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Klein-Roda in der Rhön

Bremer liebte sein Dorf und das ganze grelle stinkende laute Landleben. Was konnte ein gerade mal fünfzehn Familien umfassender Weiler bloß für ein Spektakel veranstalten! Aus einem langgestreckten Stall drei Höfe weiter, auf der linken Straßenseite, kam eine Wolke von Ammoniak herübergeweht – und durchdringendes Schreien. Bauer Knöss fütterte seine hysterischen Mastschweine. Ein Haus weiter heulte die Töle der Tröllers. Der Terrier hatte schon die ganze Nacht hindurch geklagt. Hoffentlich war das Vieh bald heiser.

Bremer hatte sich im Laufe der Jahre an alles gewöhnt: an Lärm, Gestank und Tod. In Klein-Roda wurde immer irgend etwas vergiftet oder sonstwie umgebracht. Und es wurde immer irgendwas gebrüllt. Gottfried, dessen Hof etwas oberhalb lag und der deshalb Bremers Haus voll unter Kontrolle hatte, brüllte ihm jeden Tag einen Morgengruß zu. Die Bekkers von nebenan brüllten nach ihren ungezogenen Kindern. Alle brüllten nach Bello, dem Bernhardiner, der gerne auf Trebe ging, um in jedem zugänglichen Garten riesige Krater für seine Geschäfte auszuheben. Und am meisten mußte man brüllen, wenn Erwin auf seinem Bulldog vorbeigedieselt kam, auf dem alten Lanz, einem Trecker, der gebaut worden war, bevor die Welt Lärmschutzverordnungen kannte.

Von rechts, von der Hauptstraße her hörte Bremer jetzt ein vertrautes Hämmern und Wummern, das sich zu einem rhythmischen Crescendo steigerte. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zu, wie sein Nachbar Willi versuchte, den Zigarettenautomaten zur Freigabe eines Päckchens Zigaretten zu überreden. Dramatische Szenen hatten sich hier schon abgespielt, der Automat war getreten, geschüttelt, geschlagen worden. Ein völlig frustrierter Raucher hatte vor zwei Monaten eine Flasche Bier daran zertrümmert. Und ein Ferienbesucher aus dem Ruhrpott hatte ihn mit Handkantenschlägen traktiert.

»Gib's auf, Willi«, rief er ihm zu. Aber Willi hatte seine eigenen Methoden und deshalb heute schon nach etwa drei Minuten Erfolg. Resigniert sah Bremer dem Unausweichlichen entgegen: die Zellophanhülle um das Zigarettenpäckchen herum, die Willi jetzt herunterriß, würde unter Garantie wieder da landen, wo sie immer landete. Oder? Willi schien zu zögern. Aber dann holte seine Hand zu einer eingespielten Bewegung aus. Die Zellophanhülle landete in den Rosen in Bremers Vorgarten. Wie immer. Damit du was zu tun hast, schien Willis Gesichtsausdruck zu sagen, eine Mischung aus Unschuld und Unverfrorenheit. Bremer mußte gegen seinen Willen lachen.

Willi grinste zurück und schlurfte auf ihn zu, in grünen Gummistiefeln über dem ebenfalls olivgrünen Overall. Er hatte sich die erste Zigarette schon zwischen die Lippen gesteckt, das Feuerzeug aus der Tasche geholt.

»Und wie?« sagte er zur Begrüßung.

Bremer wunderte sich zum zigsten Mal, warum sein um ein Jahr jüngerer Nachbar zu jeder Jahreszeit ein farbloses, lappiges Hütchen auf den dunklen Locken trug. Das Kleidungsstück war kreisrund, hatte eine mit sechs Steppnähten in Form gehaltene schmale Krempe und ein mit einem Druckknopf verschlossenes Täschchen, das Willi meist an der rechten Seite trug. Oben war der Hut ein bißchen eingedellert, wie ein ausgebeulter Kochtopf. Das formlose Gebilde, wie es auch Angler und deutsche Touristen in Italien tragen, schien keine sichtbare Funktion zu erfüllen. Außer, vielleicht, etwaige kahle Stellen an Männerhinterköpfen zu verdecken. Unwillkürlich fuhr Bremer sich über den eigenen Kopf, durch die knisternden, kurzgeschnittenen Haare. Sie waren zwar weiß – schon seit er 28 war –, aber flächendeckend.

