewisser Geste den Daumen der linken Hand, drehte sich um und ging auf der anderen Seite der Straße den Weg wieder hoch. Seine Spritzdüse erfaßte jedes Kräutlein im Rinnstein und in den Ritzen der Gartenmauer. Round up klang gemütlich – nach Cowboyleben und Zigarettenwerbung. Aber so nannte sich das landesübliche Unkrautvernichtungsmittel, das man beim Raiffeisenmarkt hektoliterweise kaufen konnte. Völlig harmlos, außer für Unkraut, behaupteten hier alle. Bis auf Gottfried – »wer's glaubt, wird selig«, pflegte der zu sagen, wenn sich jemand über seinen Schutzanzug lustig machte.

Bremer legte die Handschuhe auf den Gartentisch, griff sich die Rosenschere, ging durchs Gartentor auf die Straße und auf dem schmalen Bürgersteig rechtsum, immer am Zaun entlang. Der Spalierapfelbaum, der dort stand, hatte nach einer üppigen Blüte viel zu viele Äpfel angesetzt. Prüfend nahm er den Baum in Augenschein und hob die Schere. Mindestens die Hälfte mußte abgeschnippelt werden, damit die anderen besser gedeihen konnten. Als der wuchtige Akkord durch das kleine Dorf dröhnte, wäre ihm die Schere beinahe aus der Hand gefallen. Er guckte zum Nachbarhaus hinüber. »Um Himmels willen, Erwin!« stöhnte er.

»Spiel mir das Lied vom Tod« war wieder angesagt. Erwin, der Mann mit dem Rancherzaun um sein penibel gepflegtes Grundstück, unterlegte seine Vernichtungsfeldzüge stets mit klassischen Hits. Normalerweise erklang der Gefangenenchor aus »Nabucco«, wenn er auf seinem golffähigen Rasen kniete, um in Maulwurfshügel, die das Grün entweihten, komplizierte Todesmaschinen einzubauen. Heute war es ausgerechnet O Fortuna aus den »Carmina Burana« von Carl Orff – die Musik aus der Kaffeewerbung, ja, so kam abendländische Kultur aufs Land –, zu der er Ameisentod ausbrachte und seine mickrige Strauchrose mit Giftschwaden einnebelte. Sors immanis et inanis – ungeheures und ungewisses Schicksal. Wie passend.

Friedliches Landleben. Bremer seufzte auf. Stille Idylle. Sanfte Natur.

In Wirklichkeit war das Landleben, wie jeder wußte, der hier lebte, laut, grausam und gefährlich. Er steckte die Schere in die Hosentasche, lehnte sich an den Pfosten neben dem Gartentor und sah seinen Nachbarn beim Morden zu. An Tagen wie diesem wußte er, daß er nie wieder in die Stadt zurück wollte. Wo sonst durfte man die Sau derart rauslassen?

Wasser zu Wein

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