»Und selbst?« Er schlug mit der Hand nach den Zigarettenrauchschwaden.

»Bess hat geworfen«, sagte sein Nachbar. Plötzlich sah der Mann wie ein junger Vater aus, der vor Stolz fast platzte. »Ganz allein!«

»Herzlichen Glückwunsch!« Bremer wußte manchmal nicht genau, ob er seinen Nachbarn rührend oder ein bißchen spinnert finden sollte. Bess und Blume und Zeus, Zottel, Liesel und Brezel waren die Sterne an Willis Firmament. Bauer Knöss hatte ihm deshalb schon mal hinter seinem Rücken den Vogel gezeigt – Bremer hatte es gesehen – und »Der tickt doch nicht richtig, der Willi« gesagt. Vielleicht stimmte das ja – aber Bremer war als ehemaliger Städter der festen Überzeugung, es könne gar nicht schaden, wenn auch ein knüppelharter Bauersmann mal ein bißchen Gefühl für die Kreatur entwickelte.

»Man kann zugucken, wie es wächst.« Willi richtete den Blick in unbekannte Fernen. Genau das wird er getan haben, dachte Paul und klopfte seinem Nachbarn auf die Schulter. Bauern haben keine Zeit. Und Willi schon mal gar nicht. Nur für seine kleine Herde hatte er alle Zeit der Welt. Gestern früh um sechs war Bremer mit dem Rennrad an der Koppel vorbeigefahren und hatte ihn gesehen, wie er, die Arme aufs Gatter gelegt, seinen Tieren dabei zuschaute, wie sie mit ihren weichen Mäulern die Gräser und Kräuter aus der Wiese rupften.

Willi war in Ordnung. Daß seine Frau dauernd an ihm herumnörgelte, hielt Bremer für ungerecht. »Und dann ist er wieder mit der Bierflasche in der Hand vor der Glotze eingeschlafen«, hatte Marianne vor ein paar Tagen geschimpft, »und jetzt hab ich die ganze Sauerei in den Sofapolstern.« Paul fand seine Nachbarin und ansonsten gute Freundin in diesem Punkt kleinlich. Willi arbeitete wie ein Pferd, hatte Humor und sah auch noch gut aus mit seinem gebräunten Gesicht und den dunklen Locken, mit den sehnigen Armen und der immer noch ansehnlichen Figur – wenn man vor Augen hatte, welche Mengen der Bauer morgens, mittags und abends zu verdrücken pflegte. Und zum Saufen kam er offenbar gar nicht erst – er schlief ja, Marianne zufolge, schon vorher ein.

Nur die Hände, dachte Paul, als er Willi zusah, wie er die Kippe mit Daumen und Zeigefinger an den Mund hob und mit zusammengekniffenen Augen inhalierte – nur die schwieligen, rissigen, fleckigen Hände, die würde Willi nie mehr sauber kriegen. Hände, die Katzen und Hühnern das Genick umdrehen, die Mistforke in Rekordtempo schwingen und Kälbchen aus dem Mutterleib ziehen konnten. Und die verblüffend zärtlich waren, wenn er bei seinen Hochlandrindern stand und ihnen die Stirnlocken zwischen den Hörnern kraulte. Er guckte auf seine eigenen Hände. Die waren ein bißchen verkratzt, von den Rosen, aber sahen im wesentlichen noch so aus wie damals, als er in Frankfurt und nur am Schreibtisch arbeitete. Und das war auch besser so. Gigantische Pranken, die auf keine Tastatur mehr paßten, konnte er sich nicht leisten.

»Und die anderen?« Er drehte sich so, daß der Zigarettenqualm an ihm vorbeizog.

»Blume ist in drei Wochen dran.« Willis Augen glänzten.

Was für eine Wandlung. Willi, der Unsentimentale. Für den das Wort »Öko« ein Schimpfwort gewesen war. Der seinen Mastschweinen in ihrem stinkenden Stall ein kurzes Leben zumutete, wie es fürchterlicher kaum vorstellbar war. Denselben Willi hatten ein paar wuschelige Rinder plötzlich in einen Tierfreund verwandelt. Noch vor eineinhalb Jahren war Willi der Kopf des Widerstands gegen den grünen Ortsbeirat Moritz gewesen, der einsam und mit wachsender Verzweiflung versucht hatte, wenigstens ein Minimum an Umweltbewußtsein im Dorf zu schaffen. Und jetzt das.

Zugegeben: Bremer mochte Moritz nicht. Wer sich jenseits der vierzig noch immer die ergrauten Haare zum Pferdeschwanz band, war in seinen Augen lächerlich. Außerdem hielt er ihn für einen Besserwisser. Und am meisten störte ihn, daß er in Moritz eine Karikatur seiner selbst erkannte – des hundertfünfzigprozentig zum Landleben Bekehrten.

Aber damals hatte der grüne Über-Öko einfach recht gehabt. »Es wird nachts Gülle gefahren«, hatte Moritz in der Ortsbeiratssitzung mit ganz ruhiger Stimme begonnen. Kein Bauer durfte den Inhalt von Vieh- und Hausgruben zu jeder Jahreszeit und in jeder Menge auf die Felder bringen. Aber einige Dickköpfe ließen sich von keinerlei Vorschrift davon abhalten, genau das zu tun. Es ließ auf immerhin eine Spur von Schuldbewußtsein schließen, daß sie es wenigstens nicht mehr am hellichten Tag taten.

Moritz guckte vorsichtshalber niemanden an, als er anfügte: »Und ganz offenkundig wurde Gülle in der Flußaue abgelassen.« Im naturgeschützten Sumpfgebiet am Streitbach. Also dort, wo das Übermaß an Stickstoffverbindungen am verheerendsten wirkte.

»Na und?« hatte Willi geantwortet und gegrinst dabei. »Ist doch alles Öko!«

»Außerdem ist mir aufgefallen, daß sich auf dem Brandplatz am Auwiesenweg auffällig viele Blechdosen in der Asche befinden. Es ist nicht gestattet …«

»Und wo steht das geschrieben?« war Willi, immer noch lächelnd, dazwischengegangen.

»In der Gemeindesitzung vom Donnerstag zur Sondermüllverordnung wurde noch einmal bekräftigt …«

»Wo?« fragte Willi, lächelte noch sanfter und sagte dann ganz leise: »Hier hat nur einer was zu sagen: ich. Wir. Sonst keiner.« Alle hatten zugesehen, wie Moritz' Gesicht sich langsam rötete – es war gar nicht so einfach, einem gestandenen Bauern Aug' in Aug' zu widersprechen. »Und so«, fügte Willi hinzu, »so ist es immer schon gewesen. Verstehste?«

Willis Vorstellung von Recht und Gesetz ließ sich in einem Satz zusammenfassen: Grund und Boden, Flora und Fauna sind dem individuellen bäuerlichen Willen untertan. Um so verblüffender, daß dieser sortenreine Vertreter bäuerlicher Sturheit vor einem Jahr auf den Ökotrip gegangen war. Auf der Landwirtschaftsausstellung in Pfaffenheim hatte er sie kennengelernt, die Wundertiere aus Schottland: kleine, gehörnte Rinder mit dickem, lockigem, schwarzem bis rotgoldenem Fell, wahre Muster an Ausdauer und Robustheit, Meister des Überlebens. Zwei Monate später hatte er seine ersten Hochlandrinder gekauft und auf die Weide gebracht. Highlander, die Rinder der Zukunft.

»Tierarztkosten gleich Null«, hatte Willi damals jedem erzählt. Der Kostenfaktor war so ziemlich das stärkste Argument, was man in der Landwirtschaft auffahren konnte. »Die sind kerngesund und winterhart!«

Das halbe Dorf war nach einer besonders kalten Nacht im letzten Winter auf die Weide gezogen, um nachzuschauen, ob die Tiere auch wirklich sagenhafte 20 Grad Kälte überlebt hatten. Bremer sah das Bild noch vor sich: Die Rinder standen mit Eiszapfen im Zottelfell an der Heuraufe und mampften gelassen, dicht aneinandergedrängt, leise schnaubend und Dampfwölkchen aus den Nüstern pustend.

In Willis Augen gab es nur gute Argumente für die Tiere. Man mußte keinen Tierarzt bezahlen. Sie brauchten keinen Stall. Sie verbesserten sogar die Weidequalität. Vor allem aber wurden, dank dem Rinderwahnsinn-Skandal, vernünftige Preise für das Fleisch der Bio-Kälber gezahlt. Doch all das zählt im Grunde nicht, dachte Bremer: Der Mann liebt seine Tiere auch so. Ganz ohne Kosten-Nutzen-Kalkül. Was an ein Wunder grenzte.

»Hast du's gelesen?« fragte Willi mit plötzlich düsterem Gesicht.

Paul nickte. Es hatte vor einigen Wochen ganz in der Nähe, in Oberhunden, eine Tragödie gegeben. Ein Zuchtbulle war Amok gelaufen: Erst hatte das Tier den 54 Jahre alten Bauern angefallen und getötet. Die Ehefrau, auf der Suche nach ihrem Mann, fand ihn nach Stunden leblos auf der Weide liegen. Als sie ihm helfen wollte, wurde sie ebenfalls von dem Bullen angegriffen. Rinderwahn? Man hatte lange nichts mehr von neuen Fällen gehört. Und der Bulle war kein gewöhnliches Mastrind, kein Exemplar dieser armen Viecher, denen schon immer alles mögliche zugemutet wurde, was ihr Wachstum beschleunigen und ihr Leben verkürzen sollte: Hormone. Kraftfutter. Tiermehl. Beim Todesbullen handelte es sich um ein schottisches Hochlandrind. Das Bio unter den Rindern. Also eigentlich alles unverdächtig.

»Es soll eine Eilverordnung aus dem Landwirtschaftsministerium geben«, sagte er. In Wirklichkeit hatte er es heute früh im Radio konkreter gehört: Vom Totalschlachten aller Highlander in Hessen war die Rede gewesen.

»Mit mir nicht.« Willi hatte ein verdächtiges Glitzern in den Augen. »Zu mir solln die mal kommen. Da läuft nix. Gar nix.«

Paul verlagerte sein Gewicht vom linken aufs rechte Bein. Willis überschwengliche Liebe zu seinen Viechern machte ihn plötzlich verlegen. Im Grunde war er sich gar nicht sicher, ob es nicht besser war, den Rinderwahn bei jedem neuen Anzeichen systematisch auszurotten, so hart das auch im Einzelfall sein mochte. Hatte das nicht in der Vergangenheit schon geholfen? Er kickte mit dem Fuß die Zigarettenkippe in den Gully, die Willi in Grund und Boden getreten hatte. Besser, er hielt den Mund. Gegen Liebe kann man nicht argumentieren. Liebe, das las man heute in jedem Käseblatt in der Sonntagsbeilage, ist überlebensnotwendig – schon als vorbeugende Maßnahme gegen Bluthochdruck und Herzinfarkt. Warum also nicht Rinder lieben?

Marianne riß das Küchenfenster auf, das sich zu Pauls Garten hin öffnete. »Willi!« rief sie mit dieser ganz besonderen Härte in der Stimme, die sie für ihren Gatten reservierte.

»Was is!« brüllte der zurück. Die beiden waren ein eingespieltes Team.

»Essen!« brüllte Marianne.

Willi blickte Paul an, nickte ihm zu und sagte: »Verstehste?« Paul verstand. Nichts und niemand kam zwischen Willi und seine Highlander.

»Alles klar.« Er nickte zurück.

Willi klopfte ihn auf den Oberarm, brüllte: »Ich komm schon!« und schlurfte um die Ecke.

Paul sah ihm hinterher und schüttelte den Kopf. Muß Liebe schön sein. Ersatzweise nahm er den kleinen grauen Kater hoch, der sich schon seit einer Weile um seine Beine kringelte, und drückte ihn, bis das Tier protestierend mit den Pfoten fuchtelte. Dann ging auch er ins Haus.

Wasser zu Wein

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